Zirkus seit acht Monaten an einem Ort„Das hier ist für mich wie Gefängnis“

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Deborah Lauenburger mit ihrem Friesen Totilias auf dem Gelände des Zirkus Paul Busch

  • Mit dem zweiten Lockdown strandete der Zirkus Paul Busch in Oberhausen.
  • Zum ersten Mal in ihrem Leben verbringt die Familie acht Monate am selben Ort, ohne Aufführungen, ohne Publikum.
  • Jetzt öffnet das Zirkuszelt wieder für Besucher. Eine Rückkehr zur Normalität bedeutet das trotzdem nicht.

Oberhausen – Im Zentrum der Manege hebt Henry Frank das Mikrofon an den Mund und ruft: „Manege frei, das Spiel beginnt!“ Er verbeugt sich leicht, schreitet zum Rande der Manege und überlässt das Scheinwerferlicht seiner Familie: Zuerst seiner Schwiegertochter Deborah Lauenburger, die dutzende Hula Hoop Reifen gleichzeitig durch die Luft wirbelt und ihrem Pferd das Rechnen beibrachte. Dann begrüßt Clown Karlito das Publikum und stolpert über einen Luftballon nach dem anderen. Acht Monate begrüßte Zirkusdirektor Henry Frank keine Zuschauer auf den Rängen. Seit zwei Wochen kehrt das Publikum zurück. Nicht in den „Zirkus Paul Busch“. Sondern in das „Dinoland und Zirkus.“ Not macht erfinderisch, sagt Henry Frank immer wieder. Diese Geschichte handelt von einer Zirkusfamilie, die nicht Bittsteller sein will.

Oberhausen, Juni 2021. Henry Frank sitzt unter einem Pavillon, den die Familie zwischen der Essensbude und dem Zirkuszelt aufgebaut hat und blickt über den Zeltplatz. Es ist ein warmer Tag, 29 Grad, der Rasen verbrennt in der Sonne. Ein guter Tag für Kundschaft, glaubt Frank. Rund um das Zelt herum stehen Dinosaurierfiguren: Mal in lebensechter Größe, mal ragt nur ein Kopf aus dem Boden. Links neben dem Zirkuseingang können Kinder in einem Sandkasten ein Dino-Skelett freibuddeln, daneben hat die Zirkusfamilie Tafeln aufgestellt, die über Fossilien, Entenschnabelsaurier und Flugsaurier informieren. Halbkreisförmig um das Zelt herum ragen Hüpfburgen hoch, über einer von ihnen reißt ein aufblasbarer Tyrannosaurus das Mal auf.

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Der dreijährige Niklas beim „Ausgraben“ eines Dinosaurier-Skeletts.

Fünf Monate Zwangspause

Ein befreundeter Schausteller habe ihm die Dinosaurier-Ausstellung geliehen, sagt Henry Frank. Am 12. Juni eröffnete er den Erlebnispark „Dinoland und Zirkus“: Familien dürfen den Tag auf dem Zirkusgelände mit der Dinosaurierausstellung verbringen, um 14 und 16 Uhr eröffnet Frank für Kurzaufführungen die Manege. Wer möchte, darf anschließend auf einem der Kamele reiten.

Fritzlar bei Kassel, März 2020. Im Zirkus Paul Busch werden die Zuschauerränge immer leerer. Zu manchen Vorführungen, sagt Frank, kommen nur noch 20, 30 Leute. Eigentlich passen hunderte in ein Zelt. Am 16. März ruft der Zirkusdirektor das letzte Mal: Manege frei! Dann ist Schluss, bis Mitte August. Der Zirkus strandet. In der Manege lagert nun Heu für die Tiere. Ein paar Wochen bleiben die engagierten Artisten noch beim Zirkus, denken, dass es bald weiter geht. Dann reisen sie alle in ihre Heimatländer. Nur die Familie Frank, zehn Personen, bleibt zurück.

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Henry Frank, Direktor des Zirkus Paul Busch

Nordrhein-Westfalen, August 2020. Deutschlandweit dürfen in NRW die meisten Besucher ins Zelt. Im Spätsommer verlassen die Zirkusleute deshalb Hessen und ziehen nach Bochum, für ihre erste Vorführung. Von dort aus fahren sie nach Lüdenscheid, Iserlohn, Mönchengladbach, Oberhausen. Dort strandet die Familie Frank erneut, als Anfang November der zweite Lockdown beginnt.

Zirkus erstmals als Kulturgut anerkannt

Noch nie sei er so lange an einem Ort gewesen, sagt Henry Frank. Er kam im Zirkus zur Welt, genau wie sein Vater, Großvater und Urgroßvater, wie seine Kinder und Kindeskinder, ist Zirkusmensch in der siebten Generation. „Wir Zirkusleute sind alle zehn, 14 Tage woanders“, sagt er. „Das hier ist für mich wie Gefängnis.“

Zum ersten Mal ist er auf staatliche Hilfen angewiesen: Er beantragte Corona-Nothilfen, kürzlich bekam er den Zuschlag für das Förderprogramm „Neustart Kultur“ – ein Geldtopf für pandemiebedingte Investitionen der Zirkusbranche. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik, sagt Henry Frank, wurde der Zirkus damit als Kulturgut anerkannt.

Im Ruhrgebiet habe er unglaubliche Solidarität erfahren: Die Oberhausener brachten Möhren und Heu für die Tiere vorbei, Lebensmittel und kleine Geldspenden für die Menschen. „Das hat uns die ganze Zeit getragen“, sagt Frank. Irgendwie sei Oberhausen deshalb doch seine zweite Heimat geworden, die Familie fand Freunde hier. Die erste Heimat ist für Henry Frank immer da, wo sein Wohnwagen steht. „Seit letztem Wochenende versuchen wir, uns wieder aus eigener Kraft über Wasser zu halten.“

Weihnachtsbaumverkauf mit Clown

Oberhausen, Dezember 2020. Eigentlich wäre der Zirkus Paul Busch gerade in Magdeburg, zum traditionellen Weihnachtsgastspiel. Nach einer Shoppingtour mit seiner Frau fährt ein Mann aus dem Sauerland an dem Gelände mit dem Zirkuszelt vorbei. Er steigt aus und kommt auf die Zirkusfamilie zu, erinnert sich Frank. Euch geht es doch auch dreckig, habe er gesagt. Er besitze eine Baumplantage. Ich habe da etwas für euch, sagte der Mann zu Frank.

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Kurze Zeit später stehen 350 Tannen neben dem Zirkuszelt. Die Familie baut um, für den Weihnachtsbaumverkauf: Interessenten müssen zwischen den Gehegen der Pferde, Ziegen und Kamele entlang laufen. Neben den Wartenden jonglieren Artisten, Franks Sohn macht als Clown seine Faxen. Die Aktion sprach sich herum: „Die Leuten kamen von weit her, um hier ihren Weihnachtsbaum zu kaufen. Aus Köln, aus Wuppertal, aus Münster“, sagt Frank. Man müsse eben kreativ sein.

Ab Januar bietet der Zirkus Fotoshootings an: Je eine halbe Stunde darf ein Haushalt ins Zirkuszelt, mit den Kamelen Fotos machen, die Tiere streicheln, füttern, Fragen stellen. Anschließend lässt jeder eine kleine Spende da, mal einen Zehner, mal einen Zwanziger.

„Wir waren noch nie Bittsteller“, sagt Frank. „Wir setzen uns nicht hin, warten, bis es weitergeht und halten die Hand auf.“ Bei den Worten klopft er energisch auf den Tisch. „Wir tun auch selber etwas!“

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Der Zirkus Paul Busch improvisierte das Gelände in Oberhausen in einen Dino-Park. 

Artisten räumen Regale ein

Mit dem Abebben der dritten Corona-Welle sah Henry Frank den Lockerungen entgegen. 250 Leute dürfen wieder ins Zelt, wenn die Zuschauer allerdings weit auseinander sitzen, passen nur 80 hinein. Das Zelt ist zu klein. Außerdem leben die meisten Artisten noch im Ausland: Der eine räumt Regale im Supermarkt ein, sagt Frank, ein anderer liefert Pakete aus. Ein Artist fährt LKWs, wieder ein anderer hilft einem Bauern bei der Feldarbeit.

Noch trauen sie sich nicht, zurück nach Deutschland zu reisen. Was, wenn im Herbst doch die vierte Welle kommt? Momentan haben sie einen sicheren Job. Also eröffnet Frank das „Dinoland und Zirkus“.

„Ich fühle mich zuhause, wenn ich jede Woche woanders bin“

Nach dem ersten Auftritt seit dem Lockdown sei sie nervös gewesen, sagt Deborah Lauenburger. Sie tritt aus der Essensbude am Eingang heraus und setzt sich auf einen der Stühle im Schatten. „Ich hatte Angst, Tricks zu vergessen“, sagt die 24-Jährige. Schließlich führt sie momentan vier Nummern auf: Jonglieren, Hula Hoop und zwei Tierdressuren mit ihren Pferden Totilias und Desperados. 

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Deborah Lauenburger mit Totilias

Seit zweieinhalb Jahren ist Lauenburger Teil des Zirkus Paul Busch. Eigentlich wuchs sie im Zirkus Bravo auf, doch dann verliebte sie sich in Henry Franks Sohn Karlito, den Clown. Momentan ist sie schwanger. Ihr Kind, sagt sie, werde auch im Zirkus zur Welt kommen, genau wie die Generationen vor ihm. „Ich könnte mir niemals vorstellen, in einem Haus zu wohnen“, sagt sie. „Das würde mich total beengen. Da wackelt ja nichts!“

Lauenburger sagt, sie sei ein Mensch, der immer etwas Neues sehen müsse. Sie fängt an von verschiedenen Orten in Deutschland zu schwärmen: Dresden sei wunderschön, Rügen und Hannover erst! Oberhausen gefalle ihr auch, sagt Lauenburger, die Menschen hier seien nett. Trotzdem hofft sie, im Herbst weiterzuziehen. „Ich fühle mich zuhause, wenn ich jede Woche woanders bin“, sagt sie. „Das ist unser Leben. Mein Leben. Ich kann mir kein anderes vorstellen.“

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