„Dankbar für einen besonnenen Kanzler“Thomas Kutschaty hält im Live-Talk zu Scholz

Lesezeit 10 Minuten

Köln – Vier Wochen vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vermeidet Wahlkämpfer Thomas Kutschaty alles, was wie ein Verteilen des Fells vor dem Erlegen des Bären wirken könnte. „Wenn es so ausgeht, wie es mir wünsche…“ – so oder so ähnlich beginnt der SPD-Spitzenkandidat im Gespräch mit Sarah Brasack, der stellvertretenden Chefredakteurin des „Kölner Stadt-Anzeiger“, und Landeskorrespondent Gerhard Voogt beim KStA-Livetalk in der Kölner Wolkenburg viele seiner Überlegungen für die Zeit nach dem 15. Mai.

Dass seine Chancen auf die Ablösung von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und der schwarz-gelben Landesregierung jüngsten Umfragen zufolge nicht schlecht stehen, weiß Kutschaty aber auch. Wer ihm gut zuhört und auf die Zwischentöne achtet, merkt das: Der 53-Jährige gibt sich in der Schlussphase des Wahlkampfs weniger als oppositioneller Angreifer denn als Staatsmann in spe.

„Dankbar für einen sehr besonnenen Kanzler.“

Gleich mehrfach verteidigt und rechtfertigt Kutschaty, der auch stellvertretender SPD-Vorsitzender ist, die Haltung des Bundeskanzlers, seines Parteifreunds Olaf Scholz, zum Ukraine-Konflikt. „Olaf Scholz und die Sozialdemokraten stehen konsequent und ohne Zweifel aufseiten der Ukraine“ gegen den Aggressor Russland. Den Überfall von Putins Armee auf das Nachbarland nennt Kutschaty einen „brutalen Angriffs- und Vernichtungskrieg“. Die bereits verhängten Sanktionen nähmen „sehr bewusst in Kauf, dass sie in der Rückwirkung auch uns treffen“, sagt Kutschaty und betont zugleich, dass im Umgang mit Russland „Diplomatie gefragt“ sei und nicht „laute Marktschreierei“.

Gegen den Ruf nach Lieferung schwerer Waffen aus Bundeswehrbeständen an die Ukraine gibt Kutschaty zu bedenken: „Was haben wir überhaupt an tauglichen Waffen, die wir zur Verfügung stellen könnten, auch ohne die eigene Sicherheit zu gefährden?“ Kutschaty hebt die zwei Milliarden Euro an „Ertüchtigungshilfe“, aus denen die Ukraine sich bedienen und Waffen kaufen könne, als die bessere Variante hervor.

Allen, die größerer Härte – auch militärischer Härte – gegen Putin das Wort reden, tritt Kutschaty mit der Warnung entgegen, dass „wir keine Kriegspartei sind und auch keine werden wollen“. Umso dankbarer sei er für einen „sehr besonnenen Kanzler, der nicht mit Schnellschüssen“ agiere. Die Behauptung, die SPD habe ein „Russland-Problem“ oder gar ein „Putin-Problem“, münzt Kutschaty direkt um in ein „Wahlkampf-Problem“ derer, die solche Vorwürfe erhöben. Wenn überhaupt, dann hätten alle inzwischen ihre Lektion lernen müssen: Wer miteinander Handel treibt, wird keinen Krieg gegeneinander führen – diese „Schulweisheit geht nicht mehr auf“.

„Ich schalte kein Braunkohle-Kraftwerk ab, ohne dass wir auch Strom haben.“

Angesichts drohender Versorgungsengpässe mit Öl und Erdgas als Folge des Ukraine-Kriegs stellt Kutschaty den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 zur Disposition. Zwar habe er den Ehrgeiz, am festgelegten Endzeitpunkt als Ziel festzuhalten. Aber die Versorgungssicherheit der Bevölkerung und der Unternehmen in Nordrhein-Westfalen müsse notfalls Priorität haben. „Ich schalte kein Braunkohlekraftwerk ab, ohne dass wir auch Strom haben.“

Einem Öl- oder Gas-Embargo gegen Russland wegen dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine erteilt Kutschaty eine Absage. Wer das von heute auf morgen fordere, verkenne die fatalen Konsequenzen eines solchen Schritts auch für die Menschen in NRW. „Es hilft uns wenig und es hilft auch der Ukraine wenig, wenn wir unsere Wirtschaftskraft nicht halten können.“

Um sich schnellstmöglich aus der Abhängigkeit von Energielieferungen aus Russland zu befreien, setzt Kutschaty nach eigenen Worten auf eine Doppelstrategie: Zum einen müsse man Gaskraftwerke als Übergangstechnologie mit Gas aus anderen Quellen betreiben. Es sei gewiss „nicht toll“, dafür zum Beispiel Flüssiggas aus umstrittenen Ländern wie Katar zu beziehen. Aber es gelte hier, das kleinere Übel abzuwägen. Kutschaty lobt ausdrücklich die Bemühungen von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) um alternative Bezugsquellen für Gas. „Ich habe großen Respekt davor, was Habeck gerade macht.“

Zum anderen müsse der Ausbau der Erneuerbaren Energien im Land „deutlich besser und schneller werden“, sagt Kutschaty. Er will dafür unter anderem Genehmigungsverfahren für Windkraft- oder Solarparks beschleunigen, die zuständigen Behörden zusammenfassen und Stichtagsregelungen für Einwände oder Klagen gegen neue Bauvorhaben einführen. Auch soll die „sture“ 1000-Meter-Abstandsregelung zwischen neuen Windrädern und der Wohnbebauung fallen. Es gehe auch hier um eine Interessen-Abwägung. Dabei müssten Energiesicherheit und Klimaschutz oberste Priorität haben.

Für besonders wichtig erklärt Kutschaty auch den Ausbau der Produktion von grünem Wasserstoff – insbesondere für die Wärmegewinnung. Er verweist dabei etwa auf die Heizung von Wohngebäuden: „Dafür brauchen wir Wärme – und gar nicht so sehr Strom.“

Corona: „Der Spuk ist noch nicht vorbei.“

Wenn der SPD-Mann Kutschaty an einer Stelle mit der von Olaf Scholz geführten Bundesregierung hadert, dann ist es die Corona-Politik. „Ich hätte mir deutlich mehr Basisschutz aus Berlin gewünscht“, sagt Kutschaty mit Blick auf die Lockerungsbeschlüsse des Bundestags. Die Maskenpflicht aufzuheben, sei das „völlig falsche Signal“ gewesen. Die Kritik richtet sich aber auch an die Landesregierung in Düsseldorf. Er könne deren Entscheidung zum Verzicht auf Corona-Tests in den Schulen nicht verstehen, zumindest nicht, „solange die Inzidenzen so hoch sind“. Von den Schulen gehe eine Gefahr aus, das Virus unkontrolliert zu verbreiten.

Kutschaty ordnet sich erklärtermaßen dem „Team Vorsicht“ zu. „Der Spuk ist noch nicht vorbei“, warnt er. Als Beispiel für seine Besorgnis nennt er den Ausfall von bis zu 700 Mitarbeitenden an der Kölner Uniklinik infolge einer Corona-Infektion. Das Loch in der Personaldecke sei schlimmer als die schiere Hospitalisierungsinzidenz, also der Anteil der Bettenbelegung durch Covid-19-Patienten.

Seinen Kölner Parteifreund, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, nimmt Kutschaty in Schutz gegen die Kritik an der Warnung vor einer „Killervariante“ des Coronavirus. Als Panikmache auf Basis bloßer Eventualitäten war dem Minister das ausgelegt werden. „Karl Lauterbach hat immer realistische Einschätzungen abgegeben“, hält Kutschaty dagegen und begrüßt Lauterbachs „Ruf zur Wachsamkeit“. Erneute Einschränkungen des öffentlichen Lebens im kommenden Herbst und Winter seien keineswegs ausgeschlossen, weil es nicht gelungen sei, die Impflücke in der Bevölkerung zu schließen.

In der Impfpflicht-Debatte zeichnet Kutschaty am eigenen Beispiel ein Umdenken der Politik nach. Von einem „Brauchen wir nicht“ vor anderthalb Jahren sei er angesichts der hoch ansteckenden, aggressiven Delta-Variante zu einem „Muss doch sein“ gelangt. Zwar gebe es zurzeit politisch „keine Chance für eine allgemeine Impfpflicht, aber wenn wir es mit drastisch gefährlicheren Varianten zu tun bekommen, müssen wir da nochmal ran.“

Mallorca-Affäre: „Die Öffentlichkeit wurde an der Nase herumgeführt.“

Doppelte Standards? Ein übermoralisches Auftreten? Thomas Kutschaty weist beides für den Umgang der SPD mit der sogenannten Mallorca-Affäre der Landesregierung weit von sich. Dass er als NRW-Justizminister die Urlaubsvertretung für andere Kabinettsmitglieder übernommen hätte und gleichzeitig für ein Wochenende ins Ausland geflogen wäre, wie die amtierende Bauministerin Ina Scharrenbach das im Juli 2021 getan hatte, das wäre „zu meiner Zeit unvorstellbar“ gewesen.

Hätte er sich so etwas in den Kopf gesetzt, hätte ihm die damalige Regierungschefin Hannelore Kraft (SPD) jedenfalls ganz gehörig eben diesen Kopf gewaschen. Dass Kraft selbst nach einem Unwetter im Münsterland im Juli 2014 an ihrem Urlaubsort zeitweilig nicht erreichbar gewesen sei (Funkloch-Affäre), lässt Kutschaty als Einwand nicht gelten. „Wollen Sie das wirklich vergleichen mit der Situation der Flutkatastrophe mit 49 Toten in Nordrhein-Westfalen?“

Der Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe 2021 verfolge zwei zentrale Erkenntnis-Interessen: Warum wurde am 14. Juli nicht rechtzeitig gewarnt? Und wie war die Hilfe direkt nach der Katastrophe organisiert? Antworten auf diese Fragen sei die Politik den Opfern und ihren Angehörigen schuldig. Weitergehende Überlegungen, etwa zur Verbesserung des Katastrophenschutzes, seien dann aber besser in einer Enquete-Kommission des Landtags aufgehoben – eine Sache für die nächste Legislaturperiode.

Aktuell nimmt der Oppositionsführer im Landtag insbesondere Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und weitere Kabinettsmitglieder ins Visier: Wer wusste wann darüber Bescheid, dass die „Erzählung“ der am 7. April zurückgetretenen Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) zur Dauer ihres Urlaubsaufenthalts auf Mallorca im Juli 2021 nicht den Tatsachen entsprach? Zwei Minister (Scharrenbach und Europaminister Stephan Holthoff-Pförtner) sowie eine Staatssekretärin (Serap Güler) hätten die Berichte vernommen, „und keiner kommt auf die Idee, das mal aufzuklären“. Alle drei seien als Gäste Heinen-Essers Zeugen dafür gewesen, dass deren Angaben nicht stimmten. Die Öffentlichkeit sei an der Nase herumgeführt worden, schimpft Kutschaty. Und das sei „leider noch längst nicht aufgeklärt“, was aber schnell geschehen müsse.

Auch Wüst müsse endlich sagen, wann er von den tatsächlichen Abläufen und der Geburtstagsfeier von Heinen-Essers Mann mit Teilnahme der Kabinettsmitglieder erfahren habe. „Ich weiß nicht, warum die Regierung sich so herumdrückt“, behauptet Kutschaty. „Es kommt auf die Glaubwürdigkeit der Politik an.“

Verkehr: „Man braucht breite Schultern und ein dickes Kreuz.“

Als Regierungschef würde Kutschaty sich für einen deutlichen Ausbau des Radwege-Netzes einsetzen. Der Radverkehr sei ein entscheidender Baustein für die Verkehrswende, die im Kern nicht darin bestehe, beim Auto den Verbrenner- durch einen Elektromotor zu ersetzen. Kutschaty schließt sich der Projektion der „Kampagne 25 Prozent“ an, die sich verschiedene Großstädte – unter ihnen Kutschatys Heimatstadt Essen – zu eigen gemach haben: Bis 2035 soll sich das gesamte Verkehrsaufkommen zu je einem Viertel auf Wege mit dem Pkw, mit Bussen und Bahnen, dem Rad sowie auf zu Fuß zurückgelegte Strecken verteilen.

Für die Stärkung des Radwege-Netzes brauche man „breite Schultern und ein dickes Kreuz“, räumt Kutschaty ein. Nicht jedem gefalle es, wenn auf Durchfahrtstraßen in Großstädten von vier Fahrstreifen für den Pkw- und Lkw-Verkehr künftig zwei Streifen an Radler gingen. Das müsse mit den Bürgerinnen und Bürgern intensiv besprochen werden. „In Düsseldorf hat das schon zu Wahlkatastrophen geführt“, sagt Kutschaty in Anspielung auf die Niederlage seines Parteifreunds, des früheren Oberbürgermeisters Thomas Geisel, in der OB-Wahl 2020.

Das Neun-Euro-Ticket für Bahnen und Busse zur Entlastung der Menschen angesichts massiv steigender Energiepreise werde man nicht auf Dauer stellen können. Da ist Kutschaty klar. Man müsse die Erfahrungen mit dem Drei-Monats-Angebot gründlich auswerten und insbesondere schauen, ob es tatsächlich zu einem Umstieg auf den ÖPNV führe oder doch vornehmlich nur Mitnahme-Effekte bei den Bestandskunden habe.

Das könnte Sie auch interessieren:

Priorität in der Preispolitik für den ÖPNV haben für Kutschaty nach eigenen Worten kostenlose Tickets für Schülerinnen und Schüler. Das stärke die Möglichkeiten der Teilhabe und sei „auch eine soziale Frage“. Für den Transfer am Morgen sei es ohnehin „nicht so toll, dass immer die dicken SUV vor den Schulen stehen.“

Perspektivisch will der SPD-Mann die Fahrpreise für Bahnen und Busse senken. „Das nutzt aber nichts, wenn kein Angebot da ist“, sagt Kutschaty mit Blick auf das löchrige oder weitmaschige Netz des ÖPNV insbesondere im ländlichen Raum. Und die Finanzierung? „Reden wir mal im Herbst darüber!“

Flugverkehr: „Das ist doch irrsinnig.“

Mit höheren Steuern und Abgaben insbesondere auf innerdeutsche Flüge will Kutschaty eine Lenkungswirkung für die Verkehrsströme erreichen. Es sei „doch irrsinnig, wenn das Flugzeug auf der Strecke Köln oder Düsseldorf nach Berlin billiger ist als die Deutsche Bahn“. Auch dürfe es nicht sein, dass ein Flug nach Mallorca weniger kostet als der Zug von Düsseldorf nach Hamburg.

Er selbst sei innerdeutsch „zu 95 Prozent mit der Bahn“ unterwegs, was auch an der Nutzung einer Bahncard 100 liege, erklärt Kutschaty, will aber nicht ausschließen, dass er aus Termingründen in den vergangenen fünf Jahren auch „drei, vier Mal nach Berlin geflogen“ sei. Mit dem weitab vom Zentrum gelegenen neuen Flughafen Berlin-Schönefeld sei das aber ohnehin nicht zu empfehlen, fügt er hinzu.

„Es müssen noch welche dableiben, die die Kirche besser machen wollen.“

Kutschaty, katholisch getauft und erzogen, bezeichnet sich bis heute als „durchaus gläubig“. Bevor er zu den Jusos ging, war er in der Pfarrjugend aktiv. „Der Unterschied ist gar nicht so groß, wie man so denkt“, sagt er rückblickend. Sowohl in der Kirche als auch in der SPD-Jugend zählten Gemeinschaft, Wertschätzung, Respekt und die Erfahrung, „Teil von etwas Gutem zu sein“. Zudem habe er soziale Unterschiede hier wie da nicht als trennend wahrgenommen. „Wir waren einfach Kumpels.“

Was derzeit in seiner Kirche vor Ort passiere, das treibe ihn um. „Es beschäftigt mich, besorgt mich und ärgert mich auch verdammt, wie mit dieser großen Last umgegangen worden ist“, sagt Kutschaty mit Blick auf den Missbrauchsskandal. Da sei „ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen konnte“. Die Konsequenz, die viele ziehen, der Kirchenaustritt, komme für ihn nicht infrage. Er bezweifelt zudem, dass dies der richtige Schritt sei. „Es müssen noch welche dableiben, die die Kirche besser machen wollen.“

Lehrerbesoldung: „Ich mag das nicht mehr erklären.“

Das Ziel gleicher Besoldung von Lehrkräften aller Schultypen will Kutschaty zum Schuljahr 2023/24 verwirklichen. Im laufenden Jahr werde das nicht mehr klappen. Dann aber müsse diese Angleichung kommen. Er „mag nicht mehr erklären“, dass Grundschullehrerinnen und -lehrer mit gleicher Ausbildung wie ihre Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel an Gymnasien nicht auch gleiches Geld bekommen, sagt Kutschaty. Die Anforderungen an Mathe-Unterricht für Viertklässler oder Erdkunde-Unterricht in der Oberstufe unterschieden sich jedenfalls nicht so sehr, als dass sich das Einkommensgefälle länger rechtfertigen ließe. Es einzuebnen, sei „ein Gebot der Gerechtigkeit“.

KStA abonnieren