Gastbeitrag von Matthias HoeschWas die Philosophie zur Debatte um die Flüchtlinge beitragen kann

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Die Flüchtlingskrise wird auch im Jahr 2016 eines der bestimmenden Themen sein

Die Flüchtlingskrise wird auch im Jahr 2016 eines der bestimmenden Themen sein

Philosophen in Deutschland neigen dazu, aktuelle Probleme unter Rückgriff auf alte Meister zu diskutieren. Nicht anders in der Flüchtlingskrise. Allerdings haben die Größen der Philosophiegeschichte die moralischen Probleme, die mit Migration zusammenhängen, erstaunlicherweise ignoriert - und das, obwohl Aus- und Einwanderung keineswegs neue Phänomene sind. Migrationsethik ist in der klassischen Philosophie quasi nicht vorhanden. Die wichtigste Ausnahme stellt Immanuel Kant (1724-1804) dar. In der schon damals europaweit berühmt gewordenen Schrift "Zum ewigen Frieden" stellt der Königsberger Philosoph 1795 die These auf, ein Fremder dürfe nur abgewiesen werden, wenn dies "ohne seinen Untergang geschehen kann". Der "Untergang" ist dabei vor allem wortwörtlich zu verstehen: Kant bezieht sich auf Schiffbrüchige, die abzuweisen bedeuten würde, ihnen jede Möglichkeit abzustreiten, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Dieses "Asylrecht" findet sich im Rahmen einer für seine Zeit neuartigen Rechtsdimension, des Weltbürgerrechts. Mit diesem erweitert Kant die klassischen Rechtsbereiche, das Staatsrecht und das Völkerrecht, um einen dritten: Menschen seien nicht nur qua ihrer Staatsbürgerschaft Bürgerrechte anzuerkennen, sondern sie seien zugleich als Weltbürger, als Teil eines gedachten "allgemeinen Menschenstaats" anzusehen. Als solche hätten sie direkte Ansprüche gegenüber der Gesamtheit aller Menschen, die sich nicht in die klassische Konzeption des Völkerrechts einpassen ließen, welches lediglich Beziehungen zwischen Staaten regelt.

Wichtige Ausnahme: Die Notlage

Inhaltlich umfasst das Weltbürgerrecht ein "Besuchsrecht", also das Recht, mit Fremden in Kontakt zu treten, ohne deshalb von diesen feindselig behandelt zu werden. Ausdrücklich nicht gedeckt wäre ein pauschaler Anspruch, sich auf fremdem Gebiet ohne Zustimmung der dortigen Bewohner niederzulassen. Der oben zitierte Asylanspruch bildet nun die wichtige Ausnahme, bei der aufgrund einer Notlage das Besuchsrecht zu einem Bleiberecht wird. Kant betont, dass solche weltbürgerlichen Ansprüche nicht an den moralischen Großmut möglicher Hilfesteller appellieren müssen, sondern einforderbare Rechte darstellen. Weshalb sollte dem Weltbürgerrecht und insbesondere dem Asylanspruch Gültigkeit zukommen? Kant verweist darauf, dass die Erde ursprünglich im Gemeinbesitz aller Menschen gestanden habe. Wenn nun Teile der Erdoberfläche Privatbesitz werden oder ein Territorium von einem Staat allein beansprucht wird, so könne das nur mit der Idee des ursprünglichen Gemeinbesitzes vereinbart werden, wenn sichergestellt sei, dass für jeden zumindest irgendein Platz zur Verfügung steht, an dem er sich aufhalten kann.

Kant nimmt somit in der Philosophiegeschichte eine Vorreiterrolle ein: Sowohl die Idee eines internationalen Menschenrechts, das unabhängig von nationalstaatlichen Institutionen wirksam ist, als auch die Idee eines Asylrechts haben später eine breite Anerkennung erfahren. Aber ist Kant auch heute noch aktuell, wenn es um die philosophische Begründung solcher Prinzipien geht?

Interationale Bewegungsfreiheit

So lange, wie die Philosophie über Migration geschwiegen hat, so plötzlich ist seit den 1980er Jahren - unter anderem angestoßen durch einen Aufsatz des Politiktheoretikers und Philosophen Joseph Carens - eine lebhafte internationale Debatte entstanden. Einige Anhänger des Liberalismus verteidigen eine allgemeine internationale Bewegungsfreiheit, die einen Menschenrechtsstatus bekommen sollte. Vertretern des Kosmopolitismus zufolge ist die Freiheit, sich frei einen Staat aussuchen zu können, eine Forderung der Chancengerechtigkeit, denn aktuell sei von Geburt an unzulässig stark vorgezeichnet, welche Lebenspläne verwirklicht werden können. Vertreter einer Theorie der Vereinigungsfreiheit verweisen dagegen auf das Recht einer jeden politischen Gemeinschaft, sich neue Mitglieder nach eigenem Belieben wählen zu dürfen.

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Ein weiteres Argument für "geschlossene" Grenzen sehen Kommunitaristen in der Gefahr des Untergangs nationaler Kulturen; für andere wäre das Funktionieren demokratischer Systeme bedroht, wenn es keine Migrationsbeschränkungen gäbe. Kontrovers diskutiert werden natürlich auch die ökonomischen Folgen offener Grenzen. Auch die Gegner "offener" Grenzen räumen in der Regel ein, dass Hilfspflichten gegenüber Notleidenden in bestimmten Fällen dazu führen, dass ein Bleibe-recht und auf Dauer der Staatsbürgerschaftsstatus nicht verweigert werden dürfen.

Überblickt man die aktuelle Debatte, wird man konstatieren müssen, dass sie aus guten Gründen weit über das hinausgeht, was Kant zur Migrationsethik beizusteuern hatte: Das starke Bevölkerungswachstum, das bedeutende Ungleichgewicht zwischen armen und reichen Staaten, der erweiterte Menschenrechtsschutz sowie die Entwicklung sozialstaatlicher Strukturen führen dazu, dass heute ganz anderen Aspekten eine normative Bedeutung zukommt.

Beanspruchen eines Territoriums

Dennoch findet sich bei Kant eine Idee, die die heutige Diskussion bereichern könnte: Kant weist zu Recht darauf hin, dass jede Migrationsbeschränkung nicht nur mit dem Ausschluss Fremder aus einer politischen Gemeinschaft verbunden ist, sondern auch mit dem exklusiven Beanspruchen eines Territoriums. Wenn aber aus moralischer Perspektive jeder Mensch gleichermaßen ein Anrecht auf die Erdkugel erheben kann, gibt es nicht nur eine abstrakte moralische Hilfspflicht, Notleidenden ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Vielmehr tut jeder Staat, der einen Teil der Erde exklusiv für sich beansprucht, nichts weiter als seine Schuldigkeit, wenn er eine angemessene Verantwortung gegenüber der Menschheit im Ganzen übernimmt.

Welche konkreten Pflichten sich aus dieser Verantwortung ergeben, ist mit vielen weiteren Fragen verbunden, die letztlich nur im Rahmen demokratischer Entscheidungsorgane beantwortet werden können. Aus der akademisch-philosophischen Debatte ergeben sich aus meiner Sicht aber zwei klare Schlussfolgerungen für die öffentliche Diskussion: Erstens sollten wir uns bewusst machen, dass Flüchtlingshilfe kein Akt moralischen Großmuts ist, sondern die angemessene Reaktion auf menschenrechtliche Ansprüche von Fremden. Zweitens gilt für fast alle westlichen Staaten, dass das Mindestmaß dessen, was aus moralischer Sicht zugunsten derer getan werden muss, die aus guten Gründen ihre Heimat verlassen müssen, bislang noch nicht erreicht ist.

Kant bezieht sich auf Schiffbrüchige, die keinen festen Boden mehr unter den Füßen haben. Weshalb soll dem Weltbürgerrecht und dem Asylrecht Gültigkeit zukommen?

Zur Person

Matthias Hoesch lehrt praktische Philosophie an der Universität Münster und ist Mitglied im Exzellenzcluster "Religion und Politik". Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die praktische Philosophie Kants und die politische Philosophie der Gegenwart. Eine Habilitationsschrift zum Zusammenhang von Territorialrechten und Migrationsethik ist in Vorbereitung. (ksta)

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