„Impfstoff wurde verbrannt“Kassenärzte kritisieren Stiko für ausgelöstes „Tohuwabohu“

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Astra Biontech Moderna (1)

Impfstoff von Astrazeneca (M.) Biontech (l.) und Moderna 

Düsseldorf – In dieser Deutlichkeit hat Frank Bergmann, Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, die Ständige Impfkommission (Stiko) noch nie kritisiert. Mit ihrer überraschenden Empfehlung, im Kampf gegen das Coronavirus voll auf die Kreuzimpfung aus Astrazeneca und Biontech zu setzen, habe sie in den 5000 Arztpraxen im Rheinland am vergangenen Donnerstag „ein Tohuwabohu“ ausgelöst.

„Damit wurde ein potenzieller Impfstoff mehr oder weniger verbrannt“, sagt Bergmann am Mittwoch bei einer Pressekonferenz. Aus medizinischer Sicht spreche nichts gegen diese Empfehlung. Dass die Stiko sie aber ohne Absprache mit den Hausärzten über Nacht kommuniziert habe, sei ein Desaster. „Die Arztpraxen haben die Verunsicherung der Patienten unmittelbar zu spüren bekommen.“

„Wir hätten am liebsten die Telefonleitungen durchgeschnitten“, sagt Dr. Carsten König, Hausarzt aus Düsseldorf. „90 Prozent der Patienten wollten schon am Freitag die Zweitimpfung mit Astrazeneca nicht mehr und haben nach Biontech verlangt.“ Weil die Praxen die Impfdosen für die kommende Kalenderwoche bis Dienstagmittag bestellen müssen, sei ein Umschwenken gar nicht möglich gewesen. „Wir mussten alle neue Termine vergeben“, sagt er. Seither spiele Astrazeneca als Impfstoff praktisch keine Rolle mehr.

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Wie entwickelt sich das Impfgeschehen in NRW?

Bei der Erstimpfungsquote liegt NRW liegt im bundesweiten Vergleich mit 59,5 Prozent auf Platz vier. Unter den Flächenländern ist das die beste Quote. Die Zweitimpfungsquote von 42,6 Prozent bedeutet bundesweit auf Platz zwei. 10,67 Millionen Menschen in NRW haben ihre erste Impfung erhalten. 7,65 Millionen den vollen Impfschutz. In den Arztpraxen werden mehr als 50 Prozent aller Impfungen vorgenommen. Bundesweit sind von den Praxen eine Million Impfdosen weniger bestellt worden als in der Vorwoche. Vor allem Astrazeneca wird immer weniger nachgefragt.

Wie steht es um die Verfügbarkeit von Impfstoff?

Die KV Nordrhein geht davon aus, dass spätestens Ende Juli alle Menschen in NRW ein Impfangebot erhalten haben. Impfdosen stünden in ausreichender Zahl zur Verfügung. In der vergangenen Woche hätten die Praxen bundesweit nur 30 Prozent der verfügbaren Menge Astrazeneca abgerufen, selbst beim immer stark nachgefragten Impfstoff von Biontech seien es nur 92 Prozent gewesen, so Daten-Analyst Christoph Potempa. Das sei noch vor der Empfehlung der Stiko für die Kreuzimpfung gewesen. Der Bedarf an Biontech werde also wieder steigen. Das Impftempo werde sich insgesamt aber verlangsamen.

Warum ist das so?

„Die Impfmüdigkeit wird zunehmen“, so Potempa. In Zeiten niedriger Inzidenzen sinke die Impfbereitschaft. Die Sommerferien und die Urlaubszeit werden diesen Effekt verstärken. „Das betrifft sowohl die Patienten als auch die Arztseite“,so Potempa Auch die Empfehlung der Stiko für die Kreuzimpfung werde sich zumindest auf das Tempo bei den Erstimpfungen negativ auswirken.

Was kann man gegen die Impfmüdigkeit tun?

Das NRW-Gesundheitsministerium hat darüber am Mittwoch auf der Arbeitsebene mit den Kommunen gesprochen. So soll es in den Großstädten auf den Partymeilen niederschwellige aufsuchende Impfangebote geben. Dort könne man sich im Vorbeigehen impfen lassen, sagt Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann. Die Kommunen seien hochmotiviert, die Impfquoten hoch zu halten. „Die wollen näher an die Bürger ran, sichtbar und aufsuchend zu impfen. Der Impfstoff ist seit dieser Woche erstmals kein begrenzender Faktor mehr.“ Man habe auch kein Problem damit, die Kreuzimpfungen mit Astrazeneca und Biontech zu organisieren.

In Deutschland dürfe kein Impfstoff verfallen, wenn anderswo auf der Welt Mangel herrsche. „Das halte ich nicht für verantwortbar. Wir werden uns die Lager und die Haltbarkeitsdaten sehr genau anschauen. Außerdem werden die Dritt-Impfungen ja kommen“, so Laumann.

Wie gefährlich ist die sogenannte Delta-Variante? Droht Deutschland im Herbst eine vierte Welle?

Bei den Sars-CoV-2-Varianten kann man nach Angaben von Professor Jörg Timm grob zwei Typen unterscheiden: „Varianten, die unabhängig vom Immunstatus zu einer erhöhten Übertragung führen und Varianten, gegen die unsere Antikörper nach Impfung weniger gut wirken“, sagt der Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik Düsseldorf.

Die Alpha-Variante (B.1.1.7) führe vor allem zu einer besseren Übertragbarkeit, weil Infizierte mehr Viren ausscheiden. Gegen die Beta-Variante (B.1.351) seien die Antikörper weniger wirksam sind. Von diesen beiden habe sich nur die Alpha-Variante in Deutschland durchgesetzt.

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Die Delta-Variante hingegen verbinde beide Eigenschaften. Sie zeige eine höhere Übertragbarkeit und führe zu einer geringeren Wirksamkeit von Antikörpern. Das sei vor allem ein Problem für Menschen, deren Immunität nur schwach ausgeprägt sei, so Timm. Bei vollständig geimpften und immungesunden Personen sei mit einer hohen Wirksamkeit der Impfung auch gegen die Delta-Variante auszugehen.

Sind vollständig geimpfte Menschen auch bei der Delta-Variante vor einem schweren Infektionsverlauf geschützt, wenn sie sich anstecken?

„Der Schutz gegen schwere Verläufe ist ähnlich gut wie bei den bisherigen Varianten, wenn man vollständig geimpft ist“, so Timm. Das gelte sowohl für Biontech als auch für Astrazeneca.

Woher weiß man das?

Weil die Delta-Variante in England bereits weit verbreitet ist, gibt es dazu gute Daten, so Timm. Nach der ersten Impfung würden etwa 74 Prozent der schweren Verläufe verhindert. Nach vollständiger, zweimaliger Impfung etwa 94 Prozent. „Weil der Anteil der Delta-Variante in Deutschland in den nächsten Wochen weiter steigen wird, ist eine vollständige Impfung enorm wichtig“, sagt der Virologe.

Die britische Regierung will Mitte Juli die Corona-Einschränkungen vollständig aufheben. Was hält die NRW-Landesregierung davon?

„Warten wir erstmal ab, ob sie das durchhalten“, sagt Gesundheitsminister Laumann. „Wir werden das in NRW so schnell nicht tun.“ Man habe habe mit der Inzidenz null ein System geschaffen, das schnelle Reaktionen ermögliche. „Wenn Delta zuschlagen sollte, wird die Inzidenz im Land auch schnell über zehn sein. Dann greift das alte System der Corona-Schutzverordnung wieder.“ 

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