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Auschwitz-GedenkenFrank-Walter Steinmeier hält beeindruckende Rede in Israel

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Jerusalem – Die politische Gegenwart mit all ihren Krisen macht auch vor diesem Tag nicht halt. Das Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren fällt in eine unruhige Zeit. Ein nachdenklicher Bundespräsident tritt in Jerusalem ans Mikrofon. „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt“, hebt Frank-Walter Steinmeier in Israels nationaler Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an. „Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Steinmeier warnt vor einem Rückfall in autoritäre Denkmuster

Steinmeier warnt vor einem Rückfall in autoritäre Denkmuster - und die Warnung richtet sich vor allem an die Landsleute daheim in Deutschland. Das Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten, es lässt sich nicht lösen von den Krisen der Gegenwart: Weltweit erstarkt der Antisemitismus, auch in Deutschland. „Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter“, sagt Steinmeier. „Aber es ist dasselbe Böse.“

In seiner Rede erneuerte Steinmeier das Bekenntnis zur Schuld der Deutschen: „Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche.“ Mehr als 40 Staats- und Regierungschefs und viele Holocaust-Überlebende sind der Einladung Israels gefolgt, diesen Tag der Trauer in der Gedenkstätte in winterlicher Kälte auf dem Jerusalemer Herzlberg zu begehen - „ein historisches Treffen nicht nur für Israel und das jüdische Volk, sondern für die ganze Menschheit“, sagt Präsident Reuven Rivlin. Der Kaddisch - das jüdische Totengebet - wird verlesen, eine Gedenkfackel leuchtet, Israels Nationalhymne „Hatikva“ erklingt, die von der „200-jährigen Hoffnung des jüdischen Volkes“ auf Freiheit erzählt. Es ist eine Veranstaltung voller Symbolik, von der sich die Organisatoren freilich politische Wirkung erhoffen: Solidarität mit Israel, Eintreten gegen Antisemitismus, Unterstützung auch für Israels harten Kurs gegenüber dem Iran.

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Israelische Medien stuften Steinmeiers Rede als sehr beeindruckend ein

Auch für einen versierten Politiker wie Frank-Walter Steinmeier ist es eine schwere Aufgabe: Nie zuvor hatte ein Bundespräsident in Yad Vashem geredet. Jedes Wort, jede Geste muss sitzen - und Steinmeier meistert diese Aufgabe. Israelische Medien stuften die Rede als sehr beeindruckend ein.

Der Bundespräsident wartet mit einer schonungslosen Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland auf: „Ich wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht.“ Die Lage lasse dies aber nicht zu, sagt Steinmeier: „Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit.“ Für die hochbetagten Holocaust-Überlebenden im Publikum ist es eine ernüchternde Botschaft, die der deutsche Präsident hier überbringt: Die Gefahr ist nicht gebannt, auch 75 Jahre nach dem Holocaust nicht. Auch die anderen Redner in Yad Vashem beklagen den erstarkenden Antisemitismus - Russlands Präsident Wladimir Putin, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, US-Vizepräsident Mike Pence. Steinmeier macht den Überlebenden eine Zusage: „Wir bekämpfen den Antisemitismus. Wir trotzen dem Gift des Nationalismus. Wir schützen jüdisches Leben. Wir stehen an der Seite Israels.“ Daran wolle und müsse sich das Deutschland von heute messen lassen.

Nach Steinmeiers Rede erhebt sich Israels Präsident, er dankt dem Gast aus Berlin mit einer kräftigen Umarmung für die klaren Worte. Die Erinnerung an den Holocaust bestimmt bis heute das Selbstverständnis Israels, die Politik des jüdischen Staates war seit seiner Gründung 1948 von der Angst vor einem zweiten Holocaust getrieben. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu formuliert dies in Yad Vashem ganz unumwunden als kämpferischen Selbstbehauptungsanspruch Israels: „Wir werden keinen zweiten Holocaust zulassen“, sagt er. „Das jüdische Volk hat die Lektionen des Holocaust gelernt: Wir nehmen die Bedrohungen derjenigen, die uns vernichten wollen, ernst.“ (afp)

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