„Die späte Rache aus Brilon“Ein Besuch in Heimat und Vergangenheit von Friedrich Merz

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Friedrich Merz bei einer Pressekonferenz.

Friedrich Merz bei einer Pressekonferenz.

Brilon – Mittagszeit in Brilon. Nur ab und an eilt jemand über den mittelalterlichen Marktplatz. Die Plätze vor den Gasthäusern sind nur spärlich besetzt. Hier also heizte Anfang der 1970er Jahre ein junger Mann, schulterlanges Haar, wildes Hirn, mit einem frisierten Weltkriegsmotorrad quer über den Platz zur Frittenbude. Einen Schnellimbiss gibt es auch heute noch in Brilon. Zwei Frauen Mitte 50 stehen enttäuscht davor, denn der Laden hat zu. Und Friedrich Merz, den Draufgänger von damals, den Mann, über den derzeit ganz Deutschland spricht, kennen sie auch nicht. „Nee, sagt mir nichts“, erklärt die eine. „Die Parteien machen doch sowieso nicht, was wir wollen“, fügt die andere hinzu. „Deshalb gehen wir auch erst gar nicht wählen.“

Brilon - Eine heile Welt

Wer Merz verstehen will, muss seine Heimat verstehen. Der Politiker, der im Dezember Angela Merkel als CDU-Parteivorsitzender beerben will, ist in Brilon aufgewachsen und zur Schule gegangen – einer wirtschaftlich prosperierenden Stadt im Hochsauerland. Die Arbeitslosenquote liegt bei 2,5 Prozent. Maschinenbau, Holzverarbeitung und Tourismus sorgen nahezu für Vollbeschäftigung. Heile Welt also.

Der Mittelstand ist hier das Rückgrat des Lebens. Die Stadtkasse ist gut gefüllt. Man kann sich sogar noch ein kommunales Krankenhaus leisten, das „Maria hilf“.

Sogar den demografischen Wandel habe man einigermaßen im Griff, erzählen Politiker im Rathaus aus dem Jahr 1250. Viele junge Menschen könnten im Ort gehalten werden. Natürlich gebe es auch Veränderungen. Der Priester kommt aus einer anderen Gemeinde, und die Kirche am Markt wird gerade renoviert, ein riesiges Gerüst klettert fast bis hinauf zur Turmspitze. Der jetzige Bürgermeister Christof Bartsch gilt als Mann des Ausgleichs. Die Bürgermeister der vergangenen 20 Jahre stellte alle die SPD. Das Verhältnis zwischen SPD und CDU gilt dennoch als gut. Aber damit könne es bald vorbei sein, wenn Friedrich Merz die große CDU anführt, glaubt SPD-Ratsmitglied Hubertus Weber. Und irgendwie scheint er sich darauf zu freuen.

Das Rathaus und die „Sprüche von damals“

Viele in der CDU wünschen sich zurück in die Zeit von Helmut Kohl, dem Kanzler der Einheit, als der politische Gegner eindeutig zu identifizieren war und man klare Kante sprechen konnte. Und wer beherrscht das Prinzip der klaren Kante besser als eben jener Friedrich Merz, der sagte, dass eine Steuererklärung auf einen Bierdeckel passen müsse? Dass der Steuerexperte aus Brilon austeilen kann, wissen auch die Genossen in der 26.000 Einwohner großen Stadt, die im östlichen Sauerland liegt. Und so ganz vergessen wollen sie es bis heute nicht, was er im Jahr 2004 in ihre Richtung geäußert hatte.

Als der SPD-Mann Franz Schrewe im Rathaus das Sagen hatte, erklärte Merz, ihn „packe das Grausen“, weil ein SPD-Mann als Bürgermeister in dem Gebäude sitze, wo bis 1937 sein Großvater Josef Paul Sauvigny das Sagen gehabt habe. Dass er dann noch zum Sturm „auf das rote Rathaus“ aufgerufen hatte, nehmen ihm die SPD-Politiker bis heute übel, denn so hätten sich ja auch die Nazis über Rathäuser geäußert, in denen SPD-Bürgermeister saßen, so die Genossen. „Außerdem wird ein Mann, der bis 1937 Bürgermeister dieser Stadt gewesen ist, mit Sicherheit nicht nur ein Mitläufer gewesen sein“, glaubt das SPD-Ratsmitglied Hubertus Weber.

Er wolle Merz nicht für die Handlungen seines Großvaters verantwortlich machen, „aber so etwas wie solche Sprüche von damals sollte er sich schon sparen“. Die alte Gegnerschaft mit der SPD, von der Merz zurzeit gerne spricht, ist hier hautnah zu spüren. Das elektrisiert manchen in der CDU. SPD-Mann Weber glaubt, dass die CDU in Brilon durch die Merz-Kandidatur geradezu euphorisiert sei. „Es ist ja fast so, als wäre nun der Heiland emporgestiegen“, sagt er.

„Auto fahren konnte in jener Nacht keiner mehr“

Den Auftritt von Merz auf dem Kreisparteitag in Arnsberg verfolgte fast die gesamte deutsche Medienlandschaft. Auf Tagesordnungspunkt 13 stand der Vorzeigepolitiker aus dem Sauerland. Die Parteikollegen strahlen an dem Tag um die Wette, Merz muss zahlreiche Hände schütteln und schreitet als der große Hoffnungsträger mitten durch den Saal mit 500 Gästen. „Glaube – Sitte – Heimat“, auf diesen Schriftzug blickt Merz, als er in seiner Rede betont, kein Anti-Merkel sein zu wollen. Die AfD rückt er in die Nähe der Nationalsozialisten. Ihre Wählerzahl will er halbieren und seine Partei wieder an die 40-Prozent-Marke führen. Das kommt an. Der Applaus ist groß.

„Ein Kanzler aus Brilon“, sagt Karin Bange, „das hat doch was“. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU in Brilon kennt Merz noch aus ihren Anfangszeiten in der Jungen Union. Merz war da schon auf dem Sprung in eine größere Karriere. „Der Wahlkampf um die Kandidatur für den Bundestag war damals ziemlich knapp“, erinnert sie sich an das Jahr 1994, als Merz sich mit hauchdünner Mehrheit gegen den parteiinternen Konkurrenten durchsetzte. „Wer weiß“, sagt sie, „wenn er es damals nicht geschafft hätte, würde heute möglicherweise niemand Friedrich Merz kennen.“ Am Abend vor der Abstimmung der CDU-Leute habe es damals noch eine Party gegeben, „Auto fahren konnte in jener Nacht keiner mehr“, abgestimmt wurde dennoch. Sehr spannend sei dies gewesen.

Merz, der damals bereits Abgeordneter im Europaparlament war, setzte sich durch und seine Karriere bekam den Schwung, der ihn in Deutschland bekanntmachen sollte. Der Friedrich sei aber einer, der bodenständig geblieben sei, findet Bange. Wenn er in Brilon auf dem Platz der Schützengemeinschaft sei, würde sie immer noch ein Bierchen mit ihm trinken. „Nötig hat er das ja nicht“, sagt sie über seine Kandidatur um den CDU-Vorsitz, schließlich habe Merz sehr gut verdient in den letzten Jahren. Dass er mehr als nur den Vorsitz der CDU anstreben würde, sei ihr klar: „Warum sollte er sich das antun, jetzt nur noch mal vor den eigenen Leuten vorzutanzen?“ Der gebürtige Briloner wolle Kanzler werden, ist sie sich sicher. „Und das Zeug dazu hat er.“

Mittlerweile lebt Merz in Arnsberg. Mit seiner Frau, einer Richterin, hat er drei Kinder. Er besitzt zwei Flugzeuge, die er leidenschaftlich putzt. Fliegen ist hier keine schlechte Sache. Denn Arnsberg ist genauso schwer zu erreichen wie Brilon.

„Rücksicht auf andere Schüler in der Klasse hat er nicht genommen“

In den letzten Jahre saß er unter anderem im Aufsichtsrat von Black-Rock, dem größten Vermögensverwalter der Welt. Die von dem Unternehmen bewegten Vermögen sollen bei sechs Billionen Dollar liegen. Mehr als das Haushaltsbudget der USA, Großbritanniens und Deutschlands zusammen. Mittlerweile ist Merz auch Aufsichtsratschef des Köln/Bonner Flughafens und Brexit-Beauftragter der NRW-Landesregierung. Er verdiene im Jahr eine Million Euro, sagt er der „Bild am Sonntag“.

Am Marktplatz steht das großzügig gebaute und eindrucksvolle Haus seines Großvaters Sauvigny. Heute lebt unter anderem ein Cousin von ihm darin. Aufgewachsen ist Friedrich Merz jedoch in einem konservativen Richterhaushalt, erzählen seine Mitschüler. Sein Vater, früher Direktor des Amtsgerichts, ist noch heute als 90-Jähriger eine geachtete Persönlichkeit der Stadt. Das Haus steht in einem attraktiven Wohnviertel mit Bauten, die Wohlstand ausdrücken. Dass Merz mit schulterlangem Haar von hier aus zur Pommesbude gerattert sein will, wie er in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ erzählt hat, gehört nach den Worten eines ehemaligen Mitschülers ins Reich der Legenden. Das Weltkriegsmotorrad hätten er und seine Freunde damals doch kaum zum Laufen gebracht, erzählen sie. Und die Haare? Die seien höchstens „Ohrläppchenlang“ gewesen.

Eine Mitschülerin vom Briloner Gymnasium Petrinum berichtet, der Friedrich sei ein Störenfried im Unterricht gewesen. „Rücksicht auf andere Schüler in der Klasse hat er nicht genommen“, erinnert sie sich. Schließlich habe er ja auch die Schule verlassen müssen. „Er war nicht mehr tragbar.“ Damals habe ihm seine Mutter die Schulkarriere und womöglich sogar die des späteren Politikers gerettet, erzählte Merz selbst einmal. Denn Vater Merz war so sauer auf seinen Sohn, dass er ihn eine Maurerlehre machen lassen wollte. In Rüthen lief es besser, auf dem Gymnasium mit angeschlossenem Internat bekam er eine neue Chance. Während viele seiner Klassenkameraden nur am Wochenende nach Hause konnten, fuhr er mittags zurück nach Brilon. Er wurde Klassensprecher und machte das Abitur, er war bekannt für ein selbstbewusstes Auftreten, erinnert sich der damalige Mitschüler Elmar Stamm.

Vom Vater stark geprägt

Friedrich sei sehr vom Vater geprägt gewesen, glaubt die einstige Mitschülerin aus Brilon. „Er hat ihm früh beigebracht, wo es langgeht.“ Vater Merz nahm seinen Filius mit zu politischen Veranstaltungen. Dazu zählte 1972 die Teilnahme an einem Auftritt des damaligen CDU-Kanzlerkandidaten Reiner Barzel in der Kur- und Konzerthalle Olsberg. Vater Merz habe Barzel quer durch den Saal gefragt: „Herr Barzel, fühlen Sie sich auch physisch in der Lage, Kanzler zu werden?“ Sohn Friedrich habe daneben gestanden und geschwiegen. „Das war damals eigentlich unerhört“, sagt sie.

Die Mitschülerin hat seine Kandidatur um den Parteivorsitz der CDU nicht überrascht. „Dass Angela Merkel ihm 2002 den Fraktionsvorsitz genommen hat, hat er nicht verwunden“, glaubt sie. „Das ist die späte Rache aus Brilon.“

Zur Person

Friedrich Merz wurde am 11. November 1955 in Brilon im Sauerland geboren. Nach seinem Abitur 1975 studierte er in Bonn Jura. 1989 wurde er ins Europaparlament gewählt. Bundestagsabgeordneter war er von 1994 bis 2009. Friedrich Merz ist oder war Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Aufsichtsräten. Dazu zählen die AXA Konzern AG, Blackrock, DBV-Winterthur Holding AG. Seit 2017 ist er Aufsichtsratsvorsitzender des Flughafens Köln/Bonn.

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