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Europa-Reise: London„Nichts anderes als ein harter Brexit ist vernünftig”

Lesezeit 7 Minuten
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David Johnson sagt, nichts anderes als ein harter Brexit sei vernünftig. 

  • Vor der Europa-Wahl ist unser Reporter Jonah Lemm eine Woche lang durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was Europa zusammenhält.
  • Bei seiner dritten Station in London trifft er auf Engländer, die für eine Sache brennen: den Brexit, pro und contra. Einer hat sogar seinen Job aufgegeben, um täglich demonstrieren zu können.
  • David Johnson demonstriert für einen harten Brexit, Steve Bray für den EU-Verbleib. Fast jeden Tag, seit zwei Jahren. Sie sind sich ähnlicher, als sie ahnen.

London – Seit der Zirkus weg ist, hat Steve Bray mehr Zeit zum Rauchen. Kaum ein Abgeordneter des britischen Unterhauses kommt nach den Sitzungen noch hier raus, kaum einer hat noch Lust mit den Reportern zu reden, sagt Bray und steckt die zweite Kippe in 20 Minuten an. Und weil auch die Kamera-Teams weg sind, könne er seinen Job nicht mehr richtig machen.

Seit er Tag für Tag um vier Uhr aufsteht, hat David Johnson mehr Zeit zum Nachdenken. Er habe es doch gewendet und gedreht, wie es nur geht. Aber nein, nichts anderes als ein harter Brexit sei eine vernünftige Lösung. Deswegen steht er jetzt hier und will die Menschen überzeugen. Nur kommt gerade irgendwie keiner.

Bray hat den Parlamentsvorplatz, das College Green, schräg gegenüber des Big Bens, annektiert, pafft und telefoniert, telefoniert und pafft. Am Morgen haben er und seine Leute EU-Flaggen an die Laternen des Parlamentsvorplatzes gebunden. Sonst wird ein bisschen gelangweilt in der Gegend herumgestarrt. Um seinen Rücken hat Bray ein Tuch seiner Bewegung „Sodem“ gelegt, in seiner linken Hand hält er ein Schild, „Stop the Brexit Mess“ ist darauf gedruckt.

Johnson hat die Hände hinter dem Rücken gefaltet wie die Rentner im Park, er geht vor und zurück, zurück und vor, dort, 50 Meter weiter, wo die Straße schon wieder schmal wird und sich Männer in Anzügen mit Touristen einen Drängel-Wettbewerb liefern.

Manchmal, wenn der Wind eine Böe schickt, wackelt sein selbstgebauter Plakatstand aus weißen Plastikrohren gefährlich, dann droht das Spruchband herunterzufallen, „17.4 Million say leave – so leave the EU now“ steht da.

Im Moment, sagt Bray, sei ja hier nichts mehr los, eben kein Medienzirkus mehr. Er komme aber noch morgens um sechs, weil sonst dieser Typ da früher als er hier wäre und ihm seinen Platz klaue. Bray bleibt dann bis 18 Uhr. Manchmal schickt er danach Freunde als Nachtwachen.

Ich will den blöden Platz gar nicht, sagt Johnson, hier stehe ich doch gut. Der ist da schon richtig, direkt vor dem Parlament, wo sich sowieso die ganzen Clowns aufhalten.

Der Brexit hat die britische Gesellschaft zerrissen und das ziemlich genau in der Mitte. Als am 23. Juni 2016 gut 52 Prozent der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union stimmten und 48 Prozent dagegen, war das auch ein Zahlen-Polaroid eines Landes, das sich nicht mit sich selbst einigen konnte, darauf, was für ein Land es überhaupt sein will. Arbeitskollegen hörten auf, miteinander zu sprechen, Paare trennten sich wegen einer unterschiedlichen Stimmabgabe, Kinder und Eltern stritten öffentlich in BBC-Beiträgen über das richtige Richtig und das falschere Falsch. All diese Geschichten gibt es.

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Dies aber ist die Geschichte zwei älterer Herren. Sie begegnen sich mindestens jeden zweiten Tag vor dem britischen Parlamentsgebäude. Steve Bray ist für die EU, David Johnson dagegen. Bray war eher da, Johnson später und mit der unpopuläreren Position für die Medien, aber nicht weniger ausdauernd. Beide tragen einen Hut.

Steve Bray, EU-blauer Zylinder, kommt seit September 2017 an jedem Sitzungstag vor das britische Unterhaus. Um Punkt sechs Uhr ruft er „Stop Brexit“. Wenn Politiker nach den Sitzungen das Gebäude verlassen, drängt sich Bray in die TV-Interviews. Entweder in den Hintergrund, dann zeigt er nur sein Schild. Oder er schreit durch ein Megafon, naja, „Stop Brexit“ eben. Abgeordnete sind genervt von ihm, Medien lieben Bray. Von der Washington Post bis zur Zeit haben ihn schon alle interviewt oder porträtiert. Er ist landesweit als „Mr. Stop Brexit“ bekannt.

David Johnson, Strohhut mit England-Flaggen, kommt seit vergangenem Jahr an jedem zweiten Tag, egal, wer da im Gebäude tagt oder auch nicht. Er ruft nichts. Die Medien interessieren sich nicht für Johnson. Er wurde noch nie interviewt. Er ist gar nicht bekannt. Sie hätten schon öfter, sagt Bray, versucht, miteinander ins Gespräch zu kommen. Aber Johnson hätte einfach keine Argumente, eine ganz verquere Sicht auf die Welt. Einer von denen, die auf Nigel Farage hereingefallen wären, diese Brexit-Einmann-Werbeagentur. Klar, die EU ist nicht perfekt. Aber wer will schon allein auf einer kleinen Insel sein? Die – nebenbei gesagt – doch heute niemals so wohlhabend wäre, wenn sie nicht 1973 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten wäre? „Nigel ist ein hervorragender Redner“, sagt Johnson, „hundertmal besser als diese ganzen Gangster.“ Er zeigt jetzt auf Bray. Ob man wissen würde, was das Problem mit dem da sei? Der hätte die Demokratie nicht verstanden! „Leave“ heißt „Leave“, sagt Johnson. Die „Remainer“ (die „Bleiber“) nennt er „Remoaner“, weil sie noch immer dem Referendum hinterhertrauerten. Theresa May nennt er „Treason („Verrat“) May“, weil sie sein Land verrate. Europäische Gemeinschaft, bitte was? Ein gemeinsamer Markt wurde versprochen, sagt Johnson. Und was ist? Für Italien und Spanien sei der Euro ein Desaster. Auf die Frage, was das mit dem Vereinigten Königreich zu tun habe, antwortet er: „Ich habe kein Problem mit Europäern. Aber mit Diktaturen.“

Steve Bray glaubt, er und David Johnson seien vielleicht einfach zu unterschiedlich, um vernünftig miteinander zu diskutieren.

Beruf für tägliche Demonstration aufgegeben

Steve Bray war Numismatiker, bevor er seinen Beruf für die tägliche Demonstration aufgab. Um seinen Protest zu finanzieren, verkaufte er fast alle Münzen aus seiner Privatsammlung. David Johnson war früher Bauarbeiter, jetzt ist er Rentner. Steve Bray hat eine Wohnung im Londoner Stadtteil Tooting, von einem reichen Remainer gesponsert, er teilt sie sich mit einem Boris-Johnson-Doppelgänger. David Johnson fährt morgens über eine Stunde in die Stadt. Steve Bray hat mittlerweile viele Mitstreiter, heute sind acht andere dabei. David Johnson ist immer alleine. Steve Bray ist 49, David Johnson über 20 Jahre älter.

David Johnson glaubt, er und Steve Bray hätten einfach zu wenig Gemeinsamkeiten.

David Johnson kommt aus der Provinz, Rochester in Kent. 64 Prozent haben hier für Leave gestimmt. Steve Bray kommt aus einer Kleinstadt, Port Talbot, Südwales. Gut 57 Prozent haben hier für Leave gestimmt. David Johnsons größte Angst ist, dass Theresa Mays Deal durchkommt. Steve Bray hofft, dass Theresa May ihren Deal nicht durchs Parlament boxt. David Johnson setzt sich nie hin, wenn er hier demonstriert. Steve Bray bleibt immer stehen, wenn er demonstriert. David Johnson ist noch nie vorher für irgendwas auf die Straße gegangen. Steve Brays Protest ist sein erster überhaupt. David Johnson steht im Halteverbot. Steve Bray auch. 

Drei Pfund hat Steve Bray seit Beginn seines Protests zugenommen und wieder verloren. Jetzt ist Zeit fürs Mittagessen, sagt er und holt Sandwiches aus seinem Wagen, einem grauen VW, den er – auch das Zeichen des Protests – so illegal direkt vor dem britischen Parlamentsgebäude geparkt hat, dass man meint, er verstoße gerade mindestens gegen die Hälfte aller Straßenverkehrsordnungs-Paragrafen. Bray sagt, man habe sich an ihn gewöhnt und deswegen dürfe er das, schließlich erkenne man ihn an den EU-Fahnen auf dem Dach. Ein Polizist kommt vorbei und grüßt Bray mit einem Schulterklopfer.

Johnsons Wagen: ein Union Jack auf Rädern

Johnsons Wagen, ein blauer Toyota, parkt vielleicht fünf Meter davor. Ein Union Jack auf Rädern. Eine Flaggen-Girlande zieht sich über die Mitte der Windschutzscheibe, bedeckt die gesamte Motorhaube. Zwei weitere Autofahnen, Typ Fußball-WM-Gruppenphasen-Euphorie, klemmen zwischen Fenstern und Karosserie. Auch Johnson sagt, er kriege hier keine Tickets. Ein Lkw-Fahrer hupt ihm zu, Johnson antwortet mit zwei Daumen nach oben.

Steve Bray sagt, er spüre in England eine neue Begeisterung für Europa, seit der Austritt so schlecht laufe. David Johnson sagt, er glaube nicht, dass seit der Abstimmung jemand seine Meinung geändert habe. Steve Bray sagt, ein Austritt sei Science-Fiction. Das passiere nicht. David Johnson sagt, der Austritt sei indiskutabel. Das passiere auf jeden Fall.

Steve Bray sagt, er hoffe, dass diese ganze Hin und Her bald ein Ende habe. David Johnson sagt, er auch. 

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