Die letzten Holocaust-Überlebenden„Tue das nur noch, weil es für euch wichtig ist“

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Die Holocaust-Überlebende Marina Sagsaganska ist nur noch eine von wenigen, die an ihrer eigenen leidvollen Geschichte von dem grausamen Hitler-Regime erzählen kann.

  • In der Corona-Pandemie können die nur noch wenigen, hochbetagten Holocaust-Überlebenden nicht mehr in Schulen gehen, um ihre Geschichte zu erzählen. Das ist fatal.
  • Denn wenn die Schüler mit den Zeitzeugen ins Gespräch kommen, fließen die Tränen auf beiden Seiten. Dann wächst der Wille auf Seiten der Jungen, sich zu engagieren, nicht gleichgültig gegenüber Rassismus und Vorurteilen zu sein.
  • In der Krise ist es darum noch wichtiger als sonst, die Geschichten der Holocaust-Überlebenden weiter zu erzählen – um niemals zu vergessen.
  • Lesen Sie unser großes Wochenend-Dossier.

Zwei Stunden nach dem Anschlag von Halle, bei dem ein Rechtsradikaler versuchte, eine voll besetzte Synagoge zu stürmen, um die Menschen dort zu ermorden, trafen wir uns wie jeden Mittwoch zu unserem Zeitzeugenprojekt in der Gesamtschule in Bergheim. Die Überlebenden waren an diesem Tag nicht da, sie feierten das jüdische Versöhnungsfest Jom Kippur. Zwei Wochen später erzählte Ela, die in Auschwitz zur Welt kam und drei ihrer vier Brüder im Krieg verlor, dass sie nicht mehr fotografiert werde wolle. Sie wolle auch ihren Namen nicht mehr in der Zeitung lesen. Seit dem Anschlag hat sie Angst. Ela ist 91 Jahre alt. Noch heute spürt sie manchmal die Narbe jener Kugel, die ihren Bruder im Schlaf tötete, bevor sie sich ihr in den Unterschenkel bohrte. Verwundet wurde sie, als ihre jüdische Familie vor den Nazis floh. Ihr Bruder wurde an Jom Kippur 1941 begraben. Ela kam an ihrem Rollator in den Gesprächskreis getrippelt und sagte zu den Jugendlichen: „Ich tue das nur noch, weil es für euch wichtig ist.“

Dann kam das Coronavirus, das unsere Arbeit zum Stillstand brachte. Die Überlebenden können seitdem nicht mehr in die Schulen gehen, um zu erzählen. Zum Glück hatten wir die Biografien schon recherchiert und beschlossen, sie statt wie geplant in einem Theaterstück in Videoclips erzählen.

Im zurückliegenden Schuljahr habe ich eine Biografiewerkstatt mit Holocaust-Überlebenden und Geflüchteten geleitet, die der Bundesverband für NS-Verfolgte durchführt. Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe elf der Gesamtschule Bergheim haben die Biografien von vier Überlebenden aus Osteuropa recherchiert, aufgeschrieben und eingesprochen. Marina Sagsaganska, Klava Leybova, Sinowij Goldberg und Ela mussten als Kinder 1941 vor den Nationalsozialisten fliehen. Ihre Geschichten sind so unbekannt wie die meisten Biografien der Verfolgten aus Osteuropa.

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Eine Schülerin in der Biografiewerkstatt hat sich vorbereitet auf das Gespräch mit den Holocaust-Überlebenden. 

Auschwitz und Buchenwald stehen in Deutschland für den Holocaust, und der Holocaust steht für das Böse eines Jahrhunderts. Viele Namen und Schicksale der in Auschwitz Ermordeten und auch der Überlebenden wurden durch Memoiren, Briefe, Dokumentationen und Romane bekannt. Die Quellenlage aus Todesfabriken wie Treblinka, Chelmno, Sobibór oder Belzeec, wo fast alle Menschen vergast wurden, ist karger. Auch die Millionen Hungertoten und Verfolgten aus Osteuropa zählen zu den vergessenen Opfern.

In Köln lebt im Sommer 2020 ein 95-jähriger Mann, der bei der Befreiung von Auschwitz dabei war. In Köln lebt Sinowij Goldberg, der die Leningrad-Blockade überlebte, mit der Hitler Millionen Zivilisten planmäßig in den Hungertod trieb. In Köln lebt Ela, die 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Angst vor Antisemiten hat. Die Zeitzeugen aus Osteuropa machen einen Großteil der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland aus, seit sie Anfang der 1990er Jahre und Anfang 2000 als so genannte Kontingentflüchtlinge aufgenommen wurden. Die meisten leben in Sozialbauten mit Hartz-IV-ähnlicher Rente. Einsam jung, von Deutschland verfolgt – einsam alt, von Deutschland notdürftig versorgt.

Der Bundesverband für NS-Verfolgte gibt diesen Menschen eine Stimme – und macht Geschichte nachvollziehbar. „Nach den Gesprächen bin ich unsicher, ob Geschichtsbücher wirklich Aufklärung leisten können. Sie beschreiben nur, was war, die Einzelschicksale werden nicht erwähnt, man begreift es daher nicht“, sagt David, als sich die Gruppe kurz vor den Sommerferien zum letzten Mal trifft. „Ich würde mir wünschen, dass wir irgendwann in einer Welt ohne Rassismus und Antisemitismus leben“, sagt Duygu. „Aber wenn ich an Hanau oder Halle denke, wenn ich die Geschichten höre, die der Geflüchteten, die der Zeitzeugen, zum Teil auch die von uns, kann ich es leider nicht glauben.“ Ilka sagt, dass „Menschen nach wie vor nach ihrer Herkunft definiert werden. Mir ist jetzt noch bewusster, dass das falsch ist. Und dass ich auch in meinem Alltag etwas dagegen tun muss“.

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Biografiewerkstätten, Zeitzeugentheater und Videoprojekte mit Überlebenden und Geflüchteten bereichern eine Erinnerungskultur, die mit den Jahren lahm und für viele lästig geworden ist. Längst reduziert sich das staatliche Gedenken auf mahnende Reden und oft schwer verdaulichen Unterrichtsstoff. Die steigenden antisemitisch motivierten Straftaten in Deutschland, der Zuspruch für die AfD und Nationalisten in ganz Europa, auch die breite Diskussion über Rassismus machen deutlich, dass das nicht reicht.

Fragen der Schüler: „Was kommt nach Trump?“ „Und nach Merkel?“ „Rücken die Länder nach einer Wirtschaftskrise zusammen? Oder schotten sie sich immer mehr ab?“ „Kommen dann noch mehr Populisten an die Macht?“ „Wird Toleranz mehr oder weniger?“ „Gibt es eine Chance, dass die Demokratie sich überall auf der Welt durchsetzt?“ „Dass jeder über sein Leben bestimmen darf?“ „Eine Welt ohne Rassismus?“ „Wird sich irgendwann das Verständnis durchsetzen, dass alle Menschen gleich sind?“

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Sinowij Goldberg spricht regelmäßig vor Schülern

Um dieses Verständnis im Kleinen zu vergrößern, müssen wir miteinander sprechen. Ela und Marina Sagsaganska haben ihre Geschichten lange nicht erzählt. Die Wunden, die dann aufbrachen, waren zu schmerzhaft. Inzwischen sagen sie: Ja, die Erinnerung überfordere sie immer noch. Und ja: Sie wollen trotzdem erzählen. „Es heißt ja immer, die Schoah könne sich nicht wiederholen“, sagt Ela. „Ich würde sagen: Sie kann sich vielleicht nicht genau so wiederholen. Aber der Mensch zeigt ständig, zu welcher Unmenschlichkeit er in der Lage ist. Geschichte kann sich sehr wohl wiederholen.“

Überfordern könnte eine Biografiewerkstatt auch die Schüler, dachte ich anfangs. Die Überlebenden sind alt. Die Jugendlichen haben das Dritte Reich zuvor nur in ein paar Wochen im Geschichtsunterricht behandelt. Die Überlebenden sprechen zum Teil wenig Deutsch, die Sprache ihrer Gefühle ist Russisch, Polnisch, Jiddisch oder Ukrainisch. Und dann sitzen noch drei junge Geflüchtete in der Gruppe, die wenig bis nichts über den Holocaust wissen. Aber eben auch Flucht und Ausgrenzung erlebt haben.

„Juden“, „Osteuropäer“, „Muslime“, „Flüchtlinge“ – allein solche Benennungen sind schwierig: Kollektivierende Zuschreibungen, die die Individualität außer acht lassen. Können solche Schubladen mit ein paar Gesprächen und Recherchen aufgebrochen werden? Wie kann es gelingen, eine Sprache für die Biografien und Theaterdialoge zu finden, die nicht pädagogisiert und stereotypisiert – und damit viele langweilt? Ist es möglich, intime Gespräche übersetzen zu lassen, ohne Wesentliches zu verlieren?

Der Verband

Der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte setzt sich für die Rechte und Belange aller NS-Verfolgten und ihrer Nachkommen ein. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist die politische Bildung: Zeitzeugentheater und Biografiewerkstätten an Schulen, Erzählcafés und viele andere Projekte tragen zur Erinnerungskultur bei und leisten einen Beitrag gegen Rassismus und Antisemitismus. (uk)

Viele der Befürchtungen verflüchtigen sich schnell. Die Jugendlichen sind etwas schüchtern, aber gut vorbereitet; zuvorkommend, respektvoll, neugierig – und berührt. Ilka erzählt nach den ersten Interviews, dass sie so beeindruckt war, dass sie in der Nacht nicht schlafen konnte. „Es war fast zu viel, aber es war gut“, sagt Franzi. „Die Gespräche haben mir gezeigt, wie gut wir es haben – und wie viele Ähnlichkeiten es in den Geschichten der Geflüchteten und der Zeitzeugen gibt.“ Vorurteile, Hass und Rassismus, Einsamkeit, Angst und Vertrauensverlust. In einem Gruppenspiel zeigt sich, dass auch viele Schülerinnen und Schüler ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dass es um jeden Einzelnen geht, wenn von Ausgrenzung und Hass die Rede ist.

Marina Sagsaganska weint, als sie sich erinnert, wie sie als Fünfjährige mit ihrer 15-jährigen Schwester in ihrem Versteck vergeblich darauf wartete, dass ihre Mutter vom Einkaufen zurückkommt. Aramayis, geflüchtet aus dem Iran, schüttelt es, als er von einem kleinen syrischen Mädchen erzählt, das ihm auf der Flucht ein Stück Plastik schenkte. Er weint, als er von dem Rassismus berichtet, der ihm in Köln fast täglich begegnet. Wase aus Afghanistan stockt bei den Gedanken daran, wie er mehrere Stunden mit fünf anderen in einem abgeschlossenen Kofferraum lag und dachte, er würde ersticken. Sinowij erzählt von Freunden, die auswandern möchten, während er über den Anschlag von Halle nachdenkt. Überfordert sind fast alle Kursteilnehmer manchmal.

Die Jugendlichen haben dann getan, was in der Coronazeit nicht möglich ist: Sie haben den Erzählenden einen Arm auf die Schulter gelegt oder ein Taschentuch gereicht. Karim sagt, die Biografien seien „so krass, dass man sich mit seinen Erfahrungen ziemlich klein vorkommt“.

Marzye ist mit 15 ohne Eltern vor den Taliban geflohen, begleitet nur von Schleusern, in einem Schlauchboot übers Mittelmeer, ohne zu wissen, wo sie landet. Sinowij hat als Elfjähriger während der Leningrad-Blockade fast täglich Menschen verhungern sehen. Einige derer, die mit Aramayis flüchteten, wurden an der Grenze zwischen Iran und der Türkei erschossen.

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In einem Zeitzeugenprojekt in der Gesamtschule in Bergheim erzählen Schüler, darunter auch geflüchtete, auch von ihren Geschichten. Vor allem aber hören sie den Holocaust-Überlebenden zu.

Wer Zeitzeugen und Geflüchtete kennenlernt, ihre Geschichten gehört, ihnen in die Augen geschaut und gesehen hat, welche Traumata sie bis heute mit sich tragen, ist danach sensibilisiert. Für rassistische Gedanken und Vorurteile, die wohl in jedem von uns zu finden sind. Für die eigene Verantwortung, nicht zu schweigen, wenn in der Bahn Menschen mit anderer Hautfarbe beschimpft werden oder auf dem Schulhof „Du Jude“ als Schimpfwort verwendet wird.

Schulbesuche von Überlebenden macht die Corona-Pandemie wohl auch im kommenden Schuljahr unmöglich. Der Bundesverband für NS-Verfolgte wird die Generation der Kinder und Enkelkinder stärker in seine Projekte einbinden. Die Traumata der Überlebenden haben sich auf sie übertragen, so wie die Schuldgefühle und zum Teil auch der Antisemitismus sich von Deutschen (und nicht nur von Deutschen) auf ihre Kinder und Enkel übertragen hat. Wenn die Enkel der Opfer mit den Enkeln der Tätergeneration sprechen, könnte das spannend werden. Die Jungen können unbefangener von den Lebensgeschichten der Opfer und der Täter erzählen. Die Opfer sind keine Opfer mehr, die Täter keine Täter. Auch wenn sie die Geschichte in sich tragen.

Die Viren Rassismus und Antisemitismus grassieren auch deswegen weiter, weil wir zu wenig miteinander geredet haben. Nicht nur Täter mit Opfern und Opfer mit Tätern, auch untereinander. Ich weiß nicht viel, weil meine Eltern auch nicht viel wussten. Weil die Großeltern nicht viel redeten. Ich weiß aber, dass eine meiner Großmütter Hitler gewählt hat. Und später sagte: „Wir konnten ja nichts machen.“

Werden wir auch später sagen, „wir konnten ja nichts machen“, als sich infolge einer gigantischen Weltwirtschaftskrise ein rassistischer Nationalismus ausbreitete, der die Idee von Europa und mit ihr Frieden und Freiheit zunichtemachte? „Ich bin aufmerksamer geworden für Rassismus im Alltag“, sagt Karina. „Ich habe angefangen, Leute, die Vorurteile haben, auf der Straße anzusprechen“, sagt Ilka.

Wenn eine Generation Hoffnung wecken kann im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, ist es die Jugend. Menschen, die an eine global vernetzte Welt glauben, in der die Herkunft keine Kategorie ist. Die Wirtschaftswachstum auf Kosten der Armen und des Klimas nicht hinnehmen. Die mit Fridays for Future und jetzt auch der Black-Lives-Matter-Bewegung zeigen, wie politisch sie sind. „Es ist mir total egal, ob jemand jüdisch, christlich, muslimisch oder atheistisch ist“, sagt Franzi. Die Religion ist nur eine Facette unserer Identität, für viele eine ziemlich kleine.

Dass die Verfolgten am Ende ihres Lebens wegen des Ausbruchs eines Krankheitserregers fast wie in ihrer Kindheit einsam und bedroht sind, ist eine tragische Ironie des Schicksals. Umso mehr sollten wir uns ihnen zuwenden. Ihre Biografien erzählen davon, was geschieht, wenn Rassismus und Antisemitismus zur Staatsdoktrin werden. Parallelen zur Gegenwart gibt es leider reichlich.

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