Gewinner und VerliererSo stehen Parteien und Kandidaten sechs Wochen vor der Wahl

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Laschet Baerbock Scholz

Armin Laschet (CDU, l.), Annalena Baerbock (Grüne) und Olaf Scholz (SPD) in einer Talkrunde.

Berlin/Köln – Sechs Wochen sind es noch bis zur Bundestagswahl am Sonntag, 26. September. Wo stehen die Parteien? Wo steht die Kanzlerkandidatin und die -kandidaten? Wie wirken sich die Corona-Pandemie und die Flutkatastrophe auf die Wählerstimmen aus? Ein Überblick in Fragen und Antworten.

Wo stehen die Parteien im Wahlkampf sechs Wochen vor der Wahl?

Die Umfragen aller führenden Meinungsforschungsinstitute stimmen in den wesentlichen Ergebnissen überein: Die Union ist und bleibt stärkste Partei, verliert aber – mehr oder weniger rapide – an Zustimmung. Von diesem Negativtrend profitiert vor allem die SPD, während die Grünen auf dem Niveau der vorigen Wochen verharren.

Die Demoskopen verweisen allesamt auf die Unsicherheit von Umfragen und betonen, dass es sich nur um ein Meinungsbild zum Zeitpunkt der Befragung handelt.

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Das gilt umso mehr, als etwa ein Viertel der Wahlberechtigten noch unentschlossen ist, ob sie überhaupt wählen gehen und wem sie ihre Stimme geben wollen. „Die Wahlentscheidung fehlt tendenziell kurzfristiger und spontaner. Das ist speziell ein Problem für die Union: Die sichere Bank der Stammwähler gibt es nicht mehr“, sagt Professorin Sophie Schönberger, Parteienforscherin an der Universität Düsseldorf.

Wie stehen die Chancen der Kanzlerkandidaten?

Bei der – hypothetischen – K-Frage nach der Direktwahl des Kanzlers hat sich Olaf Scholz in allen Umfragen auf Platz eins geschoben und deutlich von der Konkurrenz abgesetzt. Annalena Baerbocks trudelte nach anfänglichem Höhenflug nach unten, während Laschet zuletzt regelrecht abgestürzt ist. Die aktuellste Umfrage (Forsa) sieht ihn nur mehr als Letztplatzierten, bei „insa“ liegt er mit Baerbock gleichauf.

Wie erklärt sich der Absturz von Armin Laschet?

Für den Psychologen Stephan Grünewald, der mit seinem „rheingold“-Institut eine tiefenpsychologische Studie zum Wahlkampf erstellt hat, hat der tiefe Fall des Kandidaten eindeutig mit seinem Lacher während eines Besuchs im Flutkatastrophengebiet zu tun. „Dieser Faux-pas wirkt ungeheuer nach, das haben wir selten so erlebt“, sagt Grünewald. „Die Menschen vermissen das Staatsmännisch-Respektvolle und fragen sich, welches Bild Laschet als Kanzler etwa neben Größen wie Wladimir Putin oder Joe Biden abgäbe.“

Zudem fehlt Laschet der Kanzlerbonus, da Angela Merkel noch im Amt ist – und im Beliebtheitsranking zudem unangefochten auf Platz eins steht. „Der Unions-Wahlkampfschlager »Keine Experimente!« geht in der K-Frage ins Leere“, sagt Sophie Schönberger. „So richtig positiv war die Stimmung für Laschet nie. Und zuletzt hat er wenig gezeigt, was seine Beliebtheitswerte hätte steigern können. Fahrige, pampige Erstreaktionen auf die Flutkatastrophe machen eine etwaige Charme-Offensive mit dem Ziel, die Sache herumzureißen, wenig glaubwürdig. Und bis zur Wahl ist nicht davon auszugehen, dass Charisma vom Himmel fällt.“

Was ist mit Olaf Scholz?

Olaf Scholz steht momentan – ein wenig überraschend – als Gewinner dar. „Er ist der lachende Dritte, weil er nicht lacht“, kalauert Grünewald und fügt mit größerem Ernst hinzu: „Die Konstanz-Erwartung an Laschet und die Union richtet sich jetzt zum Teil auf den SPD-Kandidaten, der lange Zeit komplett übersehen wurde.“Das Problem: Die SPD sei in der Großen Koalition unter Angela Merkel gleichsam diffundiert, aus der Wahrnehmung verschwunden. „Fragt man die Menschen, »wofür steht die SPD?«, dann kommen als Antworten nicht die Erfolge der vergangenen vier Jahre, sondern nach wie vor die Stichworte »Agenda 2010« und »Hartz IV«“, hat Grünewald festgestellt.

Warum profitieren die Grünen nach der Flutkatastrophe nicht vom Klima-Thema?

Katastrophen sind immer die Stunde der Exekutive, der Regierungsparteien. Das erklärt zu Gutteil den Aufwind für die SPD und Olaf Scholz. „Praktischerweise kann er als Finanzminister gleich auch noch das Geld für die Flut verteilen. Mit Jeans und Regenjacke hat er zudem eine passable Figur abgegeben“, findet Sophie Schönberger. Diejenigen hingegen, die für sich das Klima-Thema als wahlentscheidend ausgemacht haben, „waren auch schon vorher bei den Grünen“.

Ein bislang wenig untersuchtes Moment könnte hinzukommen: Werden die Grünen womöglich als die politische Kraft wahrgenommen, die – käme sie an die Regierung – den Menschen die stärksten Umbrüche, die massivsten Eingriffe in ihren gewohnten Lebensstil abverlangen würde? Das würde die Zurückhaltung eines Teils des Wahlvolks erklären, das die Partei in einem Zweier- oder Dreierverbund, wenn überhaupt, lieber nur“ als Beiboot sähe denn als Flaggschiff.

Kann die Union den Abwärtstrend noch drehen?

Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther, Mitglied im CDU-Präsidium, schlägt Alarm. Nach dem „Hänger“ im Wahlkampf, der Laschets Inanspruchnahme durch die Flut und ihre Folgen geschuldet sei, müsse es jetzt „wieder aufwärts gehen“. Der bisherige Wahlkampf habe „niemanden überzeugt“, sagte er dem „Handelsblatt“ und forderte eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung. In der jüngsten Sitzung des Parteipräsidiums wurde verabredet, in den letzten Wochen des Wahlkampfs von Zahnlosigkeit auf Bissigkeit umzustellen und die politische Konkurrenz direkter anzugreifen.

Für seine Person lehnte Laschet eine Strategie-Änderung umgehend ab. Zwar ließ er sich zum Auftakt seiner Wahlkampftour in einem Frankfurter Boxclub sehen, tauschte im Ring ein paar Schläge für die Fotografen aus und forderte „endlich“ einen politischen Wahlkampf „mit einer klaren Frontstellung“. Einen schärferen Ton wolle er aber nicht pflegen, sagte Laschet tags darauf im sächsischen Torgau. Es gehe ihm um das „Werben für den eigenen Kurs“, aber in „menschlicher Form“. Alles andere wäre für den Kandidaten allerdings auch gefährlich. Denn wenn ihm eines abgenommen werde, so Grünewald, dann „die ausbalancierende, Härten abfedernde Kraft nach innen“.

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Gleichwohl hält die Politologin Schönberger Laschets bisherigen „Weiter so, und ja niemandem weh tun“-Wahlkampf für keine gute Performance: „»Schlafwagen-Wahlkampf« wäre noch geschmeichelt.“ Inzwischen funktioniere diese Strategie aber auch nicht mehr, „weil die Krisen zu offensichtlich sind und die Wähler Antworten verlangen.“ Das gelte für die Flutkatastrophe, aber auch für die anrollende vierte Corona-Welle, auf die die Union bislang keine Antwort finde. „Hier kann in sechs Wochen aber noch sehr viel passieren“, räumt die Expertin ein.

Grünewalds tiefenpsychologische Analyse setzt genau hier an: Die schlechten Werte für Laschet und die Union in der Sonntagsfrage seien in erster Linie eine „Sonntagspredigt“: Durch Sympathie-Entzug wollten die Menschen kurz vor der Wahl Einfluss auf Laschet und die Union nehmen, um sie am Ende doch noch wählen zu können. „Die Unionsanhänger verpassen Laschet einen demoskopischen Denkzettel, damit ihm – buchstäblich – das Lachen vergehen möge“, sagt Grünewald und bringt als Vergleich die Fans des 1. FC Köln: „Wenn die ihren Verein auspfeifen, heißt das nicht, dass sie nicht mehr zu ihm halten.“

Hätte ein Kandidatenwechsel Sinn?

Forsa-Chef Manfred Güllner legt der Union diese Option nahe, weil sie dem Mehrheitswillen der Unionsanhänger entspräche und weil mit einem Last-Minute-Kandidaten Markus Söder jemand anträte, der Wähler in nennenswerter Zahl auf die Seite der Union ziehen könnte.

Die Politologin Schönberger widerspricht entschieden: Solche Was-wäre-wenn-Gedankenspiele mit Rücksicht auf Umfragewerte lassen außer acht, dass ein Kandidatenwechsel ein extremer Bruch mit gewaltigen Unsicherheiten ist.“ Auch bei den Grünen hätten manche den Traum eines Kandidatenwechsels von Baerbock hin zum Co-Vorsitzenden Robert Habeck geträumt, erinnert Schönberger. Aber: Ohne einen „Riesenskandal“ sei ein solcher Wechsel praktisch unmöglich. „Insbesondere bei der Union liefe ein solcher Schritt den Stabilitätserwartungen an die CDU/CSU komplett entgegen“.

Auch Grünewald hat auf Basis seiner Studie Bedenken: Viele Menschen sympathisierten zwar mit Söder, sähen ihn aber „letztlich auch nicht als den Retter“. In die Zustimmung mischten sich sofort auch die Vorbehalte. Der Bayer werde „als wetterwendisch und populistisch wahrgenommen“.

Welche Bedeutung messen die Wählerinnen und Wähler der Regierungsbildung nach der Wahl bei?

Klar ist: Niemand wählt am 26. September eine Koalition. Das „Splittung“, die Verteilung von Erst- und Zweitstimme auf verschiedene Parteien, wirkt zwar wie eine taktische Wahl, hat aber am Ende vor allem einen Effekt: Der Bundestag wird größer, weil Missverhältnisse zwischen der Zahl gewonnener Wahlkreise und dem Stimmenanteil der Parteien ausgeglichen werden müssen.

Sechs Wochen vor der Wahl gibt es eine nie dagewesene Vielfalt von Koalitionsoptionen. „Das ist Teil einer neuen Unübersichtlichkeit. Man weiß einfach nicht, was rauskommt“, muss die Politikwissenschaftlerin Schönberger einräumen. „Die Wahlentscheidung fällt am Ende bei vielen intuitiv. Dass die einzelne Stimme statistisch nichts bewirkt, das ist – glaube ich – vielen Wählern nicht so bewusst.“

Stephan Grünewald hat in seinen Tiefeninterviews eine „Nimm 2“ oder „Nimm 3“-Mentalität ausgemacht. Sie dächten vielfach eben doch nicht in Partei-Kategorien, sondern in Kombinationen – und hätten „am liebsten von allem etwas“.

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