Hamed Abdel-Samad„Die Ideen sterben nicht mehr“

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Ein Arbeiter säubert die Straße vor dem Kairoer Innenministerium nach Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei

Ein Arbeiter säubert die Straße vor dem Kairoer Innenministerium nach Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei

Herr Abdel-Samad, spätestens seit den Morden nach dem Fußballspiel in Port Said sehen viele die Arabellion in Ägypten gescheitert.

HAMED ABDEL-SAMAD: Warum gescheitert? Es waren doch nicht die Revolutionäre, die dort zugeschlagen haben. Es war eine gezielte Tötungsaktion von den Feinden der Revolution, von den Anhängern des alten Mubarak-Regimes und des Militärrates. Warum sollte man die Arabellion dafür verantwortlich machen?

Ich rede ja nicht von Verantwortung, von Schuld. Aber Optimismus. Hoffnung und Erwartungen waren eben im Westen sehr hoch, und nun ...

ABDEL-SAMAD: Ja, der Westen! Die Menschen im Westen denken immer so kurzfristig. Ein Jahr nach der Französischen Revolution hätten wir auch von einem Scheitern gesprochen, da war nur Gemetzel und keine Demokratie. Revolutionen werden nicht innerhalb eines Jahres abgeschlossen. Oder schauen Sie auf Deutschland? Wie lang hat es hier gedauert, bis die Demokratie etabliert war? 1848 gingen die Leute auf die Straße, 1949 gab es die ersten demokratischen Wahlen, die diesen Namen verdienen. In Ägypten erleben wir die Eröffnungsszene in einem sehr langen und sehr dramatischen Theaterstück. Wir werden auch in Zukunft leider mit sehr vielen Opfern und Rückschlägen rechnen müssen.

Sind wir im Westen zu ungeduldig?

ABDEL-SAMAD: Ja. Wer die Arabellion für gescheitert erklärt, beweist politische Kurzsichtigkeit. Man vergisst hier oft die eigene Geschichte, wie gesellschaftliche Prozesse abgelaufen sind. Wie gesagt, 1848 gingen in Deutschland junge Leute auf die Straße, forderten Demokratie. Das Ergebnis? Preußische Soldaten haben auf sie geschossen. Das Parlament hat nicht zu Demokratie geführt, sondern dazu, dass man nach einem Kaiser gesucht hat. Die Bewegung wurde zurückgedrängt, aber die Idee ist geblieben und erst nach einigen Kriegen umgesetzt worden. Das ist das Besondere an Revolutionen: Ideen werden geboren und sterben nicht mehr.

Interessant, dass wir in Deutschland gelandet sind. Kehren wir trotzdem nach Ägypten zurück: Wie holprig, wie steinig ist dort der Weg zur Demokratie? Wollen die Leute in Ägypten überhaupt Demokratie?

ABDEL-SAMAD: Natürlich wollen die Demokratie! Was ist das für eine Unterstellung, wir wären daran nicht interessiert ...

Ich unterstelle nichts, ich frage nur, ob unsere westlichen Vorstellungen übergestülpt werden?

ABDEL-SAMAD: Natürlich gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Aber, wenn man Demokratie als Gewaltenteilung, als Parlamentarismus versteht, in dem nicht nur eine Elite entscheidet - dann wollen wir Demokratie. Womit man hadert, ist mit der Definition von persönlichen Freiheiten. Es gibt Kulturen, die wollen unbegrenzte individuelle Freiheiten, andere wollen nach bestimmten gesellschaftlichen und sittlichen Vorstellungen gewisse Einschränkungen. Die Ägypter wollen weg von der Autokratie, sie wollen auch keine Theokratie, also eine religiös legitimierte Herrschaftsform. Holprig und steinig ist der Weg auf jeden Fall, da die Basis für eine Demokratisierung fehlt. Der aktive Teil der Gesellschaft hat eben noch nicht die Mehrheit.

Auch wenn's nervt. Ist es nicht eine Ironie der Geschichte, dass im Namen der Demokratie gekämpft wird, aber religiöse Fundamentalisten ins Parlament einziehen. Wo sind die Frauen, die demonstriert haben?

ABDEL-SAMAD: Man muss ehrlicherweise sagen, dass nur wenige Frauen zur Wahl angetreten sind. Dann ist es natürlich auch schwierig, sie zu wählen. Die zweite Beobachtung: Die Gesellschaft ist zu einem alten religiösen Muster zurückgekehrt - und der Islam ist ja nicht dafür bekannt, dass er Frauen zum politischen Engagement ermutigte, sondern ihren Platz eher im Haus sieht. Aber auch hier gilt: In Ägypten ist eine Entwicklung im Gange. Man kann nicht erwarten, dass sich innerhalb von sechs Monaten eine Frauenpartei gründet. Ihr Aktionsfeld sind eher Nicht-Regierungs-Organisationen, zivilgesellschaftliches Engagement. Und dieses Engagement kostet Mut, denn die Frauen wurden eingeschüchtert, vom Militärrat etwa, sie wurden auf offener Straße geschlagen. Dass die Frauen trotzdem dagegenhalten, das ist das Erfreuliche. Und noch eins: Viele junge Leute sind auch zu der vom Militärrat organisierten Wahl nicht angetreten, weil sie sich nicht zu früh verbrennen wollen. Sie wären an ihrer Unerfahrenheit gescheitert. Und das hätte die alte Garde genutzt, um die Revolution in Misskredit zu bringen.

Wovon hängt letztlich ein Erfolg der Arabellion ab?

ABDEL-SAMAD: Von der wirtschaftlichen Entwicklung. Vergessen wir Salafisten und Muslimbrüder, Ägypten ist nicht der Iran, wir haben kein Erdöl. In Ägypten muss sich die Regierung fragen, wie 85 Millionen Menschen ernährt werden sollen. Wollen wir Scharia? Das hieße Alkoholverbot, das Ende für die Hotels und den Tourismus in der bisherigen Form, die Bankzinsen müssten verboten werden und damit sämtliche Geschäfte, die mit dem Suezkanal zusammenhängen. Die wirtschaftlichen Grundlagen sind so schmal, dass sie gar keine Wahl haben: Sie müssen Kompromisse eingehen, sie müssen pragmatischer werden. Und dadurch werden die Religiösen entmystifiziert.

Was kann der Westen tun?

ABDEL-SAMAD: Der Westen sollte nicht so voreilig wieder Allianzen mit den Mächtigen im Land schließen, sich vom Militärrat distanzieren. Besser sind Investitionen in zivilgesellschaftliche Strukturen.

Was hat Ägypten zu bieten?

ABDEL-SAMAD: Ägypten hat eine sehr kreative und arbeitsdurstige Jugend, 70 Prozent der Ägypter sind unter 30. In deren Ausbildung muss investiert werden, dann vermeidet man die Migration. Die Europäer sollten das Geld, das sie für die Zurückführung von Migranten ausgeben, in Jobs hier vor Ort stecken. Das wäre lohnender.

In welche Ausbildungsplätze?

ABDEL-SAMAD: Ein Bereich ist die Energiebranche, Solar- und Windenergie sind hier günstiger zu produzieren. Sand kann man für Glasfabriken verwenden. Agrarwirtschaft und Tourismusbranche sind weitere Felder, auf denen man neue Wege gehen kann. Hier sollte die EU an ihre Zukunft denken, auch wenn sie im Moment mit sich selbst zu tun hat. In der Welt gibt es gewaltige Veränderungen. Russen und Chinesen strecken schon ihre Fühler aus. Und wenn Nordafrika in chinesische Hand fällt, dann gute Nacht, Europa.

Blicken wir kurz nach Syrien: Dort sterben im Moment täglich zig Menschen, im UN-Sicherheitsrat blockieren Russland und China selbst eine gemeinsame Resolution. Wie soll man reagieren?

ABDEL-SAMAD: Die Vereinten Nationen haben ihre Schlagkraft und ihre Glaubwürdigkeit verloren. Es ist ein Skandal, dass zwei Länder, die keine Demokratien sind, wichtige Entscheidungen aus wirtschaftlichem Kalkül lahmlegen. Das hat nichts mit Völkerrecht oder Menschenrechten zu tun, da muss man auch über das Vetorecht nachdenken. Ich glaube, dass China und Russland einen Fehler gemacht haben. Die Tage von Baschar al-Assad sind gezählt, und das syrische Volk wird nicht vergessen, wer für das ungebremste Morden mitverantwortlich ist. Die Syrer werden in Zukunft keine Geschäfte mit China und Russland machen.

Das Gespräch führte Thomas Geisen

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