Pessimist und Feinschmecker

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Rafael Chirbes in seinem Haus in Beniarbeig.

Rafael Chirbes in seinem Haus in Beniarbeig.

Toll! Da fahren wir auf Spaniens Autopista von Valencia Richtung Süden - und statt Sonne satt regnet es aus allen Wolken. In diesem grauen Regenschleier sehen die Hotelungetüme entlang der Mittelmeerküste dann noch ein bisschen bedrückender aus, als sie es eh schon tun. Am Zielort Beniarbeig angekommen, der etwas abseits der Küste zwischen Alicante und Valencia liegt, gießt es dann nicht mehr in Strömen, sondern schüttet es aus Kannen. Später am Abend werden wir im Fernsehen die Bilder sehen von Autos, die fahrerlos über Wasserflächen trudeln und sich zu vielen kleinen und größeren Schrotthaufen zusammentun. "Eine Sintflut!" sagt der Reporter.

In Beniarbeig wollen wir Rafael Chirbes treffen, den Autor des Romans "Die schöne Schrift", der in diesem Jahr das "Buch für die Stadt" in Köln und der Region ist. Vor dem Rathaus hängt ein Stadtplan hinter Glas. Das abgebildete Straßennetz ist übersichtlich, das ist die gute Erkenntnis. Dass aber der Weg, den uns Chirbes als Adresse angegeben hat, darauf nicht zu entdecken ist, stimmt weniger froh. Aber wir haben ja noch Zeit.

In der "Bar Nou Girona", gleich gegenüber, holen wir Hilfe ein. Dem ersten Beniarbeiger ist die Adresse ebenfalls ein Rätsel. Doch er kennt jemanden, der es wissen muss. Luis ist nämlich vom Straßenbauamt und ist sofort im Bilde: "Ah, el escritor!" Ja, genau, der Schriftsteller, zu dem wollen wir. Luis stellt seinen Café auf die Glastheke, in der jede Menge Tapas locken, und setzt an, um den Weg zu skizzieren. Doch dann winkt er ab, sagt "zu kompliziert" und greift zum Handy. Während er auf das Freizeichen wartet, hebt er die Hand und beruhigt: "Kein Problem!"

Den Dialog bekommen wir nicht mit, den er da führt, wohl aber das Ergebnis. "Alles in Ordnung, mein Freund Rafael kommt gleich vorbei, um Sie abzuholen!" So war das allerdings nicht gedacht gewesen. Denn bis zum verabredeten Besuchstermin ist es noch über eine halbe Stunde. Aber nun ist es passiert. Also stellen wir uns draußen vor die Bar, um den "Amigo" von Luis zu erwarten, und verfolgen das Regentropfenkonzert: die dunklen Töne auf der gelben Markise und die hellen auf den zusammengestellten grünen Plastikstühlen.

Als Rafael Chirbes vorfährt, kurbelt er die Scheibe runter. Er sei sofort da, parke den Wagen nur schnell um die Ecke. Denn bevor wir zu ihm fahren, wolle er doch die Gelegenheit nutzen, einen Café zu trinken. Wir doch sicher auch. Klar. Es ist ja dann erst der dritte Espresso innerhalb von 30 Minuten. Die Zigarette allerdings, die er uns aus der aufgerissenen Packung anbietet, schlagen wir aus. Das wäre ja wirklich zu viel der Höflichkeit.

Ein knapper Gruß zum Abschied an die Bekannten in der "Bar Nou Girona". Dann steigt Chirbes in unseren Mietwagen ein und erzählt vom Bauboom in der Stadt. "In Beniarbeig entstehen viele neue Häuser für junge Familien. Das hebt die Preise. Das führt auch dazu, dass hier sehr viel in Bewegung ist. Überall gibt es Sperrungen und Umleitungen."

Plötzlich blockiert ein Kleinwagen die Weiterfahrt. Aber das passt ganz gut. Denn Chirbes möchte in dieser Gasse schnell etwas einkaufen. Also parken auch wir mitten auf der Straße. Wenig später kehrt der Autor zurück mit drei Weißbrotstangen in einer Plastiktüte und der Tageszeitung unterm Arm: "Am Wochenende lohnt die sich, denn dann haben die ein großes Feuilleton darin." Gleich blättert er dieses auf die Schnelle durch. Weil sich das Fahrzeug vor uns immer noch nicht rührt, empfiehlt er, kurz die Hupe zu betätigen. Das wirkt. Mit wehendem Haar springt die Fahrerin herbei und braust davon.

Dann geht es mal links- und mal rechtsherum und einmal auch quer über eine Baustelle. Als wir einen kurvigen Feldweg einschlagen, mahnt Chirbes, auf überraschenden Gegenverkehr zu achten. "Die Nachbarn!" Aber heute zieht es niemanden vor die Türe. Der Belag wechselt jetzt zwischen Sand und Asphalt, und Chirbes spottet darüber, dass man doch reichlich Steuern zahle, damit so etwas in Ordnung gebracht werde. Ob das ein Fall für Luis ist, den Amigo vom Straßenbauamt, fragen wir jetzt nicht. Eines ist klar, als wir das alleinstehende Haus am Hang erreicht haben, wo uns zwei pitschnasse Hunde begrüßen: Diesen Weg findet nur der Einheimische.

Das ist ein sehr guter Platz für mich", sagt Rafael Chirbes, "denn hier bin ich ziemlich isoliert und habe meine Ruhe." Trotz der Nähe zu Benidorm, dieser monströsen Wucherung des Tourismus, die nur 40 Kilometer südlich liegt. "Wer das noch nicht gesehen hat", sagt Chirbes, "der muss es einmal sehen." Es ist dies wohl die eklatanteste Folge all der vielen Nord- und der immer zahlreicher werdenden Osteuropäer, die nach Licht und Wärme lechzen. Eine Gegend tut sich auf, die den Eindruck erweckt, so hat es Chirbes in seinem Essay-Band "Am Mittelmeer" beschrieben, "als hätte ein ruchloser, zerstörerischer Zauberer den Plan gefasst, Hässlichkeit über eine Region zu bringen, die für mich und viele andere Menschen durchaus ein Urbild der Harmonie hatte abgeben können".

Rafael Chirbes ist alles andere als prätentiös. Vom Elfenbeinturm ist er so weit entfernt wie sein Haus vom Hauptplatz in Beniarbeig. Da ist nichts Pose, nichts gesteigerte Eitelkeit. Dass er seine Wohnung auffallend aufgeräumt haben könnte, weil doch ein Besucher kommt, lässt sich nicht behaupten. "Die Zimmer sind ein Chaos!", urteilt er selbst. Was natürlich so nicht stimmt. Allerdings quellen in seinem Arbeitsraum Bücher, Hefte, Paketrollen, Schachteln und Karten munter aus den Regalen und türmen sie sich zu wackeligen Hügeln auf dem Boden. Der Schreibtisch, der wie eine Insel mitten im Raum steht, ist unter einer dicken papierenen Schicht versteckt.

Aus den Laken des Bettes, das in einer Ecke unterm Fenster steht, zupft Chirbes erst eine Zeitung und dann eine amerikanische Neuerscheinung, um die es ihm geht. Damit tritt er den Nachweis an, dass er nun wirklich nicht nur die Klassiker lese, von denen er gerade geschwärmt hat - eben nicht nur Tolstoi und Dostojewski, Balzac und Montaigne, Musil und Thomas Mann. Auch das Werk der jüngeren Kollegen ist ihm wichtig.

Sein liebstes Buch? Das ist allerdings auch schon vor einiger Zeit erstmals erschienen: "La Celestina", eine Tragikomödie von Fernando de Rojas aus dem Jahre 1499. Mit sicherem Griff holt Chirbes gleich zwei Ausgaben des Klassikers aus seiner Bücherhöhle hervor. Ein Drama um unerfüllte Liebe und gewaltsamen Tod, mit vielen Verwicklungen und einem pessimistischen Finale.

Darauf erst mal eine Stärkung. Durch eine Gegensprechanlage bestellt Chirbes Tee beim Hausverwalter, der ebenfalls auf dem Gelände wohnt. Der kommt erst mit einem Becher und dann erneut mit einem zweiten Becher sehr süßen Tees herein. Und beide Male bleibt er im Türrahmen stehen, schaut hinaus auf die Rosensträucher, die jetzt in einem braunen See stehen, und sagt sich und nicht uns: "Was für ein Wetter!" Der Regen knallt auf die Veranda, in der wir am Tisch sitzen, zuweilen so lautstark, dass Chirbes nicht nur den Blick hebt, sondern auch die Stimme, die eh eine kräftige ist.

Mit dem Schreiben hat der Autor schon in den 70er Jahren begonnen. Nein, in Wahrheit schon als Kind. Aber das lassen wir jetzt mal außen vor. Die "erwachsenen" Manuskripte also, die von den Verlagen abgelehnt wurden, hat er alle aufbewahrt. Mitsamt den Absagen. Wir gehen mal wieder hinüber ins Arbeitszimmer, wo er ein paar der unveröffentlichten Werke zeigt. Eines heißt "Paris-Austerlitz", in einem anderen überfliegt er noch einmal die frühen Reaktionen der Verlage: Wir haben uns sehr gefreut, hat uns gut gefallen, können wir leider nicht veröffentlichen. So in der Art.

Beinahe aus dem Handgelenk heraus feuert er die Mappen mit den Manuskripten zurück ins Regal. Nicht aus einer womöglich anhaltenden Enttäuschung heraus, sondern weil es ihm so wichtig nun auch wieder nicht ist. Wie auch der Hügel mit den Rezensionen aus den Zeitungen und Zeitschriften vieler Länder: "Die lese ich schon, jedenfalls diejenigen, deren Sprache ich beherrsche. Leider spreche ich kein Deutsch."

Schade, denn so entgehen ihm ja viele Besprechungen, die sein Werk rühmen. "Die kleine Tour d´Horizon", so war beispielsweise anlässlich der deutschen Veröffentlichung der "Schönen Schrift" zu lesen, "schließt alles ein: den Krieg, den Franquismus und sogar die »transición«, den Übergang zur Demokratie. Wenn die »nueva narrativa espanola«, die sich in den Achtzigern entwickelt hat, ohne die prall-pointierten und doch melancholisch-zarten Romane von Rafael Chirbes auskommen müsste, wäre sie um einiges ärmer." Allerdings ist ihm die deutsche Wertschätzung, die größer sei als in Spanien, sehr bewusst. Sie stärke, sagt er, sein Vertrauen in sich selbst und in seine Bücher.

"Mimoun", sein erster Roman, kam 1988 heraus, da war Chirbes immerhin schon 39 Jahre alt. Dass man zuvor, zumal in Zeiten der Diktatur, nicht an Texten interessiert war, die sich kritisch mit der Geschichte und der Gegenwart befassen, mag sein. Allerdings liefert Chirbes dazu keinen Hinweis. Wie er überhaupt derzeit nicht so gerne über Franco und die Diktatur sprechen mag, wenngleich die ja seine Romane vielfach prägen, "Der lange Marsch" und "Der Fall von Madrid" ebenso wie "Die schöne Schrift".

Ja, im Grunde entfaltet das Werk des Autors - wenngleich ohne dies zu beabsichtigen, wie er versichert - eine literarische Chronik Spaniens von der Zeit des Bürgerkriegs (1936 bis 1939) bis in die Gegenwart. Es bereite ihm ein Vergnügen, in die Köpfe anderer Personen einzudringen und sich ihr Leben vorzustellen. Ihren Gedanken zu folgen. Ihre Taten zu beobachten. Da aber das Private nicht ohne das Politische denkbar sei und das Politische nicht ohne das Private, wie er weiß, entsteht in seinen Büchern ein gesellschaftliches Panorama. Da verweist er auf den verehrten Honoré de Balzac, der einmal gesagt habe, dass der Roman das Privatleben der Nationen offenbare.

Die Zurückhaltung über den "Caudillo" zu sprechen, der das Land von 1939 bis 1975 diktatorisch regierte, hat einen aktuellen Grund: "Im Moment reden alle in Spanien vom Bürgerkrieg, von Franco und der Diktatur. Da findet jeder einen Verwandten, der mal gefoltert oder der im Krieg gefallen ist. Das fängt an, mich anzuekeln. Es ist eine Modewelle wie so viele andere." Tatsächlich befasst sich das Land gerade an dem Wochenende, an dem wir uns treffen, mit einem Gesetz, das auf Aufarbeitung und "Wiedergutmachung" zielt.

Das sah vor ein paar Jahren noch ganz anders aus. Gerade als Spanien nichts wissen wollte von der Vergangenheit, sondern unbedingt die Gegenwart feiern wollte. "Alles war modern, alles schien gut. Es gab die Weltausstellung Expo, und es gab die Olympischen Sommerspiele in Barcelona." Gegen diesen Taumel wollte Chirbes, der in Madrid Geschichte studiert hatte, einen literarischen Kontrapunkt setzen: "Die schöne Schrift" erschien im selben olympischen Jahr 1992.

"Dieser Roman", meint sein Verfasser, "ist mein persönlichstes Buch. Ich habe es damals mit vielen Emotionen geschrieben. Das spüre ich auch, wenn ich noch einmal darin lese. Da kommen mir manchmal noch die Tränen. Ich bin ein realistischer Autor. Ich schreibe nicht über Dinge, die ich mir vollkommen ausgedacht habe. Die Armut, von der in dem Roman die Rede ist, die ist mir nicht unbekannt."

Und die Liebe zum Kino, die Ana hegt, war auch die seiner Mutter. Gelesen wurde in seinem Elternhaus nicht so viel. Gleichwohl wusste der kleine Rafael gleich, was das schönste an den Büchern ist: "Als ich drei Jahre alt war, gingen wir in eine Buchhandlung, um mir ein Buch zu kaufen. Ich durfte mir eines auswählen, und ich entschied mich für ein Kinderbuch mit besonders vielen Buchstaben." Dass der Verkäufer einwandte, er sei dafür noch zu jung, ist ihm nicht aus dem Gedächtnis gegangen.

Ob es nicht schwierig gewesen sei, einen solchen Lebensrückblick aus der Perspektive einer Frau zu werfen, fragen wir. "Sicher!" sagt er, "das habe ich bei der »Schönen Schrift« als eine ziemlich komplizierte Sache erlebt. Es war schon eine kleine Travestie für mich. Aber es musste sein. Denn Männer erzählen nicht. Höchstens wenn sie Schriftsteller sind, aber Schriftsteller sind ja sowieso ein Fall für sich. Nein, meistens schweigen Männer, wenn etwas sie bedrückt. Frauen haben dieses Problem nicht. Darum erzählt uns Ana von ihrem Leben." Die Stimme übrigens, die Kornelia Boje dieser Ana im deutschen Hörbuch leiht, sagt ihm sehr zu - "so ruhig, so warm". Die passe sehr gut zur Stimmung des Romans, die von Melancholie und Enttäuschung geprägt wird.

"Ich bin ein Pessimist", räumt Chirbes ein. Dafür spricht, was er im Leben erfahren hat. Bis zum heutigen Tag. Da lässt er sein Auge nur einmal kurz über die Schlagzeilen der Zeitung schweifen, die am Rande des Tisches liegt, und weiß schon, was ihn stört. Ziemlich vieles an der Politik. Dass Kriege geführt werden im Namen Gottes, findet er unerträglich - auf der einen Seite US-Präsident George Bush und auf der anderen Seite die Taliban. Und dass das Kriegführen kein Ende nimmt, ist ihm so banal wie offenkundig. Die Frage stelle sich ja nur, wo die nächste Krise explodiere. Vielleicht im Iran? Er will da kein Prophet sein. Allerdings scheint es ihm geraten, das mächtige China nicht aus dem Blick zu lassen. Ausgeschlossen scheint es ihm nicht zu sein, dass eines Tages der Konflikt zwischen den USA und dem Islamismus abgelöst werde von dem zwischen den den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik.

Er ist ein Pessimist. Aber so ist es nun auch wieder nicht, dass er frei von Heiterkeit ist. Zwar wird sein Gesicht meistens sehr ernst, wenn er in eine Kamera guckt, doch ist er ein Mann, der auch die schönen Seiten des Lebens genießen kann. Das Reisen zum Beispiel, wovon unter anderem seine Mittelmeer-Essays und seine Städtebilder künden. "Ich mag es, Landschaften zu beschreiben, Menschen zu treffen oder zu schildern, wie es mit den Tomaten auf den Kanaren zugeht." Und auch das ambitionierte Essen schätzt er. Es sei nicht zu bestreiten, meint er: "Ich schätze eine gute Küche, und ich schätze einen guten Wein."

Bevor wir den Hügel hinab nach Beniarbeig fahren, damit er seinen Wagen abholen kann, hat er noch einen Tipp parat. Falls ich nicht sofort zurückfahren sollte nach Valencia, könnte ich ein Restaurant im Küstenort Denia besuchen. "Für mich ist das eines der besten Restaurants in ganz Spanien" sagt Chirbes. Ein Urteil, das ja für sich steht, aber noch dadurch an Gewicht gewinnt, dass Chirbes viele Artikel für das Gourmet-Magazin "Sobremesa" geschrieben hat. Die prachtvoll gebundenen Jahrgänge füllen eineinhalb Regalbretter seiner Wohnung. Denn von der Dichtung allein lässt sich nicht leben.

Als wir uns vor der Bar "Au Nou Girona" verabschieden, wo er einen weiteren Café trinken und die Wochenendausgabe der Zeitung lesen will, legt er mir noch einmal den Abstecher nahe. In jenes Denia also, wo er als Kind den süßlichen Geruch faulender Algen kennengelernt und nie mehr vergessen hat. Als wir dem Maître des "Sal de Mar" sagen, wem wir die Empfehlung in sein Haus zu verdanken haben, hat er den Gast sofort vor Augen: "Den kennen wir gut! Das ist der Herr, der immer sehr, sehr viele Oliven auf dem Tisch haben will."

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