Von der Mager- in die Fresssucht„Ich habe meinen Körper schon als Kind gehasst“

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Vor einem Jahr wog Brigitte Strehl 28 Kilogramm. Heute leidet die 19-Jährige unter unkontrollierten Essanfällen und hat ihr Gewicht mehr als verdoppelt. Die  Geschichte einer Magersüchtigen, die zur „Binge Eaterin“ wurde.

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Es ist 14.30 Uhr, und Brigitte hat noch nichts gegessen. Nichts zum Frühstück, nichts zum Mittagessen. Ihr Kühlschrank ist nahezu leer, vor ihr auf dem Tisch steht ein Glas stilles Wasser, das sie nicht anrühren wird. „Ich muss das Gewicht wieder runterkriegen“, sagt sie. 40 Kilo hat sie seit dem vergangenen Oktober zugenommen. 80 Pfund. 40 000 Gramm. Jedes Gramm eine Qual.

Noch im vergangenen Jahr hat Brigitte Strehl, 19 Jahre alt, 1,63 Meter groß und in der Nähe von Köln zu Hause, 28 Kilo gewogen. Arme dünn wie Stecken. Schlüsselbeine, die durch die Haut stakten. „Die Leute haben sich auf der Straße nach mir umgedreht und mir nachgerufen, dass sie mich eklig fänden.“ Dennoch habe sie sich damals besser gefühlt als heute. „Jetzt bin ich einfach zu viel. Wenn ich in der Bahn sitze, denke ich, dass ich anderen den Platz wegnehme und es nicht verdient habe, überhaupt unterwegs zu sein.“

Die Heißhungerattacken kommen aus dem Nichts

Vor ein paar Wochen hat sich Brigitte beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ gemeldet, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte einer magersüchtigen jungen Frau, die plötzlich nicht mehr aufhören kann zu essen. Auch ein Buch hat sie darüber geschrieben und selbst veröffentlicht. „Um Menschen, denen es genauso geht, zu zeigen, dass sie nicht allein sind.“

Als Binge-Eating-Störung bezeichnen Experten die scheinbar aus dem Nichts kommenden heftigen Heißhungerattacken, die auf eine überwundene Magersucht folgen können. „Fressanfälle“ nennt Brigitte dieses Toben in Kopf und Magen, das sie unkontrolliert halbe Torten, Brötchen und Berge von Süßigkeiten in sich hineinstopfen lässt. Betroffen sind in Deutschland etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung. Brigitte fragt sich, warum ausgerechnet sie dazugehört.

„Eigentlich habe ich meinen Körper schon als Kind gehasst. Bereits mit neun Jahren habe ich davon geträumt, abzunehmen und endlich dünn zu sein“, sagt sie. „Im Kopf war ich immer das dicke, hässliche Mädchen.“

Hungern um zu gefallen

Brigitte wächst in einer Kleinstadt in der Oberpfalz auf. Die Mutter führt ein Schuhgeschäft, der Vater leidet an Parkinson. Er ist Frührentner und hat wenig Verständnis für die Nöte seiner einzigen Tochter. Zu Beginn der Pubertät ist aus Brigittes latenter Unzufriedenheit mit sich selbst eine Depression geworden. „Damals kam vieles zusammen.“ Ein Schulwechsel nach der sechsten Klasse. Freundinnen, die keine waren. Mitschüler, die sie wegen ihrer Schüchternheit und ihrer „uncoolen Klamotten“ mobbten. „Jeder Tag in der Schule war eine einzige Qual. Da fühlte ich mich erst recht dick und hässlich. Schließlich bekam ich ja täglich die Bestätigung dafür.“

Die 13-Jährige informiert sich in Foren für Magersüchtige über Diäten, versucht eine erste Mono-Diät. „Ich dachte, vielleicht mögen mich die Menschen mehr, wenn ich dünner bin.“ Mehrmals täglich steigt sie auf die Waage. Doch welches Gewicht die auch anzeigt: Brigitte fühlt sich „wie ein fetter Wal. Jedes Mal war es zu viel“. Irgendwann wird jede Mahlzeit zu einer Herausforderung. „Ich habe nur noch die extrem kalorienarmen Sachen gegessen und jede Menge Sport gemacht.“ Im Supermarkt studiert sie die Kalorienangaben auf den Joghurtbechern und checkt mit einer Abnehm-App, was sie essen „darf“ und was nicht. Selbst Bananen stehen auf ihrem privaten Index – „zu viel Zucker, zu viele Kohlenhydrate“.

„Bei uns geht man nicht zum Psychiater“

Essen als Problem

Essstörungen beginnen im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter. Man unterscheidet drei Haupt- und mehrere Mischformen: Magersucht (die Betroffenen essen extrem wenig und haben starkes Untergewicht), Bulimie (Essen mit anschließendem Erbrechen) und Binge Eating (Essanfälle ohne Erbrechen). Betroffen sind vor allem Frauen. Etwa eine von 100 erkrankt in Deutschland einmal im Leben an Magersucht.

Hilfe finden Betroffene beispielsweise beim „Arbeitskreis Essstörungen Köln“ der „Lobby für Mädchen“. Kontakt: Fridolinstraße 14, 50823 Köln, Tel. 0221-45 35 56 50.

katja-mueller@lobby-fuer-maedchen.de

Elke Strehl beobachtet das Verhalten der Tochter mit Besorgnis. „Es war schlimm für mich zu sehen, was mit ihr passierte. Aber was hätte ich machen sollen?“ Ein Besuch beim Hausarzt endet mit einem Rezept für Antidepressiva. Eine Psychotherapie kommt nicht in Frage. „Bei uns in der Oberpfalz geht man nicht zum Psychiater“, sagt Elke Strehl. „Wenn man das tut, denkt jeder, man ist verrückt, und man wird entsprechend behandelt.“ Sie fürchtet zudem die Reaktion der Tochter, falls sie versucht, sie zu einer Therapie zu überreden. „Sie hätte mir nie verziehen, wenn ich sie gegen ihren Willen irgendwohin geschleppt hätte.“

Als Brigitte 2016 die Schule mit der Mittleren Reife und einem Notendurchschnitt von 1,0 abschließt, wiegt sie nur noch 40 Kilo. Zu viel, um sich schön zu fühlen. Zu viel, um einen Bikini zu tragen. Die inzwischen 17-Jährige hungert weiter. Auf ihrem Speiseplan stehen Magerquark und fettreduzierte Joghurts, Äpfel und Nektarinen, schwarzer Kaffee und Gemüsepfannen ohne Öl. „Eigentlich habe ich relativ viel gegessen“, sagt sie. Das Abnehmen sei eher eine Begleiterscheinung von zu viel Lernstress gewesen, weil sie versucht habe, das Abitur per Fernstudium zu machen.

Weniger Gewicht, bessere Laune

Schließlich zeigt die Waage nur noch 28 Kilo. Weniger geht kaum. Brigitte ist dem Tod näher als dem Leben. Dennoch habe sie sich wohlgefühlt, sagt sie. „Mir ging es gut, die Depressionen wurden weniger.“ Fotos aus jenen Tagen zeigen eine junge Frau in engen Hosen, die ihre extreme Magerkeit noch betonen. „Ich konnte nichts Weites anziehen, weil in meinem Kopf war, dass ich dann wieder dicker gewirkt hätte.“

Schwägerin will Mutter wegen fahrlässiger Tötung anzeigen

Irgendwann interveniert die Verwandtschaft. Eine Schwägerin droht Elke Strehl, sie wegen fahrlässiger Tötung anzuzeigen, sollte Brigitte an ihrer Magersucht sterben. Der Vater schaltet sich ein und wirft ihr vor, nicht frühzeitig eingegriffen zu haben. „Alle setzten meine Mutter unter Druck“, erinnert sich Brigitte. „Nur mit mir hat niemand gesprochen.“

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Im Januar 2017 wird Brigitte 18 Jahre alt. Endlich volljährig. Ein paar Wochen später ziehen Mutter und Tochter in die Nähe von Köln, Brigitte meldet sich an einer Gesamtschule an. Sie will das Abitur machen, später studieren. Ein Neuanfang, weit weg von der Oberpfalz. Weit weg von der Schule, der sie bis heute eine Mitschuld an ihrer Erkrankung gibt. Der Vater lebt inzwischen in einem Heim für betreutes Wohnen.

Essen für Mama

Behutsam ändert sie ihr Essverhalten. Nimmt ein paar Gramm zu. „Ich sah ja, wie meine Mutter unter den Vorwürfen der Verwandten litt. Also fing ich ihr zuliebe langsam wieder an zu essen, obwohl ich das eigentlich nicht wollte.“ Doch der Körper, ausgehungert nach Fett und Zucker, „will alles auf einmal“: Pizza, Kuchen, Süßigkeiten. Und das möglichst in XXL-Größe.

Im Sommer 2017 wird Brigitte von ihrem ersten großen „Fressanfall“ überrollt. Eine Woche später folgt der zweite. Bald sind es mehrere am Tag. „Dieses Binge-Ding war völlig außer Kontrolle geraten. Jede Mahlzeit eskalierte. “

Selten ist das nicht. Wenn man Magersüchtige unter Druck setze, ohne ihre psychischen Probleme zu behandelten, passiere es häufig, dass sie sich als „Ersatz“ eine andere Essstörung wie Bulimie oder Binge Eating suchten, sagt Andreas Schnebel vom „Bundesfachverband für Essstörungen“. „Die Störung ist ja nicht weg. Sie sucht sich einen anderen Weg.“

Der Wunsch nach dem Tod

Zum Frühstück verschlingt Brigitte bergeweise Brötchen, Schüsseln mit Haferflocken und sechs, sieben Brotscheiben. Nachts durchwühlt sie den Mülleimer nach weggeworfenen Kuchenresten, bis die Mutter sie stoppt. Bald klettert der Zeiger der Waage Richtung 40, 50, schließlich auf 70 Kilo. Brigitte geht kaum noch aus dem Haus, weil sie sich „fett und hässlich“ findet. Einen Selbstmordversuch vereitelt die Mutter in letzter Minute.

Mehrmals sucht sie professionelle Hilfe, doch keiner der vier Therapeuten, die sie auf Drängen des Hausarztes eher halbherzig konsultiert, weiß mit ihren Essstörungen umzugehen. „Eine Ärztin sagte, ich solle doch froh sein, dass ich endlich wieder zunehme.“ In einer Selbsthilfegruppe für Essgestörte fühlt sie sich genauso wenig aufgehoben wie in der psychiatrischen Klinik, die sie nach ihrem Selbstmordversuch nach nur einer Nacht auf eigenen Wunsch wieder verlässt.

Brigitte Strehl hofft nun, ihre Krankheit mit eigener Kraft in den Griff zu bekommen. Kürzlich ist sie in eine eigene Wohnung gezogen und hat sich einen kleinen Hund angeschafft. Per Fernstudium macht sie eine Ausbildung als Ernährungsberaterin. „Ich muss kämpfen, denn ich möchte leben“, sagt sie. „Aber nicht in diesem Zustand.“

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