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Fall Anne SpiegelStrukturen sind für Menschen mit Kindern nicht gemacht

Lesezeit 4 Minuten
Anne Spiegel DPA Schule 110421

Die ehemalige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel bei einem Besuch in einem Impfzentrum.

  • Einen verantwortungsvollen Job machen und gleichzeitig eine gute Mutter sein?
  • Der Fall Anne Spiegel treibt Millionen Väter und Mütter um.
  • Eine Einordnung.

Köln. – Geht alles? Karriere und Familie? Einen verantwortungsvollen Job machen und gleichzeitig eine gute Mutter sein? Dazu eine verlässliche und stützende Partnerin? Die Frage, welche der Fall Anne Spiegel aufwirft, treibt Millionen von modernen Müttern und Vätern um. Das Gefühl, ungenügend zu sein,  ist ein schmerzhafter Begleiter wohl fast alle derer, die angetreten sind mit dem festen Vorsatz, beide Lebenswelten miteinander verbinden zu können. 

Das Private ist politisch. Anne Spiegel hätte als Bundesfamilienministerin mit vier kleinen Kindern ein Rolemodel sein können. Sie hätte vorleben können, dass es nicht nur individuell bereichernd sein kann, Kinder und Spitzenamt miteinander zu verbinden, sondern dass – was viel wichtiger ist – auch die Gesellschaft davon profitiert, wenn nicht nur ein kleiner Teil der Bevölkerung (meist männlich, oft kinderlos) an Entscheiderpositionen sitzt.

Dauerndes Gefühl der Zerrissenheit

Dass es Familien nützen kann, wenn jemand über Kindergrundsicherung,  Familienförderung und Elternzeitregelungen mitbestimmt, der genau weiß, wovon er spricht. Der selbst schon versucht hat, die Lücke zwischen Kitaschließung und Dienstschluss mit wackligen Konstruktionen zu überbrücken. Der weiß, wie viel ein Familienurlaub kostet und eine Wohnung für sechs. Der fürs Homeschooling zwischen zwei Meetings die rudimentären Kenntnisse des Ablativus absolutus aufgefrischt hat, damit der Nachwuchs von seiner fünf in Latein runterkommt. Der Streit hat mit dem Partner, weil nach einem langen Sitzungstag das Frühstücksgeschirr noch auf dem Küchentisch steht und mal wieder jeder vergessen hat, frisches Brot zu kaufen. Der das Gefühl der Zerrissenheit kennt, die die Sorge um eine Familie mit sich bringt. Und gerade deshalb der beste Anwalt für eine Veränderung der Strukturen sein könnte.

Denn unsere gesellschaftlichen Strukturen sind nicht für Menschen mit Kindern gemacht.  Was auch daran liegen könnte, dass diejenigen, die Einfluss auf die Strukturen haben, häufig keine Sorgearbeit leisten müssen. Verantwortungsvolle Jobs sind auch 2022 in ihrer Mehrzahl an eine 40-Stunden-Woche geknüpft. Kitas schließen in der Regel  um 16.30 Uhr. Väter, die mehr als zwei Monate Elternzeit nehmen wollen, ernten in vielen Betrieben immer noch hochgezogene Augenbrauen. Das Steuerrecht legt nach wie vor das Modell eines männlichen Haupternährers nahe und unterstützt nicht jene, die gleichberechtigt leben wollen.

40 Prozent der Eltern fühlen sich dauerhaft gestresst

Die permanente Totalüberforderung verspüren nicht nur hochbezahlte Ministerinnen, sondern all jene Menschen, die neben ihrer Vollzeittätigkeit noch Kinder erziehen, Eltern pflegen und Partnerschaften am Leben halten wollen. 40 Prozent der Mütter und Väter in Deutschland fühlen sich wegen der hohen Anforderung dauerhaft gestresst, wie eine Umfrage von der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) und Forsa schon vor der Corona-Pandemie gezeigt hat. 

Das hohe Arbeitspensum in Familien bleibt nicht ohne Folgen: 79 Prozent der Befragten, die häufig unter Stress stehen, leiden regelmäßig an Erschöpfung bis hin zum Burnout. 77 Prozent empfinden Nervosität und Gereiztheit und ein fast ebenso großer Anteil der gestressten Eltern leidet unter Müdigkeit und Schlafstörungen. In einigen Fällen führt der Stress sogar zu Depressionen und Angstzuständen. Die Corona-Pandemie hat die Lage noch verschärft. Laut Müttergenesungswerk hat jede vierte Mutter mit Kindern unter zwölf Jahren Kurbedarf.

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Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der soziale Gefüge wie Familien einen hohen Wert haben sollen, dann müssen wir ihr auch mehr Platz einräumen. Wir müssen uns vom Maßstab für Erwerbsarbeit in Übervollzeit verabschieden. Wir müssen Eltern – auch in Führungspositionen – Pausen einräumen, wenn die Familie in Schieflage gerät. Wir müssen unbezahlte Arbeit gerechter verteilen.

Anne Spiegel hätte in all dem eine Anwältin für die Familien dieses Landes sein können. Auch und gerade in der Offenheit, zuzugeben, dass der Spagat zwischen Job und Familie unter gegenwärtigen Bedingungen ein überfordernder ist. Dafür hätte sie ihre Nöte aber offenbaren müssen, ehe sie mit dem Rücken zur Wand stand. Sie hätte damit mit Hilfe ihre eigene Geschichte für mehr Verständnis für Familien werben können. Stattdessen hat sie versucht, ihre Schwierigkeiten zu vertuschen - vielleicht auch aus übersteigertem Ehrgeiz. Anderen Müttern und Vätern hilft das nicht weiter.

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