Europa-Reise: KatalonienNachtgruß für politische Häftlinge mit dem Megaphon

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Europareise Jonah _Katalonien

Student und Freiheitsaktivist: Joan aus Katalonien will die Unabhängigkeit von Spanien.

  • Eine Woche lang ist unser Reporter Jonah Lemm kurz vor der EU-Wahl durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was Europa zusammenhält.
  • Bei seiner fünften Station in Katalonien trifft er auf Joan, der für die katalanische Unabhängigkeit und Freiheit kämpft.
  • Warum er dafür mit einem Megafon auf einen Hügel klettert – und was den Inhaftierten im Gefängnis gegenüber zuruft.

Katalonien – Auf einem kleinen Hügel an einer Straße ohne Namen steht ein Mann ohne Nachnamen und kämpft für einen Staat, den es nicht gibt. Joan, dünne Arme, gelbes T-Shirt, steigt auf die Eisenplatte, die er auf einen Holzstamm genagelt hat, seine provisorische Sprecherempore im provisorischen Widerstandslager.

Ein Ort der Vergessenen

Der Blick von hier reicht weit, aber die Sandsteine des Montserrat-Gebirges umzingeln den Horizont. Provinz, Ödnis, wenn auch schön. Wenn jemand vergessen werden soll, pack ihn hierhin, wo kein Navigationssystem hinführt, wo nur Koordinaten den Standort von Joans Hügel verraten können. Ein gelber Plastikschriftzug flattert zwischen den Baumwipfeln im Wind: „Freiheit für die politischen Gefangenen“ steht da.

Vor Joan führt ein Graben steil hinunter zum Stacheldrahtzaun. Dahinter liegt das Centre Penitenciari dels Lledoners, ein Hochsicherheitsgefängnis, viereckiger Neubau mit braunem Flachdach. In der Mitte ein Innenhof. Drei Fahnen wehen in der Ferne, am offiziellen Eingang: Die spanische, die katalanische und die der Europäischen Union.

Ein Gute-Nacht-Gruß für die Gefangenen

Joan hält sich sein Megafon vor den Mund und brüllt „Bona nit“. „Gute Nacht“. Es ist 16 Uhr. „So habe ich das immer gemacht“, sagt er. Von Tag eins bis zum bisher letzten Tag. Vom 4. Juli 2018 bis zum 31. Januar 2019. Als sieben der zwölf Separatistenführer hier in Haft saßen, nachdem sie mit ihrer illegalen Unabhängigkeitserklärung für Katalonien im Oktober 2017 gescheitert waren. 212 Nächte lang wünschte Joan jedem von ihnen um 20.45 Uhr namentlich eine „Gute Nacht“.

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Geht im Moment nicht mehr. Nach fast anderthalb Jahren Untersuchungshaft sind sie seit Februar dieses Jahres vor dem Obersten Gericht in Madrid angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert teilweise Haftstrafen bis zu 17 Jahren. Der offizielle Vorwurf: Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung. „Ich vermisse sie hier sehr“, sagt Joan. Einmal war er bisher auch in Madrid und hat vor dem Gerichtsgebäude demonstriert. Ansonsten kommt er noch immer auf den Hügel. Einmal in der Woche mindestens. Nachsehen, ob noch alles an seinem Platz hängt, die vielen Fahnen und Schilder zwischen den Ästen noch gut zu sehen sind. Es soll alles noch genauso sein wie vorher, sollten die Separatistenführer tatsächlich noch einmal zurückkommen müssen. „Die spanische Justiz wird kein faires Urteil fällen“, sagt Joan.

Anonymer Aktivismus

Dass man sich auf dem Hügel, eine Stunde Fahrtzeit von Barcelona entfernt, trifft, war sein Vorschlag. „When I have an interview always I met in the hill“, hatte er eine Woche vorher per Mail geschrieben. Er will anonym bleiben, sein Aktivismus soll im Vordergrund stehen, nicht seine Person. Im Internet nennt er sich „Joan #BonaNit“, das steht auch auf der Rückseite seines T-Shirts. Er wohne in Manresa, einer 75000-Einwohnerstadt ziemlich genau in der Mitte Kataloniens, werde im Mai 23 Jahre alt und studiere. Der Rest bleibt geheim. Zwei Wochen später wird ihn das Oberste Gericht im Prozess als Zeugen vorladen, die Öffentlichkeit sieht zum ersten Mal sein Gesicht. Heute aber, an einem warmen Samstag im April, nimmt er seine Sonnenbrille während des gesamten Treffens nicht ab. Eine Kolonne Geländelimousinen bringt ihn her. Joan hat seinen Vater, seine Mutter, seine Schwester, ihre zwei Töchter, seinen Schwager und ein paar Freunde dabei. Von ihnen trägt keiner eine Sonnenbrille.

„So haben wir angefangen“, sagt Joan, „Nur meine Familie, ein paar Bekannte und ich. Wir wollten unseren Anführern zeigen: Ihr seid nicht allein, das ist ein gemeinsamer Kampf.“ Am ersten Abend schrie Joan seine Gutenacht-Grüße noch aus dem Hals. Seine Stimme wurde heiser, ein Freund besorgte dann das Megafon. Einen Monat später ein Anruf, von jemandem, dessen Identität er nun schützen will. Dieser Jemand aber erzählte Joan, um welche Zeit der abendliche Hofgang im Gefängnis stattfindet. Im August, so berichtet es Joan, antworteten ihm die Seperatistenführer zum ersten Mal. Es hallte aus dem Innenhof. Sie wünschten eine gute Nacht zurück.

Weihnachtsfest auf dem Hügel

Joan spricht kaum Englisch. Eine Freundin, Mireia, die sogar ihre Ausweisnummer in meinen Block schreibt, als ich sie um ihren Namen bitte, hilft bei der Übersetzung. „Zuletzt waren wir teilweise mit 4000 Menschen hier“, sagt sie, merklich stolz. Diese Zahl ist kaum nachprüfbar. Schaut man allerdings das Video vom 25. Dezember, das Joan selbst ins Internet gestellt hat, scheint das nicht unrealistisch. Eine riesige Masse drängt sich in dem Clip um Joan, der allein seine Schreie in die Stille schickt. Dann jubeln sie zusammen, singen Lieder. Das ganze Weihnachtsfest, sagt Joan, hätten sie auf dem Hügel verbracht. Noch immer steht der große Baum, an Girlanden hängen in rot, gelb, blau. Die Blätter ergeben sich langsam der Frühlingssonne.

Joan sagt, er wisse selbst nicht, wie sein Protest so bekannt werden konnte. Seine Präsenz auf verschiedenen Sozialen Medien habe sicher geholfen und auch, dass das katalanische Fernsehen und Radio über ihn berichteten. Wichtig sei ihm, dass alles immer ein freundliches Beisammensein blieb. „Wir sind keine Terroristen, wir wollen nur unsere Freiheit. Katalanen sind immer friedlich“, sagt er.

Friedlicher Protest ohne Gewalt

Das klang kurz vor Weihnachten noch anders, als der katalanische Regierungschef Quim Torra forderte: „Schreiten wir voran zur Freiheit. Mit allen Konsequenzen. Machen wir es wie die Slowenen.“ Slowenien wurde 1991 nach einem Krieg von Jugoslawien unabhängig. 60 Menschen starben dabei. Torras Organisation gilt eigentlich als friedfertig. Experten glaubten, er hätte das mit dem Krieg vielleicht gar nicht gewusst.

„Keine Gewalt“, sagt jetzt Joans Vater. „Wir wollen friedlich mit allen Ländern zusammenleben.“ Aber eben als eigenes Land. „Spanien erkennt unsere Sprache nicht an, unsere Kultur. Wir sind Katalanen und keine Spanier. Mittlerweile gibt keinen anderen Weg mehr als die Unabhängigkeit“, sagt Joan. Was, wenn die spanische Regierung nicht nachgibt? „Irgendwann muss sie nachgeben.“

Spanien will Katalonien nicht loslassen

Nach einem durchdachten Plan klingt das nicht. Denn Spanien wird Katalonien nicht loslassen wollen. Die Region liefert Geld. Viel Geld. Katalonien besitzt eine der höchsten Wachstumsraten innerhalb der Europäischen Union. Auch der Akademiker-Anteil ist in kaum einem anderen Land der EU so hoch wie in Katalonien. „Ich denke, die EU sollte uns in unserem Kampf unterstützen“, sagt Joan. Aber eigentlich sei es ihm egal, ob Katalonien irgendwann einmal zur Union gehöre. Hauptsache nicht mehr zu Spanien.

Deswegen blockieren sie, was geht. Autonome Katalanen besetzen mittlerweile Straßen und Zuggleise. Gerade erst ist auch das spanische Parlament mal wieder zerbrochen. An Katalonien. Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte seinen Kompromiss-Kurs mit der Region kurzzeitig verlassen. Die beiden separatistischen Parteien stimmten daraufhin gegen Sánchez“ Haushaltsentwurf. Auch wenn der vorsah, die Ausgaben in Katalonien um mehr als 50 Prozent zu erhöhen. So erzwangen sie Neuwahlen.

Befreiung der politischen Gefangenen

Der Tag des Treffens mit Joan ist auch der Tag vor der dritten spanischen Parlamentswahl innerhalb von vier Jahren. „Unser wichtigstes Ziel ist es“, sagt der, „dass die politischen Gefangenen aus dem Gefängnis kommen. Sie sind unschuldig. Und nicht, weil wir das sagen. Sie sind es.“ Kurz bevor sie nach Madrid gebracht wurden, schrieb der ehemalige katalanische Innenminister Quim Form einen Brief an die Gefängnisleitung. Er wünschte sich, dass Joan ihn besuchen darf. Als sie sich das erste Mal trafen, so erzählt es der junge Mann heute, soll Form zu ihm durch die Gegensprechanlage gesagt haben: „Ich liebe dich, Joan. Danke für alles.“

Als die Sonne ganz oben im Himmel steht, wie ein riesiger Scheinwerfer, baut Joans Mutter einen Klapptisch auf dem Hügel auf, stellt selbstgebackenen Kuchen darauf, füllt Plastikbecher mit Sekt. Was gibt’s zu feiern? „Der FC Barcelona wird heute Meister werden“, sagt Joan. Am Abend schlägt der FC Barcelona den UD Levante, einen Klub aus Valencia, mit Eins zu Null. Zum 26. Mal gewinnt der Verein die Liga. Es ist die spanische.

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