Hambacher Forst„Das Urteil macht Steffens Tod nur noch sinnloser“

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Der Dokumentarfilmer Steffen Meyn stürzte am 19. September 2018 von einer Hängebrücke im Hambacher Forst in den Tod.

Langenfeld/Düsseldorf – In den Kalker Lichtspielen hat Elisabeth Meyn (71) am Mittwochabend für ein paar Minuten ein wenig Trost verspürt. In der Kurzfilmreihe „Utopien – Wie wollen wir leben?“ läuft ein Dokumentarfilm, der sich auch aus dem Material ihres Sohnes Steffen speist, der am 19. September 2018 im Alter von 27 Jahren im Hambacher Forst von einer Hängebrücke stürzte und dabei tödliche Verletzungen erlitt. Es ist der schwärzeste Tag im lange Jahre schwelenden Konflikt zwischen den Waldbesetzern und dem RWE-Konzern.

Wir treffen uns am Mittwochmorgen im Haus der Familie in Langenfeld. Im Wohnzimmer stehen etliche Bilder, die Steffen gemalt hat. Auf dem Boden liegen der Helm mit dem Lichtaufsatz, den er im Wald trug, die Kamera, die Sicherungsseile und viele private Aufzeichnungen. Die Dinge helfen ihr, mit dem Unglück umzugehen und es vielleicht eines Tages zu verarbeiten, sagt Elisabeth Meyn. „Aber es wird nie mehr so sein wie es vorher war.“

Räumung war rechtswidrig

Mehr als 3000 Polizisten und Kräfte von Sondereinsatzkommandos haben im September 2018 den Auftrag, die Baumhäuser zu räumen und die rund 100 Bewohner aus dem Wald zu vertreiben. Ein Polizeieinsatz, den das Verwaltungsgericht Köln vor 15 Tagen für rechtswidrig erklärt hat. Der mangelnde Brandschutz sei als Grund für die Räumung „nur vorgeschoben“ worden.

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Waldbesetzer trauern um den Verstorbenen

Im Juli 2018 hatte RWE die Landesregierung aufgefordert, den Wald zu räumen, um noch im Herbst roden zu können. Der Konzern verwies auf die gültigen Abbaugenehmigungen für das Areal. Das NRW-Innenministerium schaltete daraufhin eine Rechtsanwaltskanzlei ein. Sie sollte alle „Rechtsgrundlagen prüfen, um gegen die Baumbesetzungen einzuschreiten“. Anschließend wies die Landesregierung die Stadt Kerpen und den Kreis Düren zu der Räumung an. Der Grund: Brandschutz-Bestimmungen.

Filmaufnahmen von oben

Steffen Meyn studiert an der Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln und ist im September 2018 bereits seit mehr als einem Jahr im Hambacher Forst unterwegs. Er arbeitet an einem Dokumentarfilm über das Leben der Waldbewohner und die Klimabewegung. Das Projekt wurde von Professoren der KHM begleitet und wäre seine Diplomarbeit geworden. Ihr Sohn habe grundsätzlich vom Boden aus gefilmt, sagt Elisabeth Meyn. „Er hat immer alles mit Bedacht und Überlegung gemacht. Weil die Polizei wiederholt eingeschritten ist und die Presse teilweise ausgeschlossen wurde, hat er sich erst am Montag vor dem Unglück entschieden, von oben weiterzumachen.“

Elisabeth Meyn, die im September 2018 ihren einzigen Sohn verloren hat, kann über das Verwaltungsgerichtsurteil keine Genugtuung empfinden. Im Gegenteil. „Das Urteil macht Steffens Tod nur noch sinnloser. Ich habe das Geschehen jetzt über drei Jahre verfolgt und bin in einem Zustand chronischer Wut und Traurigkeit“, sagt sie. „Die Räumung war verantwortungslos und unsinnig.“

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Steffen Meyn studierte Film an der Kunsthochschule für Medien in Köln.

Die NRW-Landesregierung habe die Situation unnötig eskaliert, sagt Meyn. Sie habe keine Vorstellung davon gehabt, mit welcher „Kriegsmaschinerie“ die Polizei im Hambacher Forst vorgegangen sei. „Ein paar Tage nach dem Tod meines Sohns sind wir selbst hingefahren. Da lief der Einsatz immer noch. Mit Räumungspanzer, SEK-Einheit und vermummten Leuten.“

Die Familie will das, was kurz vor dem Tod ihres Sohnes passierte, geraderücken. Die Polizei hatte angegeben, sie habe dem Dokumentarfilmer helfen wollen, eine Speicherkarte an einen Kollegen am Boden zu übergeben. Nach Angaben der Mutter ist das falsch. Sie sagt: „Steffen stand auf einer Plattform und wollte zur nächsten überwechseln, um näher an die Räumung eines Baumhauses zu kommen. Vor ihm sind andere den gleichen Weg gegangen. Er war immer gesichert. Auf jeder Plattform muss man sich neu einklinken. Es war unglaublich laut, die Kettensägen, dann hat jemand geschrien. Er wollte schnell rüber, weil er die Erfahrung gemacht hatte, wenn die Presse oder ein Filmteam in der Nähe sind, greift die Polizei nicht so hart durch.“

Offener Brief an Laschet

Am 26. November 2018 schreibt die Familie Meyn einen offenen Brief an Ministerpräsident Armin Laschet und Innenminister Herbert Reul, „weil Aussagen von Landespolitikern und das Verhalten unsere Trauer und unseren Schmerz verstärkt haben. Und wir möchten nicht stehen lassen, was im Zusammenhang mit Steffens Tod von Seiten der Landesregierung veröffentlicht wurde.“

Sie beklagt sich darüber, dass der Leichnam ihres Sohnes trotz eindeutiger Todesursache gegen den Willen der Eltern obduziert worden sei. „Das war eine völlig überflüssige und rechtswidrige Störung der Totenruhe“, sagt Elisabeth Meyn. In dem Schreiben äußert sie auch die Vermutung, dass die Gründe für die Räumung nur vorgeschoben waren. Genau das hat das Verwaltungsgericht jetzt bestätigt.

Die Landesregierung prüft noch, ob sie Beschwerde dagegen einlegt, zum Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln nicht beigeladen geworden zu sein. Für Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) ist die Sachlage eindeutig. Auch Baumhäuser seien „bauliche Anlagen“, die ohne Baugenehmigung nicht errichtet werden dürfen. Wegen der Brandgefahr habe man sofort räumen müssen, sagte die Ministerin.

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Die Gewerkschaft der Polizei fühlt sich durch die Gerichtsentscheidung bestätigt. Politische Konflikte müssten politisch gelöst werden. „Wir haben bereits im August 2018 gefordert, dass erst die Politik über die Zukunft der Energiepolitik entscheiden muss, bevor die Polizei in Marsch gesetzt wird. Wäre Minister Reul diesem Rat gefolgt, wäre der Polizei ein politisch hoch umstrittener Großeinsatz erspart geblieben“, sagte GdP-Landesvorsitzender Michael Mertens. „Natürlich ist Herr Laschet nicht unmittelbar schuld am Tod meines Sohns. Aber er ist verantwortlich für die Eskalation der Lage, die zu seinem Absturz führte. Das war David gegen Goliath. Tausende Polizisten gegen hundert Waldbesetzer.“

Das alles trage sie jetzt seit drei Jahren mit sich herum, sagt Meyn. Sie habe ein tiefes Mitgefühl nicht nur für die Baumhaus-Bewohner sondern auch für die Polizisten, „die in diesen Einsatz geschickt wurden“. Es sei beschämend für die Landesregierung, „dass ein paar Tage später festgestellt wird, RWE dürfe den Wald gar nicht roden“.

Urteil nicht rechtskräftig

Im Internet sind inzwischen Videos zu sehen, in denen Laschet Anfang September 2019 bei einer Bürgerversammlung zugegeben haben soll, er habe nur einen Vorwand gesucht, um den Wald räumen zu lassen. Man sieht nur seine Schuhe, aber er sagt: „Natürlich brauchte ich einen Vorwand. Ich wollte den Wald räumen.“

Ob die Stadt Kerpen gegen das Urteil Berufung einlegt, ist nach Angaben eines Sprechers unklar. Die Frist endet Mitte Oktober. „Wir lassen uns von keinem reinreden“, sagte ein Sprecher.

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