Corona-Stimmung„Mütend“ in der Pandemie

Lesezeit 3 Minuten
Corona-Wut und Müdigkeit

Die „Querdenker“-Bewegung wird auch in NRW radikaler, sagt der Verfassungsschutz

Mütend. Diese Wortschöpfung hat das Zeug dazu, das Wort des Jahres zu werden. Müde und wütend fühlen sich viele. Woran liegt das, wie hält man das aus, wie kann man das ändern?

Wir leben in Zeiten einer weltweiten Katastrophe, und es gibt keine Experten, die eine Lösung kennen. Das mag erstaunen, denn inzwischen sitzt fast in jeder Talk-Show ein Epidemiologe, eine Virologin oder wenigstens ein Fachmann für Impfstoffe. Doch wirkliche Expertise gewinnt man nur durch Erfahrung, und es gibt schlicht keine Erfahrung mit einer über ein Jahr andauernden Pandemie. Alles, was Experten jetzt beitragen können, sind Erfahrungen aus anderen Situationen, die vielleicht nützlich sind für diese „Singularität“, dieses einmalige unvergleichliche Ereignis, das wir im Grunde mit erstaunlicher Gleichmut durchleben.

„Querdenker“ und ihre Gurus

Gerade in der Anfangszeit haben viele Menschen dabei dankbar auf eine Obrigkeit gestarrt, die den Eindruck vermittelte, sie wüsste, wo’s langgeht. Wenn die Titanic auf den Eisberg gelaufen ist, will man sich einem offensichtlich tatkräftigen Kapitän anvertrauen. Da kam ein Mannsbild wie Markus Söder gerade recht, der sich breitbeinig hinstellt und kraftvoll verkündet, es müsse etwas geschehen, so könne es nicht weitergehen, und er habe es im Übrigen immer schon gewusst. Experten, die den Anschein erwecken, sie wüssten es ganz genau, erfreuen sich aus ähnlichen Gründen großer Beliebtheit. Die selbst ernannten „Querdenker“ sind da übrigens gar nicht viel anders, auch sie haben ihre Gurus, die angeblich alles besser wissen.

Doch die Haltung, irgendeine Obrigkeit und irgendwelche Experten mal machen zu lassen, ermüdet mit der Zeit. Und wütend wird man dann, wenn klar wird, dass es trotz allem nicht besser wird und man selber offenbar nichts ändern kann.

Grenzen der Expertise

Auf Dauer ist es daher nützlicher, eine erwachsenere Haltung einzunehmen, die die Realitäten ins Auge fasst. Da sind Politiker hilfreicher, die die schwierigen Abwägungen zwischen effektiver Bekämpfung der Epidemie, Sorge um Kinder und Jugendliche und Verhinderung wirtschaftlicher Katastrophen transparent machen; die ihre Entscheidungen bei neuer Faktenlage schnell überprüfen und gegebenenfalls ändern. Oder Experten, die die Grenzen ihrer Expertise und die Unsicherheiten von Prognosen offen legen und sich gerade dadurch als kompetent erweisen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wenn wir auf diese Weise einbezogen werden in die anstehenden Überlegungen, wenn wir auch unsichere Entscheidungen einsehen und nicht bloß passiv befolgen, dann werden wir weniger schnell ermüden und hilflos wütend werden. Wenn wir überlegen, wie wir selber aktiv Verantwortung übernehmen können und nicht warten, bis eine staatliche Regelung kommt, sondern im Zweifel aus Einsicht sogar strenger sind als das, was verordnet wurde, werden wir gewiss weniger „mütend“ sein.

Der nützliche Blick nach vorn

Dabei ist der Blick nach vorne nützlich. Mich erfreut seit einigen Wochen die tägliche Beobachtung der Inzidenzwerte in Israel. Durchs schnelle Impfen sind die Zahlen dort von im Januar noch über 600 auf inzwischen unter zehn heruntergerauscht. Das steht uns erfreulicherweise auch bevor. Und schließlich sollten wir alle unsere Aggressionen herunterfahren. Wer jemanden, der sich nicht an die Regeln hält, nicht so heftig anraunzt, so dieser die Aggression fast unvermeidlich weitergibt, sondern es bei einem freundlichen Hinweis belässt, hat den Aggressionspegel in seinem Umfeld wirksam gesenkt.

Wenn jeder an seinem Platz tut, was zur Entspannung beiträgt, sind alle weniger „mütend“.

Unser Autor

Manfred Lütz, geb. 1954, ist Arzt und Theologe. Der Bestseller-Autor schreibt in seiner Kolumne über alles, was wir (noch) für vernünftig oder (schon) für verrückt halten.

KStA abonnieren