„Ein einziger Hohn“Wissenschaftler fordern erneut schnelles Handeln gegen Corona

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Symbolbild

Köln – Unmittelbar vor den Beratungen des Bundestags über weitere Schritte im Kampf gegen die Corona-Pandemie haben führende deutsche Wissenschaftler ihren Appell zu sofortigem Handeln bekräftigt. Dem am vorigen Wochenende im „Kölner Stadt-Anzeiger“ veröffentlichten Appell von 35 Intensivmedizinern, Virologen und Vertretern weiterer Disziplinen haben sich inzwischen etwa 300 Fachleute angeschlossen, unter ihnen die Präsidenten mehrerer Universitäten.

Die Unterstützer hätten sich am Sonntag „im Minutentakt“ gemeldet, berichtete der Dortmunder Physiker Matthias Schneider im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Zivilgesellschaftlich wird die Aktion auch von Petitionen unterstützt. Eine von ihnen wurde bislang mehr als 40 000 Mal unterschrieben. Aus dem politischen Raum wurde der Appell der Forscher unter anderem von der Grünen-Spitzenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt aufgegriffen, die sich der Forderung der Wissenschaftler nach einem interdisziplinären Pandemierat anschloss.

Demgegenüber zeigte sich der Kölner Intensivmediziner Christian Karagiannidis entsetzt über abwiegelnde Reaktionen der Politik. Offensichtlich habe der Appell nichts genutzt. „Die Politik hört immer noch nicht ausreichend zu oder setzt es nicht zeitnah um.“ Es sei ein „einziger Hohn“, dass politisch Verantwortliche wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) immer noch so täten, als hätte die vierte Welle alle überrascht. Alle wissenschaftlichen Modelle zum Pandemieverlauf aus dem Sommer seien 1:1 eingetreten.

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Intensivstationen geraten an ihre Grenzen

Inzwischen gerate die Intensivmedizin in Deutschland an ihre regulären Grenzen, auch weil aus Personalmangel 3000 Intensivbetten weniger verfügbar seien als in der dritten Welle. Auch bei einem weiteren nur linearen Anstieg der Patientenzahlen seien die Kliniken in Großstädten wie München und Regensburg „nächste Woche voll“. Wenn der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) den Ärzten vorwerfe, dass Pflegekräfte ihren Job aufgäben, sei das ein „nicht nachvollziehbarer Angriff auf den Berufsstand“.

Karagiannidis versicherte, die Medizin werde ihr Möglichstes tun, die Patientenversorgung sicherzustellen. „Wir werden schon jedem ein Bett geben können, aber womöglich ohne für die Intensivmedizin qualifizierte Pflegekräfte.“ Er verglich die Situation mit einem Flugzeug, in dem man einen Bahn-Lokführer ans Steuer setze. Das sei auch eine reale Gefahr für die Stabilität der Demokratie. „Wenn die Leute merken, die Krankenhäuser schaffen es nicht mehr, droht auch gesellschaftlich eine Katastrophe.“

Jede Welle zwingt die Gesellschaft in die Knie

Die Hamburger Politologin Elvira Rosert sagte, das Virus zwinge die Gesellschaft von Welle zu Welle weiter in die Knie. Die Entwicklung der Pandemie sei „mit dem bloßen Auge erkennbar gewesen“. Nun werde gesellschaftlich die Gefahr des Zusammenbruchs immer realistischer. „Es ist höchste Zeit zu handeln.“ Die Freiheit der Gesellschaft werde nicht etwa durch die Impfkampagne bedroht, „sondern durch das Nichthandeln der Politik“.

Der Berliner Physiker Dirk Brockmann verstärkte vor diesem Hintergrund den Aufruf an die Politik zu schnellem Handeln. Geschwindigkeit und Pragmatismus im Handeln seien wichtiger als Perfektion.

„Junge Menschen sterben vor unseren Augen“

Der Internist Michael Hallek von der Uniklinik Köln nannte es eine zynische Strategie, die Dinge weiterlaufen zu lassen, bis die Intensivstationen an ihre Grenzen kämen. „Jeder einzelne Patient auf der Intensivstation leidet schrecklich, und es sterben viele junge Menschen vor unseren Augen.“ Er erlebe jetzt auf der Intensivstation „jeden Tag junge Menschen, die sich selbst kurz vor der Beatmung noch nicht vorstellen konnten, jemals so schwer an Covid-19 zu erkranken und womöglich sterben zu müssen“.

Das Problem, so der Bonner Politologe Maximilian Mayer, sei das Fehlen eines „kommunikativ einheitlichen Signals“ der Politik, „in welcher Gefahr wir uns befinden“. Das mache die gegenwärtige Lage noch schlimmer als in der ersten und zweiten Welle, die letztlich durch das einsichtige Verhalten der Bürgerinnen und Bürger gebrochen worden sei.

Ende der Notlage „fatales Signal“

Es sei im Gegenteil ein fatales Signal, dass die künftigen Koalitionäre in Berlin die Feststellung einer „epidemischen Notlage von nationaler Tragweite“ beenden wollten. Auch politisch-organisatorisch sei dieser Schritt falsch, fügte Mayer hinzu. Das als Ersatz geplante neue Gesetz der Parlamentsmehrheit aus SPD, Grünen und FDP verlagere die Pandemiebekämpfung komplett auf die Ebene der Länder und Kommunen.

„Das kommt einer Sabotage des Pandemie-Managements gleich. Der Bund entledigt sich damit seiner Verantwortung, bei deren Wahrnehmung die Länder in den vergangenen zwei Jahren immer hinterher gehinkt und die Gesundheitsämter in den Kommunen momentan hoffnungslos überfordert sind“, so Mayer.

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Der Wissenschaftler schlug auch ein „deutliches Anerkennungssignal“ in Richtung der Pflegeberufe vor. „Sofort fünfmal Weihnachtsgeld auszubezahlen“, wäre ein wichtiges Zeichen. Mittelfristig müsse die künftige Koalition das seit langem gegebene Versprechen der Politik einlösen, die Arbeitsbedingungen in den medizinischen Berufen zu verbessern. „Sonst trocknet das Gesundheitssystem aus“, sagte Mayer.

Impfkampagne soll mit allen Mitteln gepusht werden

In der Pandemiebekämpfung müssten alle Register gezogen werden. Darin war sich die Gruppe einig. Die Wissenschaft sei hier „kristallklar“. Zu den sinnvollen Maßnahmen zählte die Gruppe eine flächendeckende 2G-Regelung für öffentlich zugängliche Räume. Frankreich habe das Infektionsgeschehen damit erfolgreich bekämpft. Eine flächendeckende 2G-Regelung würde den R-Wert – er gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierter ansteckt – um 0,2 Punkte auf den Wert von 1,0 senken. „Damit wäre die Situation in einer Stadt wie Köln unter Kontrolle – aber nicht in Ländern mit höherer Inzidenz“, rechnete Karagiannidis vor.

Auch die Impfkampagne sollte „mit allen Mitteln gepusht“ werden, um eine weitere Verschlimmerung des Pandemieverlaufs noch abzuwenden. Insbesondere müssten die Anstrengungen für die dritte Impfung, aber auch für die Erst- und Zweitimpfung, deutlich intensiviert werden, so Karagiannidis.

Melanie Brinkmann: Vor finsterem Winter

„Es ist falsch, aus Sorge vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft keinen größeren Druck auszuüben“, sagte die Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann.

„Wir überwinden die Spaltung, indem wir mit der Impfung alle auf einen gemeinsamen Schutzlevel kommen. Wenn wir nicht wollen, dass das Coronavirus unser Leben und das Leben der ganzen Gesellschaft weiter im Würgegriff hat, muss jetzt muss jetzt beherzt gehandelt werden“, so Brinkmann. „Schaffen wir das nicht, wird das ein langer und finsterer Winter.“

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