„Klassische Definition von Wahnsinn“Peter Wohlleben über das dramatische Baumsterben

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Peter Wohlleben

Herr Wohlleben, Sie drücken das Elend des deutschen Waldes in einfachen Zahlen aus: In zehn Jahren ist jeder zweite Baum verloren. Jeder sieht es, wenn er mit dem Auto oder mit der Bahn durch Deutschland fährt. Überall sind braune Flecken. Wir haben mehr als 25 Prozent Fichten, die in den nächsten Jahren überwiegend vertrocknen oder vom Borkenkiefer befallen werden, aber auch fast so viele Kiefern, denen ebenfalls Schädlinge an den Kragen gehen. Beide Baumarten werden weitestgehend verschwinden. Dazu kommen ramponierte Laubwälder. Je mehr wir sie ausdünnen, desto mehr heizen die sich auf und gehen kaputt. Wenn ich das zusammenrechne, komme ich auf die Hälfte aller Bäume.

Hören Sie das ausführliche Gespräch mit Peter Wohlleben auch als Podcast „Talk mit K“.

Ich habe den Begriff von der „Massenerkrankung des Waldes“ gelesen. Ist das auch Ihre Diagnose?

Nein. Dieser Begriff lenkt total ab. Die Bäume werden ja nicht überraschend befallen von etwas, das sie normalerweise aushalten würden. Borkenkäfer sind eigentlich ganz arme Wichte, die darauf angewiesen sind, Bäume kurz vor deren Tod noch zu erwischen. Solche Bäume gibt es in einem ursprünglichen Wald ziemlich selten. Aber der Menschen mit seinen Wald-Plantagen, und über 90 Prozent der Wälder in Deutschland sind Plantagen, serviert dem Borkenkäfer die Wälder gewissermaßen auf einem Silbertablett. Wir pflanzen Monokulturen mit Baumarten, denen es bei uns zu heiß und zu trocken ist. Eine Fichte kann so gesund sein, wie sie will, die hält unter den Bedingungen, unter denen wir sie anbauen, nicht ihre normale Lebensspanne durch. Das findet der Borkenkäfer cool. Aber statt zuzugeben, dass diese Form der Monokultur der Fehler ist, sagen die Verantwortlichen: Der kleine Kerl ist es schuld.

Warum schlägt der Borkenkäfer dann erst jetzt so massiv zu?

Die ersten Borkenkäferwellen bei Fichtenplantagen gab es schon um 1840. Das ist ein Phänomen, das immer schon an einen ungeeigneten Anbau gekoppelt war, jetzt aber natürlich durch den Klimawandel verschärft wird. So heiße Sommer hatten wir noch nie, darum wird das Desaster immer größer und läuft noch schneller ab.

Das klingt regelrecht apokalyptisch.

Ganz so schlimm ist es nicht. Der Wald ist ein mächtiges Ökosystem, das überall wieder zurückkommt. Unsere heimischen Bäume halten wahnsinnig viel aus. Was sie nicht aushalten, sind die schweren Maschinen, mit denen wir den Waldboden zerstören. Die wiegen bis zu 70 Tonnen und verdichten den Boden dermaßen, dass fast kein Wasser mehr gespeichert werden kann. Die heimischen Laubbaum-Arten wie Buchen und Eichen brauchen aber die Winterniederschläge. Wenn es grau, regnerisch und stürmisch wird im Winter, tankt der Wald. Dafür ist es wichtig, dass der Boden das Wasser aufsaugen kann, damit es den Bäumen im nächsten Sommer zur Verfügung steht. Aber wenn man mit großen Maschinen über die Böden fährt, vertrocknen die Buchen und Eichen im Sommer.

Im Waldbericht der Bundesregierung ist zu lesen, dass insgesamt 277.000 geschädigte Hektar Wald „wiederbewaldet“ werden müssen. Ist das auch Ihre Empfehlung?

Auf keinen Fall. Ein Wald muss nicht wiederbewaldet werden. Wenn Bäume sterben, heißt das ja noch lange nicht, dass der Wald stirbt. Denn die Biomasse ist noch da, wenn wir das Holz im Wald lassen. Es gibt wahrscheinlich über 100.000 Arten, die im Wald leben. Einen Großteil der Bakterien und Pilze haben wir noch gar nicht entdeckt. Nur wenn wir Schadholz wegräumen oder große Kahlschläge machen, dann ist der Wald wirklich tot. Die Bäume kommen von ganz allein wieder. Leider wird der Natur nicht erlaubt, sich selbst zu regeln. Stattdessen machen wir wieder Plantagen. Das ist die klassische Definition von Wahnsinn, wenn man immer dasselbe macht, aber jedes Mal ein anderes Ergebnis erwartet. Plantagen werden scheitern, definitiv.

Warum ist der Wald für uns so wichtig?

Nur ein Beispiel: Ohne Wald würde die Temperatur im Sommer je nach Landstrich um fünf bis zehn Grad ansteigen. Dann hätten wir vermutlich jedes Jahr eine Dürre. Das wäre die Vollkatastrophe. Wenn man möchte, dass der Wald uns hilft, muss man ihn lassen. Wir müssen ganz klar aufhören, der Natur ins Handwerk zu pfuschen.

Intakte Wälder können auch dabei helfen, Flutkatastrophen wie die im Sommer zu verhindern, sagen Sie. Wo liegt der Zusammenhang?

Das Hochwasser entsteht in den Bergen, nicht im Tal. Wir müssen also dafür sorgen, dass es oben bleibt. Je mehr intakte Wälder wir haben, desto weniger Wasser fließt ins Tal. Wer die Böden durch schwere Waldmaschinen verdichtet, trägt ebenfalls dazu bei, dass das Wasser von den Bergen ins Tal rauscht. Schlimm sind auch die Fahrspuren der Maschinen, die immer hangabwärts fahren. Da kann das Wasser richtig runterschießen, Greenpeace hat das mit Drohnenfotos im Ahrtal dokumentiert. Die Forstwirtschaft ist natürlich nicht allein schuld an solchen Flutereignissen, aber einen Beitrag hat sie sicher geleistet, und das haben viele nicht auf dem Schirm. Jetzt allein über natürlichere Verläufe von Flüssen und neue Regenrückhaltebecken nachzudenken, wird nicht ausreichen.

Der deutsche Wald gehört zu großen Teilen Privatpersonen. Wäre es für ihn besser, wenn er in staatlichem Besitz wäre?

Nein. In Bezug auf Holz sind die staatlichen Wälder fast ausgeplündert. Der Staat macht es den Privatbesitzenden nicht nur falsch vor, er berät diese auch falsch. Wenn man die Förderungen rausrechnet, ist Wald rein ökonomisch übrigens betrachtet hochdefizitär. Bis vor fünfzig Jahren konnte man mit Wald vielleicht noch Geld verdienen, da war der Holzpreis im Vergleich zur Arbeitsstunde sehr hoch. Das geht heute vielfach nur noch mit Subventionen. Die Wiederaufforstung wird staatlich massiv gefördert. Sie fördert damit Katastrophenwirtschaft.

Sie plädieren dafür, dass man die abgestorbenen Fichten in ihrer ganzen Hässlichkeit einfach stehen lässt und darunter neue Bäume nachwachsen lässt. Was wäre der Vorteil?

Sie haben das gerade schön gesagt: Man erträgt die Hässlichkeit der braunen Bäume nicht. Das ist ein emotionales Problem, kein ökologisches oder ökonomisches. Die Bäume stehen zu lassen, hat riesige Vorteile. Ich kenne ein Waldbrandgebiet, da hat man die abgebrannten Kiefern zu einem Teil stehengelassen. Da stehen jetzt trotz zwei heißer, trockener Sommer bis zu drei Meter hohe Laubbäume, die von alleine zurückgekommen sind. Nebenan, wo man alles geräumt und Kiefern gepflanzt hat, sind diese bereits tot und vertrocknet. Kahlschläge heizen sich in der heißen Sommersonne nämlich irre auf. Zusätzlich findet bei der Räumung eine massive Befahrung statt, die den Boden verdichtet. Die abgestorbenen Fichten werfen dagegen Schatten und senken die Temperatur für die kleinen Sämlinge teilweise über 20 Grad.

Wachsen in einem abgestorbenen Fichtenwald nicht lauter Fichten nach, die dann ebenfalls vom Borkenkäfer gefressen werden?

Wir können auf den großen Katastrophenflächen, die durch den Sturm Kyrill 2007 entstanden sind, gut beobachten, dass auf früheren Fichten-Monokulturen viele unterschiedliche Bäume kommen, allen voran die Birke, die Pappel, durch Vogelflug aber auch Buchen und Eichen. Natürlich sind auch Fichten dabei, aber eben nur zum Teil.

Warum bekommen Waldbesitzer vom Staat nicht Prämien dafür, ihr Wald Ökosystem sein lassen?

Ich wäre absolut dafür, dass die Regierung Waldbesitzenden, denen die Fichten eingehen, eine Prämie als emotionales Schmerzensgeld zahlen und dafür, dass sie ihn nicht räumen und neu bepflanzen. Leider geschieht das nicht. Dass sich die Forstwirtschaft insgesamt nicht ändert, hat keine ökonomischen Gründe, sondern ist einfach Tradition. Der Anbau von Bäumen nach landwirtschaftlichen Methoden existiert seit 300 Jahren, seitdem hat sich nicht viel verändert. Ich bin manchmal fassungslos, wenn Studierende der Forstwirtschaft in unsere Waldakademie kommen. Die sind wirklich der Meinung, dass der Wald ohne Förster stirbt. Das sind teilweise tolle, engagierte Menschen, die aber denken, der Wald braucht sie, muss von ihnen durchforstet, ausgedünnt und neu bepflanzt werden. Darum muss sich auch das Studium der Forstwirtschaft dringend ändern.

In Köln sind von den 4000 Hektar Wald in den vergangenen 60 Jahren 1500 Hektar als Mischwald aufgeforstet worden. Ist Mischwald die Lösung?

Mischwald ist ein PR-Begriff. Wer zehn Prozent Buchen neben 90 Prozent Fichten setzt, hat schon einen Mischwald. Das ist aber nicht die Natur, das ist kein Laubwald-Ökosystem. Wir konzentrieren uns leider immer nur auf Bäume und denken viel zu wenig in Ökosystemen. Wir setzen ja auch keine tropischen Fischarten in die Nordsee, damit die Nordsee besser mit dem Klimawandel zurechtkommt. Im Wald müssen wir genauso denken wie im Meer. Da kann ich auch nicht sagen: Ich mische die Baumarten jetzt mal so, wie ich es meine und dann ist es gut. Die Lösung wäre eine natürliche Vegetation. Das heißt bei uns: ein Buchen-Urwald, wo die Buche die häufigste Baumart ist.

In Köln gibt es außerdem ein Waldlabor, in dem mit Bäumen experimentiert wird. Da gibt es einen Klimawald mit besonders widerstandsfähigen Bäumen, einen Erholungswald mit Bäumen, die sich besonders schön färben, und einen sogenannten Energiewald mit schnell wachsenden Baumarten zur Energiegewinnung. Und dann gibt eine Fläche, die man sich selbst überlassen hat: den Wildniswald. Was halten Sie von diesem Waldlabor?

Nicht allzu viel, weil es der falsche Ansatz ist und wieder auf dem alten Gleis fährt. Wir sind da wieder beim Ackerbau für Bäume. Man baut Bäume an wie Getreide und meint, man sei modern, weil es sich um angeblich klimaresistentere Baumarten handelt. Besonders schön färbende Bäume sind für den Garten oder den Park ja völlig in Ordnung, aber nicht für den Wald. Und nur im im Wildniswald dürfen dann all die anderen Hunderttausend Arten leben, das ist die Vielfalt, die ich mir in allen Wäldern wünsche. In Deutschland haben wir das auf nur 3 Prozent der Waldfläche.

Fremde Baumarten einzuführen, die Trockenheit besser vertragen, ist also auch ein Fehler?

Das nennt man so schön assistierte Migration, die Bäume vom Süden in den Norden zu holen. Ich bin dagegen. Wir müssen demütiger werden und können nicht einfach die gleichen Fehler einfach wiederholen. Das ist so, als würden sie ein Braunkohlekraftwerk einfach nur auf Steinkohle umstellen.

Ist in Ihrem Modell der Holz als Rohstoff noch vorgesehen?

Nur, weil ich dafür plädiere, die Natur machen zu lassen, heißt das ja nicht, dass man im Wald nichts machen darf. Holz ist ein toller Rohstoff, aber dafür brauchen wir erst einmal funktionierende Wälder. Und jeder sieht da draußen gerade, dass es nicht funktioniert. Wenn die Wälder zurückkehren, können wir schauen, wie viel Holz wir rausnehmen können, ohne die Natur zu sehr zu stören. Pilze sammeln und sich erholen darf man sowieso im Wald. Nur nicht mehr so viel mit der Motorsäge und dem Pflanzspaten machen. Ich möchte nicht, dass es bei uns mal so heiß wird wie im kanadischen Städtchen Lytton, wo diesen Sommer 50 Grad gemessen wurden. Das ist derselbe Breitengrad wie bei uns.. Das ist mir viel wichtiger als das reine Gucken aufs Holz-Geschäft.

Die Bundestagswahl ist vorbei. Gibt es eine Partei, die ein Waldprogramm hat, mit dem Sie einverstanden sind?

Es gibt eigentlich in allen Parteien zumindest gute Ansätze, bei den Grünen natürlich besonders. Meine dringende Hoffnung ist, dass wir ein neues Bundeswaldgesetz bekommen und eine echte Waldkontrolle.

Was macht Ihnen Mut, dass wir den Wald noch retten können?

Mut machen mir die vielen Menschen, denen der Wald sehr wichtig ist. Ich beobachte auch mit Freude die Wald-Bürgerinitiativen, die sich einmischen in ihren örtlichen öffentlichen Wald. Wer eine gründen möchte, braucht dafür nur ein paar Freunde, die sagen: Hey, wir möchten gerne mitreden. Und Mut macht mir auch der Wald selbst: Denn der wird immer wieder kommen, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Wenn wir den Klimawandel wirklich bekämpfen wollen, ist der Wald ein ganz wichtiger Partner. Das kommt mir in der aktuellen politischen Diskussion viel zu kurz.

Was ist Ihre Lieblings-Tageszeit im Wald?

Frühmorgens vor dem Berufsverkehr. Ich finde es schön, wenn es noch gar keine Autogeräusche gibt. Dann hört man im Hintergrund die Hirsche röhren und hat tollen Nebel über den Wiesen.

Der Herbst ist die schönste Jahreszeit für Spaziergänge im Wald. Worauf sollte man achten?

Den Laubfall. Der Herbst ist die Zeit, wo die Bäume ihr großes Geschäft machen. Die gehen jetzt gewissermaßen auf Toilette, indem sie die Reservestoffe aus den Blättern ziehen und die Blätter fallen lassen. Klingt vielleicht ein bisschen eklig, aber zumindest riechen die braunen Blätter gut. Jedes Blatt ist ein kleines Ökosystem, fast wie ein Planet für die vielen Bakterien, die von den Zuckerstoffen darin leben. Wenn das schöne Planetenleben im Herbst zu Ende geht, blockieren manche Bakterien und Pilze die Blattadern, damit der Baum nicht sämtliche Reservestoffe vom Blatt einziehen kann. Dann fallen die Blätter mit kleinen grünen Inseln runter. Achten Sie beim Spaziergang mal drauf. Da sind Bakterienpiraten unterwegs.

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