Corona-GenerationenEs ist für uns Älteren an der Zeit, uns bei der Jugend zu bedanken

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Kolumne Jugend

Ein Jahr lang war das die Realität für junge Menschen: Zu Hause bleiben und durch Fenster blicken.

Ich versuche mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn eine solche Pandemie über die Welt hereingebrochen wäre in der Zeit, als ich jung war. Sagen wir Mitte der 1970er-Jahre auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, als die Haare lang waren und die Zukunftsgedanken kurz. Den Generationen unserer Eltern und Großeltern begegneten wir, unabhängig von Familienliebe, mit einer Mischung aus Verachtung, Skepsis und Gleichgültigkeit. Der Sommer der Liebe war dem deutschen Herbst gewichen. Die wichtigen Kämpfe waren noch nicht ausgefochten.

Freundeskreise, Drogen und Sex

Meine Mama hatte eineinhalb Jahrzehnte lang vor allem deshalb eine unmögliche Ehe ertragen, weil sie alleinerziehend mit zwei Kindern kaum geschützt vom Staat finanziell ziemlich am Ende gewesen wäre. Jungs mussten zur Bundeswehr, wenn sie nicht eine lächerliche Gewissensprüfung über sich ergehen lassen wollten, in der man beteuern musste, als Augenzeuge der Vergewaltigung seiner Schwester ohne physisches Eingreifen beiwohnen zu würden, als Ausdruck eines glaubhaften Pazifismus‘.

Es war eine andere Zeit. Für viele junge Menschen war es wichtig, sich sehr deutlich von den Älteren und ihrer Welt der alten Werte abzugrenzen. Wichtig waren eine politische Haltung, die richtige Musik, große Freundeskreise, Rauschmittel und Sex.

Ich stelle mir jetzt vor, ein Sars-Covid77 hätte in dieser Zeit die Welt heimgesucht. Und die Politiker als Vertreter der älteren Generationen hätten uns befohlen, mitsamt unseres bescheuerten Lebensgefühls einfach alleine zuhause zu bleiben. Keine Partys, keine Joints, keine Diskussionsgruppen, keine politischen Willensäußerungen. Nicht mal Schule. Wie hätten wir reagiert?

Drohungen der Älteren als Bestätigung für Freiheitssinn

Es ist unmöglich, diesen Gedanken in Einzelheiten zu Ende zu denken, weil es eine präglobalisierte Welt ohne durchgehend Grenzen, Internet, Smartphone und soziale Medien war. Etwas in mir, der weder besonders radikal, noch hedonistisch, noch drogenaffin war, will dennoch behaupten: Das hätten wir uns nicht so einfach gefallen lassen. Zwei bis drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätte eine staatliche Verordnung, die dem Individuum im Sinn eines erst einmal schwer greifbaren Gemeinwohls viele seiner Freiheitsrechte nimmt, eine andere psychologische Wirkung gehabt als heute.

Drohungen der Älteren, auch moralische, waren die Bestätigung dafür, dass man als junger Mensch auf dem rechten Weg war. Es hätte womöglich lange gedauert und noch mehr Tote erfordert als heute, bis sich die pandemische Notwendigkeit gegen diesen Reflex durchgesetzt hätte. Man wird das nicht in die Vergangenheit hochrechnen können. Darum geht es auch nicht. Ich glaube jedoch, dass Menschen, die damals jung waren, den heute jungen Menschen nicht mit Selbstgerechtigkeit und Hoffart begegnen sollten, nur weil deren Lebensgefühl sie hin und wieder aus der Isolation treibt.

Jugend hat andere Bedürfnisse als andere Generationen

Ich denke, die heute jungen Menschen verhalten sich unglaublich verantwortungsbewusst. Sie leben in einer anderen Zeit als wir damals, mit der Möglichkeit, sich in eine digitale Realität zu retten, aber sie leben nicht in anderen Körpern. Junge Menschen wollen bei jungen Menschen sein, sie brauchen physische und psychische Nähe, sie brauchen das Gefühl von Freiheit und das Recht, Grenzen zu übertreten. 

Ihre psychischen und physischen Bedürfnisse passen noch weniger in ein Pandemie-Gesetz als die der Erwachsenen und können nicht über Monate hinweg außer Kraft gesetzt werden. Deshalb ist meine Achtung davor groß, wie sie das jetzt über ein Jahr lang ausgehalten haben, obwohl das heimtückische Virus sie als Gruppe nicht mit dem Leben bedroht hat. 

Das Verschwinden der physischen sozialen Plattformen Schule und Universität alleine war und ist eine Katastrophe für das Leben junger Menschen, denen lange Zeit nur erlaubt war, einen einzigen Menschen zu treffen, der nicht zum eigenen Hausstand gehört. Für mich als 16 jährigen hätte das bedeutet, die häusliche Hölle einer gescheiterten Ehe im Endstadium kaum mehr entfliehen zu können.

Blockwartdenken der Älteren ist nicht angemessen

Nicht mehr viermal pro Woche zum Leichtathletik-Verein, kein Klarinettenunterricht mehr, keine Abendspaziergänge mit den besten Freunden, keine Luftgitarren-Konzerte im legendären Partykeller des Markus Z., kein Warten auf die aktuell Angebetete nach Schulschluss. Nur zuhause sitzen und miterleben, wie die Eltern sich hassen.

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An dieser Stelle mag ich nicht weiterdenken. Ich glaube, dass wir „Verantwortungsbewussten“ lange in einem Blockwartdenken gefangen waren, das sich beim Anblick eines gefüllten Stadtparkes empörte, obwohl alle Gruppen in der frischen Luft genügend Abstand zueinander hielten; das Individuen abzuzählen begann, wenn auf der Parkbank am Rhein eine Gruppe offensichtlich junger Menschen gemeinsam schwatzten und rauchten; das voraussetzt, dass sich alle monatelang so gut sozial totstellen können wie wir, die selbst nicht mehr jung sind, erwachsene Kinder haben, in einer materiellen Sicherheit leben, die uns bis ans Ende der Krise trägt und nicht zufällig in einen Menschen verliebt sind, der in einem anderen Hausstand lebt.

Ich bin sehr froh, dass mich persönlich diese Krise genau jetzt trifft und nicht vor fünf Jahren, vor 15 Jahren oder in der Zeit getroffen hat, als ich ein Teenager voller Hormone und ungelebter Fantasien war. Ich glaube, wir werden uns jetzt, am absehbaren Ende der Krise, bei den jungen Generationen dafür bedanken müssen, dass sie sich von der Pandemie ein Jahr ihrer Jugend haben stehlen lassen und dabei im Großen und Ganzen so einsichtig geblieben sind. Ich bin mir sicher, dass wir das damals nicht so hinbekommen hätten. 

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