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Dorf mit vielen GeniesWoran im Silicon Valley von NRW getüftelt wird

Lesezeit 5 Minuten
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Das Forschungszentrum Jülich besitzt den schnellsten Rechner Europas.

Jülich – Wer mit dem Linienbus ins Forschungszentrum Jülich einfährt, hat die Auswahl zwischen den vielleicht coolsten Haltestellen-Namen der Welt: Feuerwehr, Heizwerk, Plasmaphysik, Wache1, Strahlenschutz und Seecasino. Und ja, dieser bunte Strauß an Signalwörtern gibt einen guten ersten Eindruck von der heiklen Vergangenheit und der aktuellen Vielfalt der wissenschaftlichen Arbeit auf diesem Campus.

Das Forschungszentrum liegt im Stetternicher Forst, mitten im Rheinischen Revier unweit vom Tagebau Inden. Auf 2,2 Quadratkilometern verteilen sich zehn Institute mit ihren Teilbereichen und technischen Anlagen; fast 6800 Menschen arbeiten hier, darunter 2400 Wissenschaftler. Man stellt sich das Ganze am besten vor als ein Dorf, in dem jeder zweite Einwohner ein Genie ist – und die anderen sind auch sehr gut.

Die Liste der Auszeichnungen für die Jülicher Forscher umfasst in der hauseigenen „Zahlen und Fakten“-Fibel für die Jahre 2018/19 drei Seiten. Weltweit Aufsehen erregte im Jahr 2007 der Nobelpreis für Peter Grünberg – der von ihm und seinem französischen Nobelpreis-Kollegen im Jahr 1988 entdeckte GMR-Effekt (engl: giant magnetoresistance, Deutsch: Riesenmagnetowiderstand) ermöglicht es, die Speicherkapazität von Festplatten zu steigern. Man muss das nicht genau verstehen, um die Bedeutung zu erahnen: Auf jedem Rechner der Welt finden die Erkenntnisse seither Anwendung.

Vor dem Peter-Grünberg-Institut grüßt ein übermannshoher Roboter, der ein bisschen gefährlich aussieht. Im Keller steht ein Quantencomputer. Der Chef des Ganzen, Professor Frank Wilhelm Mauch, hatte im Sommer einen Anruf von der Bundeskanzlerin – als in Baden-Württemberg die US-Firma IBM und das Fraunhofer-Institut einen Quantenrechner einweihten, hatte Frau Merkel verstärktes Engagement in diesem Bereich angekündigt. „Dass Deutschland in diese Technologie größer einsteigt, kommt nicht zu früh“, sagt der Professor. Führend sind momentan Google, IBM und die Amerikaner generell. „Sagen wir so“, meint Mauch, „die Amerikaner führen nach der ersten Runde des Marathons, aber wir können sie noch gut sehen.“

Ein paar Häuser weiter stehen die schnellsten Rechner Europas. Juwels (Jülich Wizard for European Leadership) und Jureca (Jülich Research on Exascale Cluster Architectures) heißen die Computersysteme. Juwels rechnet inzwischen mit einer Leistung von 85 Petaflops – das sind 85 Billiarden Rechenschritte pro Sekunde, was der Leistung von 300000 modernen PC entspricht. Damit lassen sich – solange die Quantencomputer noch nicht wirklich praxistauglich sind – unvergleichlich komplexe Simulationen von Wasser-, Wetter-, und Planetenbewegungen ebenso erstellen wie tiefe Einblicke in die Funktionen des Gehirns.

Wenn vom Forschungszentrum die Rede ist, sprechen die Menschen aus der Gegend immer noch von der „KFA Jülich“ – der Kernforschungsanlage. So hieß das früher und war weltberühmt – zumindest in Deutschland.

1955 war die Bundesrepublik Deutschland in die Entwicklung nuklearer Techniken eingestiegen. Im Dezember 1956 beschloss der NRW-Landtag den Bau einer „Atomforschungsanlage“. Einer der ausgesuchten Standorte war Köln, aber die Stadt wollte von Atomreaktoren auf ihrem Gebiet nichts wissen. Am Ende fiel die Entscheidung auf Jülich – begleitet wurde der Atom-Einstieg von großer Euphorie.

Schon 1958 wurde der Grundstein für die Forschungsreaktoren Merlin und Dido gelegt, 1962 ging die Anlage in Betrieb. Die KFA Jülich stand für den Glauben an eine leuchtende Zukunft: Saubere und preiswerte Energie im Überfluss; jede Stadt und jedes Dorf würde einen eigenen Reaktor haben – das Energieproblem wäre für alle Zeit gelöst. Und wenn sie nicht gestorben sind ...

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Gleich nebenan nahm 1967 der formal KFA-unabhängige Hochtemperaturreaktor AVR (Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor) die Stromproduktion auf, unter – wie sich später herausstellte – heiklen und zunehmend gefährlichen Umständen.

Mitte der 1980er Jahre reduzierte die KFA ihre Arbeiten im Bereich Kernenergie deutlich, es wurden neue wissenschaftliche Themen aufgegriffen . Die Umbenennung in „Forschungszentrum Jülich GmbH“ (FZJ) erfolgte 1990 und war ein kluger Schritt.

Die Spuren der Atomzeit sind erhalten. DIDO steht noch, aus dem damaligen Löschteich ist der fischreiche See am Casino geworden. Und immer noch lagern 152 Castoren mit strahlenden Brennelementen – eine Lösung für Transport oder Endlagerung ist nicht gefunden. Bis heute nicht.

Heute sehen die Jülicher eine zentrale Aufgabe – unter anderem – in der Bewältigung des Strukturwandels im Revier. Am Institut für Bio- und Geowissenschaften arbeitet Professor Ulrich Schurr, er ist Pflanzenwissenschaftler. Das Geheimnis, dem er und seine Kollegen weltweit auf der Spur sind: Warum verhalten sich Pflanzen so, wie sie es tun? Gemeinsam mit der Europäischen Raumfahrt-Organisation ESA soll ab dem Jahr 2024 – ein großer Schritt – mittels Satelliten die Photosynthese von Pflanzen vom All aus gemessen werden. Man ahnt, dass hier nach einer Weltformel gesucht wird – wie kann man die künftigen acht, neun, zehn Milliarden Menschen auf der Erde nachhaltig ernähren und gleichzeitig sicherstellen, dass der Planet bewohnbar und gesund bleibt?

Die andere Seite von Schurrs Arbeit spielt direkt im Rheinischen Revier. „Bio-Ökonomie“, sagt Schurr, „bedeutet ganz verkürzt: mit Bio nachhaltig arbeiten.“ Er war eine Zeit nur so halb glücklich mit der Lage des ansonsten famosen Forschungszentrums inmitten der Tagebaue. Inzwischen denkt der Professor anders, aus praktischen Gründen: „Wir haben hier im Revier alle Komponenten für eine Modellregion in der Bioökonomie“ – gute Lage, gute Infrastruktur für Forschung und Handwerk, geschulte Leute. Das bevorstehende Ende der Braunkohle beschleunigt die Dinge nur. „Strukturbrüche sind immer gut“, sagt Schurr, „man muss sich nämlich entscheiden: Was will man jetzt?“

Vielleicht die nächste Energiewende. Anfang Oktober war in Inden das neue Helmholtz-Cluster für nachhaltige und infrastrukturkompatible Wasserstoffwirtschaft (HC-H2) vorgestellt worden. „Das Leuchtturmprojekt“ für forschungsgetriebene neue Wertschöpfung wird über einen Zeitraum von etwa 17 Jahren mit rund 860 Millionen Euro durch das Bundesforschungsministerium gefördert. Auch das Land Nordrhein-Westfalen beteiligt sich.

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