Autor El-Mafaalani im Interview„Bildung löst nicht alle gesellschaftlichen Probleme“

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Wir müssen den Ort Schule radikal verändern, fordert Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani.

Wir müssen den Ort Schule radikal verändern, fordert Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani.

  • Aladin El-Mafaalani kennt das Bildungssystem aus praktisch jeder Perspektive: Als Schüler, Student, Lehrer, Beamter, Professor und Vater.
  • Die Kernforderungen seines neuen Buchs „Mythos Bildung“: Wir dürfen Bildung nicht mehr als Allheilmittel sehen und müssen unsere Schulen radikal verändern.
  • Außerdem spricht der Wissenschaftler darüber, warum die aktuellen Schulschließungen in Folge der Coronakrise besonders Kinder aus benachteiligten Familien treffen.

Herr El-Mafaalani, in ihrem Buch geht es um den „Mythos Bildung“ und die ungerechte Gesellschaft. Die Bildungseinrichtungen sind derzeit geschlossen. Warum treffen die Schließungen Kinder aus benachteiligten Familien besonders hart?

Von Einfamilienhäusern hört man das Geschreie der Kinder im Garten, aus Mehrfamilienhäusern das Geschrei der Eltern aus dem Küchenfenster. Das sagt eigentlich schon alles. Wenn Kinder über Wochen den gesamten Tag zuhause sind, dann bekommt das Zuhause eine extrem große Bedeutung. Und das unterscheidet sich enorm. Man kann das schon während der Sommerferien messen. Die aktuelle Situation könnte aber schlimmer sein als die Sommerferien – es kommt darauf an, wie lange sie andauert. Was ich im Buch ja sehr deutlich mache ist, dass man bei aller Kritik am Schulsystem festhalten muss: Ganz ohne Schule verstärkt sich die soziale Ungleichheit deutlich.

Eine ihrer Kernthesen lautet: Die großen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich durch Bildung nicht lösen. Warum nicht?

Wir erwarten zu viel und gleichzeitig zu wenig, wenn wir über Bildung sprechen. Umfassende gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und Populismus lassen sich mit Bildung nicht lösen. Sie sollte als Infrastruktur und nicht als Lösung gesehen werden. Bildung gilt als ein Allheilmittel, an das eigentlich niemand so richtig glaubt. Sonst müssten wir ja alle ständig frustriert sein, in welchem Zustand unsere Bildungsinstitutionen sind.

Wo erwarten wir zu viel?

Zum Beispiel beim Klimawandel, dort hat sie sogar einen negativen Effekt. Mit steigendem Bildungsniveau wird der ökologische Fußabdruck größer. Das liegt daran, dass Bessergebildete ein höheres Einkommen haben, das zu einem hohen Co2-Verbrauch führt. Auch Rechtspopulisten sind nicht ungebildet und werden nicht nur von Ungebildeten und Perspektivlosen gewählt. Mich stört, dass diese Dinge auf Bildung bezogen werden und Probleme auf die Schulen abgewälzt werden. Damit lösen wir keine akuten Probleme. Die löst man nur durch politische Entscheidungen.

Und an welcher Stelle haben wir zu geringe Erwartungen?

Wenn es um die Beseitigung von struktureller Ungleichheit in der Gesellschaft geht. Wir erwarten, dass wir über Bildung soziale Ungleichheit bekämpfen. Diese Ungleichheit wird aber durch unser Bildungssystem gleichzeitig auch legitimiert. Das System entscheidet, welche Chancen ein Mensch im Leben hat und welche Wege er gehen kann. Dabei werden die ungleichen Startchancen nicht in der Schule selbst produziert, sondern in dem Milieu, aus dem ein Kind kommt. Die Schule schafft es nicht, diese ungleichen Startchancen auszugleichen.

„Wir brauchen Experten aller Professionen in der Schule“

Wie könnte ein Ausgleich besser gelingen?

Wir sollten in der Schule nicht nur Zugang zu Wissen schaffen, sondern zu allen Bereichen des Lebens, zu Instrumenten, Kunst, Kultur und Gesundheitsprävention. Wir brauchen Experten aller Professionen in der Schule, nicht nur Lehrkräfte. Davon würden „arme“ und bildungsbürgerliche Kinder gleichermaßen profitieren. Auch im bildungsbürgerlichen Milieu wünschen sich Eltern eine bessere Ganztagsbetreuung, in der umfassend gefördert wird.

Woher sollen die Schulen diese Experten bekommen?

Deutschland zeichnet sich durch ein breit gefächertes Vereinsleben aus, das viele Kinder wegen der Ganztagsschule nicht mehr wahrnehmen können. Deshalb sollte man die Vereine in die Schulen holen. Nur sind die Schulen dafür räumlich nicht auslegt. Viele haben ja schon Probleme, ein Mittagessen anzubieten. Wir brauchen eine Erweiterung von dem, was wir unter Schule verstehen. Es gab enorm große gesellschaftliche Veränderungen – wir müssen nachjustieren.

Wie beeinflussen die Veränderungen in der Gesellschaft das Aufwachsen von Kindern?

Es gibt einen quantitativ kleinen Teil von Kindern, die in einer so schwierigen Situation wie noch nie aufwachsen. Ich beschreibe wachsende gesellschaftliche Teilhabe gerne mit der Metapher, dass sich die Menschen vom Boden an den Tisch setzen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich so viele Menschen an den Tisch gesetzt wie nie zuvor. Das ist super. Es sitzen weniger Menschen auf dem Boden. Aber den wenigen Menschen auf dem Boden geht es so schlecht wie nie.

Warum?

Weil es kaum etwas Demütigenderes gibt als zuzuschauen, wie die Teilhabe bei allen Menschen wächst, nur bei einem selbst nicht. Durch die Fluktuation sind die solidarischen Strukturen am Boden brüchig geworden. Und das Schlimmste: Die Menschen am Tisch sagen: „Wir sind so eine offene Gesellschaft. Wer jetzt noch auf dem Boden sitzt, ist selbst daran schuld.“ Auf dem Boden macht sich Resignation breit. Dort glaubt man nicht mehr an einen wachsenden Wohlstand und die solidarische Gesellschaft. Es ist neu, dass Kinder in solchen resignativen, auch zunehmend räumlich getrennten, Milieus aufwachsen.

„Die Menschen werden mobil und ziehen weg“

Können Bildungsoffensiven an so genannten Brennpunkt-Schulen gegensteuern?

Ja, das konnten wir mit Studien in der Dortmunder Nordstadt belegen. Die Chancen für den Einzelnen steigen, dass er sein resignatives Milieu verlässt. Das ist aber keine Lösung für den Stadtteil. Wir dachten lange: Wir investieren in die Kinder und Jugendlichen und verbessern damit den Sozialraum. Aber diese Menschen werden mobil und ziehen weg. Das kann die Situation im Stadtteil sogar eher noch verschlechtern, weil sich die Fluktuation erhöht.

Trotzdem brauchen wir diese Bildungsinvestitionen.

Natürlich. Das Geld verbessert das Leben vieler Menschen. Vor Ort wird dieser Zusammenhang von den Menschen im Stadtteil oft nicht erkannt, auch nicht von den Lehrkräften. Wir weisen einen statistisch messbaren Effekt nach. Zeigen aber auch: Bildung löst eben nicht alle Probleme – und macht einen Ort nicht unbedingt lebenswerter.

„Migrationshintergrund ist nicht so ausschlaggebend wie oft behauptet“

Wie waren Ihre eigenen Erfahrungen mit dem deutschen Bildungssystem?

Mein eigenes Beispiel zeigt ganz gut: Ein so genannter Migrationshintergrund ist nicht so ausschlaggebend wie oft behauptet. Meine Eltern sind Akademiker. Status, Bildungsniveau und Einkommen sind entscheidend.

Aber die Sprache nicht gut zu beherrschen ist doch ein großer Nachteil.

Es macht die Sache komplizierter. Andererseits zeigen Studien auch, dass Migranten leidensfähiger und motivierter sind. Meine Eltern konnten kaum ein Wort Deutsch, als ich eingeschult wurde. Dementsprechend konnte ich es auch nicht so gut. Der Sprachrückstand spielt eine Rolle – aber Akademikerfamilien finden sich vergleichsweise schnell zurecht und haben hohe Erwartungen.

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Ihre Grundschullehrerin gab ihnen keine Empfehlung für das Gymnasium.

Genau, aber mein Vater ist Arzt und hatte kein Problem, ihr zu widersprechen. Viele Eltern aus benachteiligten Milieus trauen sich selbst mit Empfehlung nicht, ihre Kinder auf dem Gymnasium anzumelden. Sie denken, sie können nicht bei den Hausaufgaben helfen und kommen mit den anderen Eltern und Lehrern nicht klar.

Zur Person

Aladin El-Mafaalani ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Osnabrück. Nach seiner Promotion war er Berufschullehrer, später Abteilungsleiter im NRW-Ministerium für Familien, Flüchtlinge und Integration. In „Das Integrationsparadox“ beschreibt der Autor, warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Sein zweites Buch „Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft“ ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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