Erst Corona, dann die Flut„Die potenzierte Katastrophe“

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Zwei Brüder vor ihrem von der Flut zerstörten Elternhaus in Altenahr: ein bewegendes Bild des Leids.

Köln – Herr Grünewald, erst Corona, dann die Flut. Eine Krise jagt die nächste. Was macht das mit dem Seelenhaushalt der Betroffenen? Sie erleben die Krisen nicht bloß als Abfolge. Vielmehr überlagert und potenziert die Flutkatastrophe das Pandemiegeschehen. Was den Menschen in der Corona-Krise Halt, Stabilität und eine Rückzugsmöglichkeit geboten hatte, die eigene Wohnung, das Haus, das Gärtchen dahinter, die man im Lockdown verschönert, gehegt und gepflegt hat – alles das ist überflutet und unterspült worden.

Eine doppelte existenzielle Erschütterung?

Zunächst eine doppelte Ohnmachtserfahrung. Ist das Corona-Virus den Menschen als unsichtbarer Feind gegenüber getreten, ist jetzt die Flut als ein Feind hinzugekommen, der zwar sichtbar, aber in seiner Schnelligkeit und seiner Wucht dennoch unbezwingbar ist. Der Grad der Erschütterung wird deutlich, wenn Flutopfer sagen: „Wir sind noch am Leben. Das ist das Einzige, was jetzt zählt“. Wir hören in unseren tiefenpsychologischen Interviews die bange Frage: Wo kann ich denn jetzt überhaupt noch bleiben? Wo gibt es überhaupt noch Sicherheit?

Welche Antworten geben sich die Menschen dann selbst?

In der Corona-Krise folgten als Reaktion auf die Bedrohung allerlei Übersprungshandlungen: Es wurde gehamstert, geputzt und gewerkelt. Aber man machte sich auch ein Stück unsichtbar. Die Flut bietet jetzt buchstäblich einen produktiven Anpack: Bei den Aufräumarbeiten, in der tätigen Solidarität sind viele Menschen förmlich über sich hinaus gewachsen. Und sie sind präsent – im Füreinander da.

Das hat etwas Tröstliches?

In der Krise wandelt sich die Beziehung zu den Nächsten. Corona hat den Mensch neben mir zum potenziellen Virenträger und Infektionsherd gemacht, den es zu meiden galt. Jetzt ist der Nachbar wieder mein Freund und Helfer: Nähe, Gemeinschaft und Zusammenhalt statt Social Distancing. Das überträgt sich auch die Menschen, die außerhalb der Katastrophenregionen leben. Deutlichster Ausdruck dafür ist die Spendenflut für die Flutopfer.

Die Flut ist aber ein punktuelles Geschehen, die Pandemie als latente Bedrohung bleibt.

Im Augenblick hat sich die viel beschworene „vierte Welle“ tatsächlich komplett anders dargestellt, als die Metapher es nahelegte. Die Flutwelle ist sehr real und mit elementarer Gewalt über NRW, Rheinland-Pfalz und auch über Bayern hinweggerollt. Wir ahnen zwar, dass andere Krisen – der Klimawandel, die weltweite Migration, die ökonomische Herausforderung durch den Wirtschaftsgiganten China – mindestens so komplex, langwierig und schwierig in der Bewältigung sein werden. Aber wir lernen auch, uns mit Krisen wie der Pandemie einzurichten.

Ist der Gewöhnungseffekt nicht gefährlich?

Die Menschen neigen angesichts drohender Gefahren von jeher dazu, sich lieber mit einer schon bekannten Gefahr zu arrangieren, als der unbekannten, neuen Gefahren ins Auge zu schauen. Insofern sind wir jetzt an einem Kipppunkt. Wir müssen angesichts der nächsten Welle der Pandemie weiter vorsorgen. Wir müssen zugleich vorsorgen, dass der nächste Starkregen die Misere nicht noch verschlimmert. Die Abfolge der Krisen bestätigt aber auch die Erfahrung, dass es meistens anders kommt, als man denkt. Womöglich erleben wir schon bald ein neues Fiasko, von dem wir bislang nicht die geringste Ahnung haben. Und wenn wir die Dämme stabilisiert und die beschädigten Häuser gesichert haben, kann es an einer ganz anderen Stelle neu losbrechen.

Na toll.

Sehen Sie es mal so: Die Corona-Krise war eine Art Spaltpilz. Die Gesellschaft, aber auch Freundeskreise, Nachbarschaften und ganze Familien haben sich entzweit. Wir haben Glaubenskriege um den richtigen Weg der Pandemiebekämpfung geführt. Jetzt aber besinnen wir uns anstelle des Fundamentalistischen auf das Fundamentale: Was zeichnet uns als zivilisierte Menschen aus? Was hält uns als Gesellschaft zusammen? Diese Frage eint eher, als dass sie trennt, und die Menschen bilden im besten Sinne ihre eigene Kultur aus – in Form von Helfer-Gemeinschaften und mit einer zivilen Mobilisierung gegen die Gewalt der Natur.

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Wenn uns jetzt wieder die Corona-Krise einholt, wie kann die Impfbereitschaft am ehesten erhöht werden?

Ich rate dazu, auf Freiwilligkeit zu setzen. Wir sind ja jetzt in einer sommerlichen Selbstvergessenheit. Die Infektionszahlen sind niedrig, die Erkrankungen im Rahmen. Lange Zeit war das Ergattern eines Impftermins gut fürs Sozialprestige, weil Impfstoffe ein begehrtes, knappes Gut waren. Jetzt werden einem die Impfdosen fast nachgeworfen. Das passt zur abwartenden, leicht dösigen Sommerstimmung. Ich setze aber darauf, dass die Impfbereitschaft nach dem Ende der Ferien, angesichts steigender Infektionszahlen und einer erkennbaren Gefährdungslage wieder steigt und wir uns der Herdenimmunität nähern.

Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er spricht aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen. 

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