Anschlag auf dem BreitscheidplatzFall Amri wird zum Agentenkrimi

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Breitscheidplatz

Der Breitscheidplatz in Berlin am Abend des Anschlags im Dezember 2016

Berlin/Düsseldorf – Der Mann trug nahe der Berliner Gedächtniskirche blaue Sanitätshandschuhe. Eine Überwachungskamera nebst Pressefotografen hatten ihn kurz nach dem Lkw-Anschlag des tunesischen Terroristen Anis Amri am 19. Dezember 2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mit elf Toten aufgenommen.

Das Konterfei der Person erinnerte an einen Vertrauten des Attentäters. Ein Fanatiker, der wie Amri der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) einen Eid geschworen hatte. Sein Name: Bilel Ben Ammar, 28.

Die Ermittler glichen die Aufnahme mit Lichtbildern Ben Ammars ab und kamen zu dem Schluss: Dass man weder bestätigen noch ausschließen könne, dass es sich bei dem Mann mit den Sanitätshandschuhen tatsächlich um den Freund Amris handele.

Die Bundesanwaltschaft leitete ein Verfahren ein: Als Beschuldigte des LKW-Attentats wurden Amri, Ben Ammar und andere bislang unbekannte Personen aufgelistet.

Die Suche nach Unterstützern

Lange geheim gehalten, kommen diese Fakten nun auf den Tisch. Dabei stellt sich heraus, dass die deutschen Sicherheitsbehörden sich offenbar schon kurz nach dem Anschlag von der These eines Einzeltäters verabschiedet hatten. 

Das Magazin „Focus“ berichtet zudem, dass die Behörden den Vertrauten Amris bereits zwei Monate nach dem Anschlag abgeschoben hätten, um dessen Rolle an der Anschlagsplanung zu vertuschen. Der Islamist Ben Ammar sei offensichtlich ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes, der per Ausweisung vor einer Strafverfolgung in Deutschland geschützt werden sollte, so das Magazin. Der nordafrikanische Nachrichtendienst DGST hatte das Bundeskriminalamt und den Bundesnachrichtendienst mehrfach über die Radikalisierung von Anis Amri und dessen Anschlagsplänen gewarnt – allerdings erfolglos.

In aller Eile abgeschoben

Nach dem Tod Amris blieben viele Fragen offen. Vor allen Dingen jene nach den Helfern des Attentäters: Wer anders als sein Vertrauter Bilel Ben Ammar hätte Antworten darauf geben können? Der Name war den Staatsschützern längst nicht mehr unbekannt.

Der heute 28-jährige Asylbewerber stand im Mittelpunkt mehrerer Terrorverfahren. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ soll er 2015 beispielsweise über Anschläge in NRW debattiert haben soll. „In Dortmund müsse etwas passieren und Züge bombardiert werden“, soll er gesagt haben. Vorübergehend wurde Ben Ammar festgenommen, doch konkrete Beweise für die Terrorpläne ließen sich nicht finden.

Am Tag vor dem Anschlag in Berlin jedenfalls hat er Amri noch getroffen, und auch am folgenden Nachmittag hat er noch mit ihm telefoniert. Auch fanden sich auf Ben Ammars Mobiltelefon Bilder vom Breitscheidplatz, die er im Februar 2016 gemacht hatte. In Vernehmungen verstrickte sich der als islamistischer Gefährder gelistete Tunesier in Widersprüche.

Die Ermittlungen liefen zwei Monate nach dem Lkw-Attentat auf Hochtouren, dann aber geschah Seltsames: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verfügte, Ben Ammar am 1. Februar 2017 in seine tunesische Heimat auszufliegen. „Seitens der Sicherheitsbehörden sowie des Bundesinnenministeriums besteht ein erhebliches Interesse daran, dass die Abschiebung erfolgreich verläuft“, heißt es in einer Mail an die Bundespolizei.

„Maximal irritierend“

Wieso diese Eile? Warum wurde ein Mord-Verdächtiger abgeschoben, ehe der Fall völlig abgeschlossen war? Das Rätsel vermochten die staatlichen Stellen bis heute nicht aufzulösen.

Zu jener Zeit gingen die Strafverfolger noch einer heißen Spur nach: Kurz nach dem Anschlag wurde Sascha Hüsges, ein Weihnachtsmarktbesucher, bei dem Versuch zu helfen, von einem Unbekannten mit einem Kantholz niedergeschlagen.

Heute ist Hüsges gelähmt, kann nicht sprechen – ein tragisches Schicksal. Die Terrorfahnder gingen davon aus, dass entweder der Attentäter Amri oder einer seiner Helfer Hüsges die Verletzungen zugefügt hatten.

Am 16. Februar 2017 regte die Bundesanwaltschaft eine DNA-Untersuchung vom Opfer mit der sichergestellten Pistole Amris an. Laut dem Beschluss hielten sie es auch für möglich, dass sein Freund Ben Ammar zugeschlagen haben könnte. Der aber befand sich längst in Tunesien und ist seither abgetaucht

Inzwischen befassen sich diverse parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA) mit den Geschehnissen. Jörg Geerlings (CDU), PUA-Vorsitzender im NRW-Landtag, betont: „In dem Fall dürfen keine Fragen offenbleiben. Der Sachverhalt muss aufgeklärt werden.“

In Berlin fordert die Opposition nun die Vernehmung von Ben Ammar im Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Der Vize-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Konstantin von Notz, betont: „Bei Bilel Ben Ammar handelt es sich offensichtlich um eine Schlüsselfigur in der Causa Amri und damit auch beim Anschlag auf den Breitscheidplatz.“ Dass man ihn so Hals über Kopf abgeschoben habe, sei „maximal irritierend“.

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