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„Colonia Dignidad“-Opfer„In Windeseile waren meine Geschwister weg und Mutti auch“

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Colonia Dignidad

Isoliert und misshandelt: Kinder in der Colonia Dignidad. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1961.

  • In der Colonia Dignidad waren Folterungen, Elektroschocks und Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Jetzt sollen die Opfer der Sekte eine Million Euro bekommen. Eine späte Genugtuung?
  • Irmgard und Rainer Schmidtke haben jahrelang in der Sekte gelebt – und sind bis heute gezeichnet.

Die Jungs schliefen nackt. „Hände an den Seiten, schwarzes Tuch über den Augen, Watte in den Ohren.“ Vor ihren Betten zwei Wärter, die sie nicht aus den Augen ließen. Nacht für Nacht. „Wenn du dich bewegtest oder sich sonst etwas bei dir regte, warst du dran“, sagt Rainer Schmidtke. „Dann kamen sie mit dem Viehtreiber, und du hast was auf die Schenkel oder die Genitalien bekommen. Anschließend wurdest du in die eiskalte Badewanne geworfen.“

Zehn Jahre war Schmidtke, als er zum ersten Mal die Stromstöße aus dem Viehtreiber seiner Bewacher zu spüren bekam. Das war in Chile, in der Colonia Dignidad. Der „Kolonie der Würde“. Mehr als vier Jahrzehnte hat der heute 61-Jährige in der berüchtigten Gemeinschaft des pädophilen deutschen Sektenführers Paul Schäfer gelebt. 2005 ist er zusammen mit Ehefrau Irmgard zurückgekehrt nach Gronau im Münsterland, wo beide geboren wurden.

Wann übernimmt die Regierung Verantwortung?

Und jetzt? Jetzt wartet Schmidtke darauf, dass die deutsche Bundesregierung endlich Verantwortung übernimmt für das, was ihm und 244 weiteren Opfern des Menschenfängers aus dem rheinischen Siegburg in ihrer Kindheit und Jugend angetan wurde. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.

Anfang November beschloss der Haushaltsausschuss, im kommenden Jahr eine Million Euro für die Betroffenen bereitzustellen. Es ist das erste Mal, dass sich eine deutsche Regierung willig zeigt, Menschen wie Schmidtke zu helfen. Dem Beschluss vorausgegangen war ein fraktionsübergreifender Antrag von Union, SPD und Grünen, die Verbrechen in der Colonia aufzuarbeiten und die Opfer wie auch immer zu unterstützen.

Wie die „konkreten und direkten Hilfeleistungen“ aussehen sollen, das allerdings steht noch in den Sternen. Das Geld ist mit einem Sperrvermerk versehen. Zunächst soll ein Konzept erarbeitet werden, das die Verteilung regelt. Eine erste Anhörung der achtköpfigen „Gemeinsamen Kommission zur Umsetzung des Hilfskonzepts für die Opfer der Colonia Dignidad“ hat bereits stattgefunden. Eine zweite ist für den 13. Dezember anberaumt. Dabei soll ausgelotet werden, auf welche Weise den Betroffenen am besten geholfen werden kann.

Im Frühsommer wolle man erste Ergebnisse vorlegen, sagt Kommissionsmitglied Michael Brandt. Gedacht sei an eine psychologische Betreuung und an direkte Hilfszahlungen – „Gesten des deutschen Staates“, die das erlittene Unrecht etwas erträglicher machen sollen. Nicht nur für Brandt ist unstrittig, dass deutsche Politiker, allen voran die damaligen Vertreter der Deutschen Botschaft in Chile, weggeschaut haben, als Paul Schäfer Anfang der 1960er Jahre knapp 400 Kilometer südlich der Landeshauptstadt Santiago de Chile seine Schreckensherrschaft errichtete.

„Wir durften nicht einmal mit unseren Eltern sprechen“

„Schläge, Zwangsmedikation, Elektroschocks, Vergewaltigungen“ – Schmidtke benennt nur einige der Repressalien, die für die etwa 350 Bewohner der Kolonie bis in die 1990er Jahre an der Tagesordnung waren. „Wir durften das Gelände nicht allein verlassen und nicht einmal mit unseren Eltern und Geschwistern sprechen.“

Schmidtke ist fünf Jahre alt, als die Eltern – Flüchtlinge aus Ostpreußen, die nach dem Krieg in Gronau gestrandet sind – beschließen, Paul Schäfer nach Chile zu folgen. Der Laienprediger und ehemalige Jugendpfleger hat 1954 in Lohmar-Heide die „Private Sociale Mission“ gegründet, eine christliche Gemeinschaft, in der sexuelle Enthaltsamkeit und der Verzicht auf familiäre Bindungen gepredigt werden. Als Schäfer, der bereits zuvor auffällig geworden ist, 1961 eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs droht, flieht er nach Südamerika.

Lydia und Gerhard Schmidtke sind durch Hugo Baar zu der Sekte gestoßen. Der Baptistenprediger und enge Vertraute Schäfers leiten in Gronau eine baptistische Gruppe und werben mit Engelszungen für die „Private Sociale Mission“. Im Juni 1962 besteigt Lydia Schmidtke in Genua mit acht ihrer zehn Kinder ein Schiff nach Chile. Die beiden ältesten Söhne sind bereits vorausgeflogen. Gerhard Schmidtke wird noch in Deutschland gebraucht. Er soll später hinterherkommen. „Auf dem Schiff wurde das Leben schon rauer“, erinnert sich Schmidtke. Zwei Frauen übernehmen das Kommando über die 90 deutschen Kinder an Bord. „Plötzlich hatte Mutti nichts mehr zu sagen.“

Lila Gruppe für „Sträflinge, die gelogen haben“

Nach der Ankunft in der Colonia Dignidad wird die Familie auseinandergerissen. „In Windeseile waren meine Geschwister weg. Mutti war weg.“ Der verstörte Fünfjährige wird in die Moritzgruppe gesteckt. Eine Schwester, die neun Jahre ältere Ursula, landet schon bald in der „lila Gruppe“, der Gruppe „für Sträflinge, die gelogen oder etwas unterschlagen haben“. Zwei Jahre später stirbt die 17-Jährige unter ungeklärten Umständen.

Auch Rainer bekommt die harte Hand Schäfers zu spüren. „Drecksack“ und „Verräter“ habe ihn der „Tío“, der Onkel genannt, als er sich gegen dessen sexuelle Übergriffe gewehrt habe, sagt Schmidtke. „Er hat mich verächtlich gemacht und an den Pranger gestellt.“

Als der Zehnjährige mit zwei andern Jungs dabei erwischt wird, wie er einem Mädchen unter den Rock schaut, kommt er in eine Sondergruppe und wird Tag und Nacht überwacht. Mit knapp 13 Jahren muss er die Schule verlassen und unentgeltlich in der Gärtnerei der Colonia arbeiten. Drei Fluchtversuche scheitern. „Wo hätte ich auch hingesollt ohne Geld und Papiere?“

Irmgard Schmidtke ist bereits 27 Jahre, als sie 1974 in der Colonia Dignidad ankommt. Wie ihre Mutter und eine Schwester ist sie überzeugt, das Richtige zu tun. Zuvor hat sie 13 Jahre in einem Geschäft der Sekte in Siegburg gearbeitet, ein „Hallelujah-Mädchen“, wie man Frauen wie sie im Ort spöttisch nennt. Auch Irmgard stammt aus einer Gronauer Baptistenfamilie. Die Mutter, eine Russlanddeutsche, ist nach dem Krieg aus Sibirien in den Westen geflüchtet und glaubt, in Schäfer einen Heilsbringer gefunden zu haben.

Für sie sei der Ärger richtig losgegangen, als sie sich in Rainer verliebt habe, sagt die heute 71-Jährige. „Das war die schlimmste Zeit für mich.“ Verbindungen zwischen Sektenmitgliedern werden von Schäfer ungern gesehen, das Thema Sex ist tabu. „Ich wurde ständig beobachtet und durfte nicht mal aus dem Fenster gucken, wenn draußen jemand vorbeiging.“ Schäfer schlägt die über 40-Jährige, als die sich weigert, sich von dem „Drecksack“ zu lösen. Acht Jahre wartet das Paar auf die Heiratserlaubnis der Sektenführung.

In der Deutschen Botschaft – das legen 2016 freigegebene Akten des Auswärtigen Amts nahe – weiß man schon früh um die Zustände in der Aussteigerkolonie. Im Laufe der Jahre ist einigen Sektenmitgliedern die Flucht nach Santiago geglückt. Obwohl sie von Folterungen und Vergewaltigungen berichten, wird ihnen nicht geholfen. „Die Versammelten machten keineswegs den Eindruck von Gewaltmenschen“, konstatiert der deutsche Botschafter Erich Sträfling 1977 nach einem Besuch vor Ort. Die Kolonie sei vielmehr eine „vorbildlich gebaute und bewirtschaftete Siedlung“.

Leichen von Folteropfern auf dem Gelände?

Im gleichen Jahr erstattet Amnesty International Anzeige gegen die „vorbildliche Siedlung“ des Paul Schäfer. Der Vorwurf der Menschenrechtler: Auf dem Gelände der Deutschen würden Gegner des chilenischen Diktators Augusto Pinochet gefoltert. Die Kolonie wehrt sich mit einer Verleumdungsklage gegen die Anschuldigungen. Inzwischen weiß man, dass auch diese Vorwürfe zutrafen. Bis heute werden auf dem weitläufigen Gelände die Leichen vor etwa 100 Folteropfern vermutet.

Erst der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier nimmt sich 2016 des prekären Themas an. Der Umgang mit der Colonia Dignidad sei kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes, sagt er nach einer Aufführung des Film „Colonia Dignidad“ vor Opfern von Schäfers Willkürherrschaft. „Über viele Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut, jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan.“

Auch Schmidtke hofft während seiner Leidenszeit vergeblich auf Hilfe von außen . „Ich habe mir so sehr gewünscht, dass mal einer vorbeikommt, ein Richter oder jemand, dem ich mich anvertrauen kann. Aber es hat sich nie ergeben.“

1997 flieht Schäfer nach Argentinien, die Gemeinschaft löst sich allmählich auf. Die Mutter eines chilenischen Missbrauchsopfers hatte ihn angezeigt. 2006 wird der inzwischen 85-Jährige wegen Kindesmissbrauchs in 25 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren und einer Geldstrafe verurteilt. 2010 stirbt er in Santiago. Die Colonia Dignidad nennt sich inzwischen Villa Baviera und ist ein Touristikzentrum mit Hotel, Swimmingpool und Restaurant. Bewirtschaftet wird es von ehemaligen Sektenmitgliedern.

Rainer und Irmgard Schmidtke verlassen Chile 2005. Ihr Besitz passt in zwei Handkoffer. Wenn Schmidtke , der in Gronau eine Stelle als Lagerist hat, in knapp fünf Jahren aufhört zu arbeiten, wird seine Rente maximal 420 Euro im Monat betragen. Irmgard Schmidtke bekommt monatlich 129 Euro. „Keine Ahnung, wie das gehen soll“, sagt Schmidtke. „Wir haben unser Leben lang gearbeitet und werden nicht einmal unsere Wohnung halten können.“

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