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Annalena Baerbock im Interview„Die GroKo-Herren treten fürs Weiterwursteln an“

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Annalena Baerbock 

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erklärt im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, warum die Grünen diesmal unbedingt in die Regierung müssen. Als Partner wären ihr die Sozialdemokraten nach eigenen Worten am liebsten. Für den Wiederaufbau in den Flutgebieten, die Klimapolitik und die Corona-Bekämpfung hat Baerbock eigene Ideen.

Frau Baerbock, sechs Wochen liegt die Flut an Ahr und Erft zurück. Sie hat die Klimapolitik noch stärker ins Bewusstsein und damit auch in den Wahlkampf gerückt. Wieso konnten die Grünen davon nicht profitieren?

Annalena Baerbock: Die dramatischen Bilder, die auch bei mir nachwirken, und das Wissen, dass Menschen dort ihre Liebsten verloren haben, unterstreichen die Dringlichkeit des Klimaschutzes. Wir müssen alles dafür tun, die Erderhitzung in den Griff zu bekommen. Diese Erkenntnis ist aber nicht neu, dass Extremwetter zunehmen, ist bekannt. Viele Menschen, viele Unternehmen im Land sind weiter als die Große Koalition, die den Klimaschutz in den vergangenen Jahren auf fatale Weise vernachlässigt hat.

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Umso größer hätte in den Umfragen der Zuspruch sein müssen.

Wir stehen vor einer Richtungswahl: Bleibt es beim „Weiter so“ der GroKo oder stellen wir die Weichen voll und ganz auf Klimaneutralität – auch, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern? Die Märkte der Zukunft werden klimaneutral sein.

In den Flutgebieten redet alles vom Wiederaufbau. Müsste es nicht vielmehr ein entschlossener ökologischer Umbau sein?

Die Milliardenhilfen für den notwendigen Wiederaufbau verdeutlichen, was es uns kosten wird, wenn wir beim Klimaschutz nichts tun. Umso klarer ist, dass wir mit staatlichen Geldern nicht alte, fossile Strukturen erhalten oder reaktivieren sollten. Das gilt übrigens auch für die Corona-Hilfen.

Nochmal zu den Fluthilfen…

Der Wiederaufbau in den betroffenen Regionen ist ein Kraftakt, den wir gemeinsam bewältigen müssen. Und da ist es natürlich mehr als sinnvoll, ihn zugleich für die nötige Modernisierung zu nutzen – also Häuser, die von der Flut getroffen wurden, mit Wärmepumpen in den Kellern auszustatten statt mit neuen Ölheizungen.

Könnten die Katastrophengebiete zu einer Art Modellregion des klimagerechten Wandels werden?

Jetzt ist der Moment, zu zeigen, wie wir es besser machen können. Es geht darum, dass wir unsere Städte und Gemeinden vor Klimarisiken schützen; dass wir eine auf die Zukunft ausgerichtete Infrastruktur aufbauen, indem zum Beispiel bislang eingleisige Bahnstrecken zweigleisig werden.

Bräuchte es dafür einen eigenen zusätzlichen Fonds aus Bundesmitteln?

Damit finanzschwache Kommunen gar nicht erst in die Zwangslage geraten, ob sie mit ihrem knappen Geld lieber den Umbau zu einer klimafesten Stadt vorantreiben, in der das Regenwasser besser versickern kann, oder doch besser in die Sanierung einer Kita investieren, schlage ich einen Altschulden-Fonds als Investition in die Zukunft unserer Städte und Gemeinden vor. Der Bund und die Länder übernehmen gemeinsam einen Teil der Schulden der Kommunen, um diese wieder handlungsfähig zu machen.

Sie treten als Kanzlerkandidatin an, Frau Baerbock. Die Großplakate Ihrer Partei zeigen Sie als Duo mit Robert Habeck. Haben Sie Angst vor Ihrer eigenen Courage bekommen – oder vor den Wahlkampfpannen?

Wir treten als Grüne auch für eine andere Art von Politik an. Diese „Ich, ich, ich“-Politik hat mit den Jahren zu einem immer stärkeren Gegeneinander geführt. In der Corona-Pandemie zum Beispiel wollte Finanzminister Olaf Scholz andere Wirtschaftshilfen als Wirtschaftsminister Peter Altmaier, und am Ende kam das Geld bei den Unternehmen gar nicht oder viel zu spät an. Ich bin überzeugt, dass man große Veränderungen nur im Team schaffen kann. Deswegen treten Robert Habeck und ich zur Bundestagswahl gemeinsam an: im Team.

Hätten Sie in der Wahlkampf-Auseinandersetzung mit dem frauenfeindlichen Ton oder Unterton gerechnet, der vielfach registriert wurde?

Wer mit dem Anspruch auf Erneuerung des Landes antritt, stellt naturgemäß den Status quo in Frage. Das erzeugt eine Menge Gegenwind bei denen, die von verkrusteten Strukturen profitieren.

Und bei Frauen fällt er zwei Windstärken heftiger aus?

Nach 16 Jahren mit einer Frau an der Regierungsspitze ist es für viele junge Menschen eine Selbstverständlichkeit, dass sich eine 40-Jährige mit zwei kleinen Kindern um das Kanzlerinnenamt bemüht. Aber offenbar noch nicht für alle im Land.

Warum waren Sie dafür nicht besser präpariert? Dass Attacken auf Sie und die Grünen als „Verbotspartei“ kommen würden, war doch abzusehen.

Seit Gründung der Bundesrepublik hatten SPD und Union die Kanzlerschaft immer unter sich ausgemacht und sich damit auch ganz gemütlich eingerichtet. Jetzt haben zum ersten Mal in der Geschichte auch die Grünen jemanden aus ihren Reihen fürs Kanzleramt nominiert. Auch das war natürlich eine Kampfansage. Das ist wie mit einem großen, alten, Fossil-Konzern, der sich von einem Erneuerbare-Energien-Startup herausgefordert sieht.

Die FDP hatte auch mal einen Kanzlerkandidaten. Sie liegen in den Umfragen bei den 18 Prozent, die Guido Westerwelle auf der Schuhsohle hatte. Aber auch für Sie wird das nicht reichen. Haben Sie den Traum vom Kanzleramt aufgegeben?

In der Politik geht es nicht ums Träumen, sondern ums Machen. Wir haben jetzt noch dreieinhalb Wochen bis zur Wahl, in der die Menschen sich entscheiden können, ob sie eine Veränderung wollen. Natürlich erfordert das Mut. Aber „Weiter so“ und Nichtstun sind das größere Risiko. Wir kämpfen bis zur Wahl, dass dieses größere Risiko nicht eintritt. Und wie die Menschen in diesem Land in den vergangenen Jahren über sich hinausgewachsen sind, so können auch wir bei den Prozentpunkten noch ein bisschen über uns hinauswachsen. Alles ist drin.

Was heißt denn „Richtungswahl“, wenn doch mindestens eine der beiden bisherigen Regierungsparteien auch an der nächsten Koalition beteiligt sein wird?

Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob im Kanzleramt die Klimafrage als zentrales Thema der Bundesregierung rangiert; ob Kinder und Familien im Mittelpunkt stehen. Und das ist das Schöne an dieser Wahl: Es gibt eine richtige Entscheidung. Die GroKo-Herren treten fürs Weiterwursteln an. Das aber können wir uns nicht mehr leisten, sondern müssen einen neuen Weg einschlagen.

Aber welchen von beiden bekommen die Wähler mit dazu, wenn sie für Grün stimmen?

Das Beste der vergangenen Jahre gilt es zu erhalten. Aber Veränderung gibt es nur mit den Grünen. Wir wollen zum Beispiel durch Veränderungen einen starken Sozialstaat erhalten – mit Investitionen in gute Kitas, Schulen, Krankenhäuser, Schwimmbäder und Sportvereine. Sonst zerbröseln uns diese Orte des Miteinanders. Und auch da wiederholt sich die Konstellation der Richtungswahl: Wir sagen klar und deutlich, dass wir die Schuldenbremse reformieren wollen, damit wir Spielraum für die notwendigen Investitionen haben – gerade auch in Orte des Miteinanders. Die Union will das Gegenteil.

Sagen Sie: Wir müssen diesmal unbedingt in die neue Regierung?

Ja. Jetzt ist der Moment, in dem die Weichen für die Zukunft unseres Landes gestellt werden. Die kommende Regierung ist die letzte, die mit ihren Entscheidungen noch relevant Einfluss auf ein die Entwicklung der Erderhitzung nehmen kann.

Und wer – noch ein Versuch – ist dann Ihr bevorzugter Partner?

Ich trete an, die nächste Bundesregierung inhaltlich, aber auch personell zu führen. Und beim Partner: Am liebsten mit der SPD.

In der Klimapolitik vermissen Experten wie der Meteorologe Sven Plöger bei den Parteien die „klare Kante“. Müssten Sie sich – Stichwort „Verbotspartei“ – nicht an der einen oder anderen Stelle dazu bekennen, was Sie von den Menschen verlangen? Aus Überzeugung sozusagen.

Wir müssen uns über Grundsätze unseres Zusammenlebens verständigen. So wie wir sagen, „bei Rot geht man nicht über die Ampel, weil das gefährlich ist“, sagen wir: „Wenn wir der Verbrennung fossiler Rohstoffe als schmutzigster Art der Energie-Erzeugung kein Ende machen, richten wir die Zukunft unserer Kinder zugrunde. Deshalb sollen zum Beispiel ab 2030 keine Kohlekraftwerke mehr am Netz sein“. Eine angstgetriebene Politik, die zu großen Veränderungen nicht in der Lage ist, führt dazu, dass das Klima außer Kontrolle gerät.

Und Sie?

Ehrlichkeit in der Politik bedeutet für mich auch, zu sagen, was es in absehbarer Zukunft nicht mehr geben darf: keine Neuzulassungen von Autos mit fossilem Verbrennungsmotor ab 2030 zum Beispiel. In jedem Verbot steckt aber auch die Chance auf Innovation – das, was unser Land immer groß gemacht hat.

Müssen Sie Hausbesitzer wirklich zu Solarpanels auf den Dächern zwingen? Greift das nicht zu sehr in Freiheitsrechte ein?

Die Verpflichtung, auf jedes neue Dach eine Solaranlage zu bauen, hat die gleiche Qualität wie vor 20 Jahren die Vereinbarung, nur noch FCKW-freie Kühlschränke aufzustellen, um das Ozonloch zu bekämpfen. In der Folge sind Kühlschränke keineswegs aus deutschen Küchen verschwunden, sondern es kamen die modernsten Geräte. Genau so geht es heute darum, klimaneutral zu bauen. Baden-Württemberg als Land der Häuslebauer hat die Solarpflicht jetzt eingeführt. Die braucht es auch deutschlandweit. Wer selbst vor Solardächern Angst hat wie CDU und SPD, kann nicht ernsthaft die Klimakrise bekämpfen wollen.

Im ersten TV-Triell am vorigen Sonntag haben Olaf Scholz und Armin Laschet einträchtig verlangt, bei den Anforderungen an Klimaneutralität die Belange der energie-intensiven Branchen und damit den Erhalt Hunderttausender Arbeitsplätze nicht aus dem Blick zu verlangen.

Daran sieht man, wie weit sich die Große Koalition mit ihrer Wirtschaftspolitik von der Realität der Wirtschaft entfernt hat. Die großen Unternehmen etwa im Ruhrgebiet sind in Wahrheit viel weiter als CDU und SPD. In der „Herzkammer der deutschen Industrie“ und auch sonst im Land fordern Unternehmen zu recht, dass die neue Bundesregierung endlich in die Puschen kommt, etwa um die Produktion von klimafreundlichem Wasserstoff für die Industrieproduktion voranzutreiben.

Was sagen Sie den Unternehmen, wie sie ihre Produktionsbedingungen unter den Vorgaben der Klimaneutralität sicherstellen können?

Um die Klimakrise in den Griff zu bekommen, brauchen wir einen Dreiklang aus ordnungspolitischen Vorgaben, staatlicher Förderung für Innovationen und einer CO2-Bepreisung, die denjenigen Unternehmen einen erkennbaren Vorteil bietet, die klimafreundlich wirtschaften. Wer den Industriestandort Deutschland schützen will, der unterstützt die Unternehmen dabei, schnellstmöglich klimaneutral zu werden. Es hat in den vergangenen Jahren große technologische Sprünge gegeben: klimaneutrale Zement- oder Stahlproduktion ist möglich, sagen die Hersteller. Klimaneutrales Fliegen ist möglich, sagt die Luftfahrtbranche. Aber dafür braucht die Wirtschaft politische Rahmenbedingungen mit Anschubfinanzierungen sowie Planungs- und Investitionssicherheit.

Aber mir scheint, dass gerade die CDU die letzten 20 Jahre wirtschaftspolitisch verschlafen hat. Herr Merz, der ja zum Gesicht der CDU-Wirtschaftspolitik erklärt wurde, attackiert allen Ernstes die geplanten Klimazölle. Dabei sollen die dafür sorgen, dass unsere Stahlindustrie gegenüber China nicht ins Hintertreffen gerät, wenn sie klimaneutralen Stahl erzeugt. Damit stellt sich Herr Merz nicht nur gegen sein eigenes Wahlprogramm, sondern vor allem gegen die Zukunft der Industrie.

Und für die Finanzierung Ihrer Pläne lockern Sie die Schuldenbremse? Dafür bräuchten Sie allerdings eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag.

Auch hier ist die Zeit der Ausreden vorbei. Zur Sicherung des Standorts Deutschland und für das Ziel der Klimaneutralität müssen wir jetzt Geld in die Hand nehmen. Deshalb sollten wir die Schuldenbremse um eine Investitionsregel ergänzen, mit deren Hilfe wir die notwendigen Modernisierungen ermöglichen. Die Politik des Abwartens hat dazu geführt, dass jede sechste Brücke, jede sechste Schienenweiche marode ist. Die Substanz des Wirtschaftsstandorts Deutschland zerfällt – buchstäblich. Das war keine Politik für die Zukunft, sondern zum Schaden für den Wohlstand in unserem Land. Wer das nicht ändern will, sollte lieber in die Opposition gehen.

Apropos Opposition. Sie haben die Linkspartei scharf dafür kritisiert, dass sie den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan nicht mitgetragen hat. Wie weit gehen Sie beim Ausschluss eines Bündnisses mit der Linken wegen deren Außenpolitik?

Die nächste Bundesregierung muss endlich wieder eine aktive, pro-europäische Außenpolitik betreiben. Dafür braucht es eine Koalition, in der alle Regierungsparteien voll und ganz hinter der europäischen außenpolitischen Verantwortung stehen.

Sollte die amtierende Regierung noch auf den letzten Metern einen Afghanistan-Gipfel einberufen?

Dringender denn je. Nach wie vor sind etwa 400 Deutsche in Afghanistan. Schuld daran ist das Versagen der Bundesregierung, speziell des Auswärtigen Amtes, und ich verstehe nicht, wie Herr Scholz als Kanzlerkandidat der SPD sich so vor der Verantwortung drücken kann, die sein Parteifreund und Außenminister Heiko Maas hier maßgeblich zu tragen hat. Also ja, ich würde jetzt eine Afghanistan-Konferenz in Deutschland einberufen. Die Nato- und EU-Partner müssten mit an den Tisch, ebenso die Anrainer-Staaten, Russland, China.

Treten Sie in der Corona-Politik für verbindliche 2G-Regeln ein?

Eine Folge der „Warten wir’s ab und gucken mal, was passiert“-Politik war es, dass Kinder und Jugendliche in der Pandemie nicht sicher zur Schule gehen konnten. Ein ums andere Mal tat die Politik so, als wäre nach den Ferien schon alles wieder gut. Gut geworden ist dann gar nichts. Jetzt, mit derselben Haltung und dem Wissen, dass Kinder unter zwölf Jahren nicht geimpft werden können, erneut in einen Herbst zu gehen, ist eine verantwortungslose Politik. Vielmehr muss alles dafür getan werden, die Kinder zu schützen.

Dafür braucht es zum einen flächendeckende PCR-Lolli-Tests an den Schulen. Gleichzeitig sind geimpfte Erwachsene der beste Schutz für ungeimpfte Kinder. Deswegen müssen wir die Impfquote erhöhen. Hamburg hat ja bereits eine 2G-Regel etwa für Restaurants oder Clubs eingeführt. In den Regionen, in denen die Inzidenzen hochgehen, sollte man das Gleiche tun. Das hielte ich für sinnvoll.

Der Kinder wegen?

Ich habe auch als Mutter erlebt, was es für Kinder bedeutet, über eine so lange Zeit aus ihrem regulären Lebensrhythmus herausgerissen zu werden. Schulen sind eben nicht nur Orte des Lernens. Kinder brauchen Kinder. Deshalb müssen die Schulen offen bleiben Wir haben doch gesehen, dass sonst gerade diejenigen Schülerinnen und Schüler noch mehr in Schwierigkeiten kommen, die auch schon ohne Corona schlechtere Chancen haben. Damit verstärkt sich, was seit Jahren bekannt ist: Dass die soziale Ungleichheit in unserem Bildungssystem ein Riesenproblem ist. Daran hat sich in den letzten 20 Jahren nichts wirklich geändert, was ja die neue Studie des DGB zeigt. Wir müssen jetzt eine Bildungsoffensive starten. Dafür braucht es eine klare Ansage der Politik. Und zwar deutlicher, als es die große Koalition vormacht. Auch das macht deutlich, worum es bei der Wahl am 26. September geht.

„Richtungswahl“ zum Dritten?

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