Streit der Woche zur Corona-EpidemieMacht uns die Krise am Ende solidarisch?

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Klatschen

Gesundheitspersonal klatscht und freut sich am Eingang einer Klinik in Spanien, als zahlreiche Menschen von zu Hause aus klatschen.

  • Klatschen, bestellen, zu Hause bleiben: Stärkt die erzwungene Distanz das Wir-Gefühl?
  • Nadja Lissok ist der Meinung, die Krise schärft unseren Blick für Gemeinsamkeit, die uns sonst entgangen wäre.
  • Alexander Holecek sieht das anders: Klatschen ist gut und schön, sagt er. Aber am Ende werden höhere Löhne doch nicht durchgesetzt werden.

Pro: Wir kümmern uns mehr umeinander Andrà tutto bene.“ Alles wird gut. Italiener, die seit etwa einem Monat in ihren Wohnungen festsitzen, machen sich mit diesem Spruch an ihren Fensterscheiben gegenseitig Mut. Sie sind eben Optimisten – und zeigen, wie schnell sich in der Not eine solidarische Gesellschaft formt.

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Nadja Lissok

Auch in unserem Land wird vielen gerade zum ersten Mal bewusst: Wir brauchen sie, die Gesellschaft der anderen. Wir vermissen die Strukturen und Rituale, die das Kontaktverbot gerade verhindert, den Alltag, den wir sonst gerne beklagen.

Die Fahrt in der verspäteten KVB. Das fade Mittagessen in der Betriebskantine. Den Sportkurs, zu dem wir uns nach der Arbeit noch widerwillig quälen. Wir sind eben nicht die autonomen Individualisten, für die wir uns bislang hielten.

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Wir merken, wo das Miteinander im Kleinen fehlt

Wir merken, welche Arbeitnehmer im Angesicht einer Pandemie unersetzlich sind (und bezahlen diese hoffentlich künftig angemessen), aber auch, wo im Kleinen das Miteinander fehlt. Das verlegene Lächeln bei den täglichen Spaziergängen ist neu. Das unbeholfene Ausweichen auf der Straße.

Zur Person

Nadja Lissok (28), Redakteurin für „wir helfen“, wundert sich über Klopapier-Horter, aber fast noch mehr über den exzessiven Drang, diese für den Untergang der Zivilisation verantwortlich zu machen.

Der Blick für die Existenz des Fremden ist plötzlich geschärft. Allein der Livestream einer Band lässt erkennen: Ein Konzert ist mehr als Musik hören und Bier trinken. Zwar sind die Getränke zu Hause günstiger und die Toilettenschlange kürzer, trotzdem kenne ich niemanden, der das Zuschauen vom Sofa dem Gemeinschaftserlebnis vorzieht. Deshalb spenden wir unser nicht eingelöstes Ticket, in der Hoffnung, bald wieder eng zusammengedrückt, kollektiv mitzusingen.

Wir merken in der Ausnahmesituation, dass ein Einkauf mehr als der Tausch „Geld gegen Ware“ ist. Es werden Gutscheine von aktuell geschlossenen Lieblingsgeschäften gekauft, Bücher umständlich an der Tür des Buchladens abgeholt, sich bei der Kassiererin im Stamm-Supermarkt für ihr tapferes Ausharren bedankt.

Wir kümmern uns mehr umeinander

Die bloße Ware gäbe es auch online. Aber wir versetzen uns in den Händler aus der Nachbarschaft hinein, erkennen seine Not, kümmern uns. Auf der Plattform Veedelsretter haben Menschen bereits in der ersten Woche 85.000 Euro ausgegeben, um Kölner Betrieben aus der finanziellen Misere zu helfen.

Zehntausende Medizin-Studenten haben sich deutschlandweit freiwillig für die Unterstützung von Krankenhäusern gemeldet. Auch alle, die gerade fleißig Stoffmasken nähen, obwohl deren Nutzen umstritten ist, zeigen sich im Kern solidarisch.

Selbst die Balkon-Klatscher. Jeder tut eben, was er kann. Und selbst wer nichts kann, bleibt einfach nur zu Hause – und tut damit Gutes. Allein die schnelle Umstellung unseres mobilen Daseins auf ein Leben im Stillstand ist ein gigantischer solidarischer Akt, den vor wenigen Wochen niemand für möglich gehalten hätte.

Es gibt Ausnahmen, wie es immer Ausnahmen gibt. Sie sind gerade wegen ihrer Seltenheit umso berichtenswerter. „Corona-Partys“ – ein Stichwort geistert umher, weil es so gut ins pessimistische Weltbild passt. Die egoistische, feierwütige Jugend, die wieder einmal rücksichtslos gegen Regeln verstößt.

Wir scheinen verstanden zu haben

Irrtum. Die absolut überwiegende Mehrheit der jungen Menschen bleibt gerade zu Hause, um Alte und Vorerkrankte nicht zu gefährden. Wir scheinen verstanden zu haben: Dieses Problem können wir nur gemeinsam lösen. Ein paar Unverbesserliche gibt es immer. Aber an ihnen sollten wir die solidarische Mehrheit nicht messen.

Contra: Das bisschen Helfen ist nur eine Randerscheinung der Krise

Keine Frage, für Oma und Opa einzukaufen, auf dem Balkon zu klatschen, Läden ums Eck zu unterstützen – solche Sachen sind nett, tun keinem weh, und schmeicheln manchem sicher. Aber erstens sind das Randerscheinungen der Krise und zweitens Ersatzhandlungen für das, was wirklich solidarisch wäre.

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Alexander Holecek

Denn auf Dauer geht es ums Geld. Gesten kosten nichts, ein funktionierendes Gesundheitssystem schon, und zwar ziemlich viel. Aber es braucht schon eine Menge Fantasie, zu glauben, dass die Menschen für die Pflegerin der Großeltern plötzlich viel mehr zu zahlen bereit wären als noch vor ein paar Wochen. Oder dass eine Erhöhung der Gesundheitsabgaben ohne großes Murren hingenommen würde.

Um die Notwendigkeit nämlich zu verstehen, brauchte niemand das Virus, es war immer schon so und wird immer so sein. Was aber stattdessen passierte und weiter passieren wird: dass der Sektor leergespart wird, damit wir mehr Geld haben für Urlaube, Partys und Netflix-Abos.

Wer klatscht, fordert hoffentlich auch höhere Löhne für Krankenpfleger

Jeder weiß das. Und viele ahnen, dass sie damit gut leben konnten und können, solange sie selbst nicht die Drecksarbeit machen müssen. Wer heute auf dem Balkon klatscht, geht hoffentlich irgendwann mit Krankenpflegern auf die Straße und fordert höhere Löhne für sie.

Zur Person

Alexander Holecek (28), Redakteur im Ressort Köln, hat als toleranter Liberaler die Menschheit immer für klug genug gehalten, dass ihr der Staat nicht alles vorschreiben muss. Inzwischen zweifelt er daran.

Doch das wird nicht passieren. Und folglich ändert sich nichts. Also versuchen wir stattdessen unser eigenes schlechtes Gewissen wegzuklatschen, Videos davon auf Instagram zu posten, um die Welt glauben zu lassen, dass wir verstanden haben. Haben wir aber nicht.

Wir sollten Denkmäler bauen für Krankenschwestern, Rettungssanitäter, Polizisten – überall in der Stadt. Wir hätten das längst tun sollen. Damit uns nicht erst in der nächsten Krise auffällt, was diese Menschen immer schon geleistet haben. Und danach geht es allen anderen ans Geld. Das wäre solidarisch.

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Auch das Klopapier-Desaster wird am Ende vergessen sein, sagt aber einiges aus. Über diejenigen, die glauben, Dinge horten zu müssen, die andere dringend brauchen. Aber noch mehr über diejenigen, die das genau so lange für lustig hielten, bis sie selbst welches brauchten, aber keins bekamen – und erst dann das Problem begriffen.

Was im Übrigen auch solidarisch gewesen wäre: wenn sich mal alle schneller am Riemen gerissen hätten. Es bleiben doch jetzt nicht alle zu Hause, weil sie die Krankenhäuser nicht überlasten und die Risikogruppe nicht gefährden wollen. Dann hätten es alle früh genug getan.

Viele gingen erst nicht mehr feiern, als es verboten war

Die Wahrheit ist leider: Viele gingen erst nicht mehr feiern, nachdem das verboten wurde. Mit bloßen Appellen hat es nicht funktioniert. Kneipen, Kinos und Fitnessstudios waren so lange voll, bis sie geschlossen wurden.

Jetzt sind die Baumärkte voll, weil die noch offen sind. Als Ausgangssperren im Raum standen, überlegten viele, wie sie denn an einen Ausnahmeschein kommen könnten. Für sich natürlich. Zu Hause bleiben können die anderen.

Helmut Schmidt hatte Recht

Die Krise wäre nicht so epochal, verhielten sich alle solidarisch. Wenn wir ehrlich sind, wussten wir schon an Karneval, was auf uns zukommt. Stattdessen haben wir über Corona-Kostüme gelacht, weitergefeiert und keine Sekunde an die Intensivstationen gedacht, die genau wegen unseres Verhaltens in ein paar Wochen aus allen Nähten platzen könnten.

Merkwürdig, wie viele Menschen sich jetzt selbst auf die Schulter klopfen, weil sie sich schon immer für vorbildlich hielten. „In der Krise zeigt sich der Charakter“, sagte Helmut Schmidt – und hatte recht.

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