Ballermann und Brüsseler Platz„Hemmungslos verträgt sich nicht gut mit Corona“

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Mitarbeiter des Kölner Ordnungsamts kontrollieren am Zülpicher Platz.

  • Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Im Interview spricht er über die derzeit größten Probleme im Alltag mit der Corona-Krise.
  • Denn das Ausbalancieren von Einschränkungen und Ausleben führt zur Überschreitung von Grenzen insbesondere bei jungen Menschen.
  • Was man dagegen tun kann und wie wir uns am besten an ein Leben mit dem Virus gewöhnen, lesen Sie hier.

Herr Grünewald, in den Touristenzentren scheint Corona vergessen zu sein. Die Leute nehmen Urlaub von Corona. Droht da nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch ein böses Erwachen? Grünewald: Die Krise hat bisher mehrere Phasen durchlaufen – von der kollektiven Vollbremsung über die Phase der Polarisierung und dann einer allgemeinen Enttäuschung über die – je nach Lesart – zu geringen oder zu weit gehenden Lockerungen sind wir jetzt einem Prozess spannungsvoller Suche.

Wonach?

Corona, das ahnen wir inzwischen, ist kein saisonales Schicksal, sondern wird uns noch lange Zeit begleiten. Wir stehen vor der Aufgabe, unser ganzes Leben mit Corona neu zu gestalten: Arbeiten, Lernen, Feiern, Entspannen, Reisen, Karneval. Wie das geht, wissen wir noch nicht. Aber wir spüren, dass wir – wie immer im Leben – eine seelische Grundspannung zwischen „Einschränkung“ und „Ausleben“, zwischen Distanz und Nähe oder Corona und Colonia neu austarieren müssen. Corona hat den Pol des Einschränkens stärker betont. Im Lockdown wurde die Einschränkung zur weitgehenden Selbstblockade. Und jetzt müssen wir unser Sicherheitsbedürfnis mit dem Wunsch nach Nähe und Ausgelassenheit in Einklang bringen. Es geht jetzt also darum, unseren Alltag komplett neu zu normieren und Spielregeln zu finden, die das Spannungsverhältnis zwischen Einschränkung und Ausleben regulieren. Denn die alten Regulationsformen funktionieren nicht mehr.

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Welche Regulation?

Seit Corona sind zum Beispiel alle Regeln für das Miteinander in größeren Gruppen außer Kraft gesetzt. Das fängt in der Kita oder im Klassenzimmer an, setzt sich in Restaurants fort und erreicht auch Konzertsäle oder Fußballstadien. Wir sind eine Zivilisation der Nähe: Handschlag, Schulterklopfen, Umarmung gehörten über Jahrhunderte zum Formenkanon unserer Kultur. Sie sind jetzt bis auf weiteres verpönt. Wir müssen also neue Formen finden. Sonst funktioniert die Nächstenliebe nur noch als Fernbeziehung.

Nach Distanz sieht es aber nicht aus, wenn man an die Bilder aus Mallorca denkt.

Das mühsame Ausbalancieren führt nicht nur in den Urlaubsorten mitunter zur Überschreitung von Grenzen – in doppeltem Sinn. Wir überschreiten die Grenzen des Landes und der guten Sitten. Das hängt mit unserer Urlaubsverfassung generell zusammen. Schon immer wollten viele Deutsche als Reiseweltmeister im Ausland der eigenen Formstrenge und Disziplin entkommen: Unbeschwert sein ohne Hemd und ohne Hemmung. Das verträgt sich aber nicht gut mit den Corona-Vorsichtsregeln.

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Was ist der Unterschied zwischen Feiern am Ballermann und auf dem Brüsseler Platz?

Sonne, Strand und Mittelmeer stehen verstärkt für überbordende Sinnlichkeit. Aber die Gruppendynamik auf dem Brüsseler Platz oder anderen heimischen Party-Hotspots ist die gleiche. Das Maß zwischen Nähe und Distanz müssen wir auch auf der Hohe Straße finden. Die Jungen übernehmen hier – wie beim Kinderspiel „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?“ – die Funktion des Sondierens und Ausprobierens: Wie viel Gas können wir im Alltag wieder geben, ohne aus der Corona-Kurve zu fliegen?

Damit steigt das Risiko der zweiten Welle.

Daher brauchen wir auch ein autoritäres Regulativ, das die vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen und Einschränkungen effektiv vertritt. Wo gefeiert wird, müssen Ordnungskräfte etwa bei der Maskenpflicht eben auch auf deren Einhaltung achten. Sonst wird die Regel zur Farce, und die Regelbefolgung bekommt heraldischen Charakter, wird zu einer konfliktträchtigen sozialen Klassifikation.

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Wer Maske trägt, ist ein Hasenfuß. Wer keine Maske trägt, ein Hasardeur?

Zum Beispiel. Die Grundgefahr besteht darin, dass wir die erwähnten Spannungen nicht mühsam ausgestalten, sondern einfach in Polarisierungen abdriften. Die einen setzen dann auf Totalabschottung nach dem Motto, „am besten eingraben, sonst wird man begraben“. Die anderen halten Corona für einen Popanz und legen an Sorglosigkeit noch eine Schippe drauf. Solche fundamentalistischen Gegenpole nehmen wir in unseren Tiefeninterviews derzeit sehr deutlich wahr.

War die Wiederaufnahme des Tourismus verfrüht, weil damit ein falsches Gefühl von Normalität einherzugehen droht?

Nein, auch als Touristen müssen wir das Leben neu austarieren. In diesem Fall eben: Urlaubsleben mit Corona. Es ist ein großer Feldversuch mit Versuch und Irrtum. Dieser Prozess wird anstrengend, ernüchternd und auch schmerzhaft werden, weil es fast zwangsläufig zu Rückschlägen und Verletzungen kommen wird. Es ist sogar ein Prozess, der zu saisonal veränderten Normen und Verhaltensstandards führen wird. Das Feiern draußen bei sommerlichen Temperaturen ist unbedenklicher als eine Zusammenkunft im Herbst oder Winter. Denn dann herrschen Verhältnisse wie in Clemens Tönnies’ Kühlkammern mit Enge, Kälte und hoher Luftfeuchtigkeit, die das Infektionsrisiko dynamisieren.

Das heißt, wir brauchen Saison-Maßstäbe?

Ja, was bei der Kleidung oder beim Autofahren mit Winter- und Sommerreifen selbstverständlich ist, das werden wir auch in unserem Sozialverhalten einüben müssen.

Das Gespräch führte Joachim Frank

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