Historiker„Merkel hatte wohl keine Illusionen über Putins Verlogenheit“

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Merkel und Putin 190422

Angela Merkel im August 2021 im Kreml 

  • Historiker Ulf Brunnbauer über die Rolle des ukrainischen Botschafters und den Einfluss deutscher Russland-Politik auf den Krieg

Herr Professor Brunnbauer, im fortgesetzten verbalen Schlagabtausch zwischen dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk und deutschen Politikern – insbesondere der SPD – liegen die Nerven blank. Wer hat in diesem Spiel die besseren Karten? Brunnbauer: Die besseren Karten hat ganz eindeutig der ukrainische Botschafter. Und man sieht ja, wie er es schafft, der Regierung seines Gastgeberlandes mit einer wahrlich undiplomatischen Art gehörig auf die Nerven zu gehen. Das Entscheidende dabei ist: Er trifft den Nerv an einem empfindlichen Punkt.

An welchem Punkt?

Die deutsche Außenpolitik, die über viele Jahre von SPD-Ministern verantwortet wurde, hat wider besseres Wissen und gegen breiten Experten-Rat ein radikales Umdenken in der Haltung gegenüber Russland versäumt. Spätestens nach der russischen Annexion der Krim 2014 und der permanenten kriegerischen Aggression gegen die Ukraine seither wäre das zwingend gewesen. Die SPD tut gut daran, darüber in einen Prozess der Selbstreflexion zu gehen. Im Grunde ist sie damit viel zu spät dran.

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Melnyks schärfster Vorwurf lautet, die deutsche Außenpolitik habe Putins Krieg ermöglicht. Trifft er auch da einen wunden Punkt?

Das ist eine Zuspitzung, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat, sondern das taktische Ziel verfolgt, doch noch die Zustimmung der Bundesregierung zur Lieferung schwerer Waffen zu erwirken. Ob Melnyk seinem Land damit einen wirklich guten Dienst erweist, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Aber er ist als Vertreter eines Landes, das mit einem mörderischen Krieg überzogen wird, in einer Extremsituation. Insofern habe ich für seine zugespitzte Wortwahl Verständnis. Zudem ist er damit im Grunde genommen der Einzige, der ein bisschen Leben in die Berliner Blase bringt. Man würde sich wünschen, dass Oppositionspolitiker nicht diplomatischer formulieren als ein Diplomat. Aber sowohl die Union als auch die Linkspartei haben natürlich Gründe für ihre Zurückhaltung.

„Merkel hatte wohl Hoffnung, dass Russland nicht so weit gehen würde“

Es gab in all den Jahren, über die wir sprechen, eine CDU-Kanzlerin mit Richtlinienkompetenz.

In der Tat. Die Verwunderung über Angela Merkels Politik nach 2014 muss noch größer ausfallen als über die Politik der SPD. Merkel war zwar maßgeblich für die harten Sanktionen des Westens gegen Russland verantwortlich und hat diese Linie auch länger verfolgt als SPD-Politiker wie Frank-Walter Steinmeier oder Matthias Platzeck, die vergleichsweise schnell zur Tagesordnung übergehen wollten. Dennoch hat Merkel nie mit Putin gebrochen, obwohl sie ihn so gut kannte wie niemand sonst an der Regierungsspitze eines westlichen Landes. Sie hatte wohl keine Illusionen über Putins Verlogenheit und Gefährlichkeit.

Warum vermied sie dann den Bruch mit Putin?

Weil sie auch eine stimmungsgetriebene Politikerin war und wohl die Hoffnung hatte, dass Russland nicht so weit gehen würde, seinerseits den ökonomischen Bruch mit dem Westen zu riskieren durch eine Ausweitung des Kriegs auf die gesamte Ukraine. Dass ihr innenpolitisch die Aussicht auf ein mit russischem Gas getriebenes Wirtschaftswachstum gut zupass kam, sollte auch nicht vergessen werden.

Wäre denn der totale Bruch überhaupt realistisch gewesen?

Natürlich waren und sind Kontakte mit Russland notwendig. Aber man wollte in Berlin viel zu lange nicht sehen, dass man es im Grunde mit einem kriminellen Staat zu tun hat, der unablässig das Völkerrecht verletzt und dabei kundtat, dass er sich auch nicht weiter um diesen Rechtsbruch schert.

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Nordstream 2 war demnach immer ein Fehler?

Von Anfang an – und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Klimapolitisch wusste man schon beim Abschluss der Verträge 2005, welche Folgen die Verstromung von Gas haben würde. Ebenso war immer klar, dass Nordstream 2 für Russland primär ein politisches Projekt ist, mit dem die Ukraine als Transitland umgangen und Deutschland in eine noch stärkere Abhängigkeit gebracht werden sollte. All das hat man in Kauf genommen – in der Hoffnung, billiges Gas beziehen zu können, ohne einen politischen Preis zahlen zu müssen. Und jetzt bekommt man die Rechnung präsentiert.

Die Ukraine hat gegen das Nordstream-Projekt immer protestiert.

Richtig. Der ukrainische Botschafter war in Berlin jahrelang eine persona non grata, weil er diesen Protest wie ein Mantra wiederholt und vor sich hergetragen hat. Womit er aber – wie sich jetzt zeigt – völlig Recht hatte.

Nun kann man sagen: Die Interessen Deutschlands mussten nicht notwendig die Interessen der Ukraine sein.

Die Ukraine stand damit aber auch nicht allein. Die USA haben immer wieder ihre Bedenken kundgetan, und auch innerhalb der EU haben die baltischen Staaten oder Polen eindringlich davor gewarnt, an Nordstream 2 festzuhalten. Die Argumente des Beharrens wurden dann ja auch immer absurder: Noch im Januar 2022 hat SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert das Nordstream-Projekt als privatwirtschaftliches Unterfangen qualifiziert. Was nun offensichtlich an den Haaren herbeigezogen war: Gazprom ist ein russischer Staatskonzern, und wenn man etwa an das Agieren des Landes Mecklenburg-Vorpommern und seiner SPD-geführten Regierung denkt, kann von „Privatwirtschaft“ auch auf deutscher Seite nun wirklich keine Rede sein.

Die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“ hat mit Blick auf Russland eine sehr lange Tradition. Hat auch das die deutsche Außenpolitik bis in die Gegenwart beeinflusst?

Da sprechen Sie eine Verklärung der Ostpolitik Willy Brandts an, die in der SPD so etwas ist wie ein Mythos. Bis hin zur These, die Entspannungspolitik Brandts habe letztendlich den Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende der kommunistischen Herrschaft herbeigeführt. Da gab es weitaus wichtigere Faktoren – insbesondere den ökonomischen Druck, unter den die Sowjetunion durch die von US-Präsident Ronald Reagan betriebene Hochrüstung geraten war. Aber schon Brandt und später Helmut Schmidt zielten primär gar nicht auf einen Wandel der Sowjetunion.

Sondern?

Sie hofften, durch Kompromissbereitschaft Zugeständnisse in der Deutschlandfrage mit dem Fernziel Wiedervereinigung herbeizuführen. Wandel durch Handel ist historisch gesehen ein Konzept, das zwischen Demokratien mit dem Handel komplexer Güter funktioniert hat.

Wie meinen Sie das?

Für die Herstellung und den Austausch komplexer Produkte braucht es so etwas wie Rechtsstaatlichkeit. Russland hingegen exportiert nicht viel mehr als Rohstoffe, was – wie in anderen rohstoffexportierenden Staaten auch – mit massiver Korruption und der Ausbeutung des eigenen Landes durch eine ganz kleine Elite einhergeht. In solch einer Konstellation ist kein Wandel durch Handel zu erwarten – oder allenfalls ein Wandel zum Schlechteren, weil diese Art von Handel ein sehr komfortables Arrangement zugunsten der Polit- und Geldeliten einer Diktatur ist.

Zur Person

Ulf Brunnbauer ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südeuropaforschung an der Uni Regensburg. Er hat den Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas inne.

War die deutsche Außenpolitik nach 1989 zu sehr konzentriert auf Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion – und zu wenig auf die einstigen Satellitenstaaten?

Es ist einiges schief gelaufen nach 1989. Das meiste davon aber in Russland selbst. Nach Boris Jelzin hat sich Russland unter Putin in eine Diktatur weiter- oder besser gesagt zurückentwickelt, die mehr an die 1950er Jahre unter Stalin erinnert als an die Sowjetunion der 1970er Jahre. Die ist im Vergleich dazu schon fast als liberal zu bezeichnen. Aber in der Tat hat in Deutschland lange Zeit ein Bewusstsein für die Länder zwischen Deutschland und Russland und für deren Befindlichkeit gefehlt. Die Ukraine kam in Wahrheit erst 2014 auf den außenpolitischen Radar. Die baltischen Staaten, gewiss, sind schon länger Teil der EU, ebenso Polen. Aber ihnen wurde notorisch vorgehalten, sie seien russophob, wenn nicht gar paranoid. Man hatte in Bonn und Berlin zu wenig Verständnis für die extrem problematische Lage der Länder in unmittelbarer Nachbarschaft zur ehemals beherrschenden Macht.

Die Haltung all dieser Staaten in der ehemaligen Einflusssphäre der Sowjetunion war aber – wie man heute sieht – keineswegs überspannt, sondern realistisch?

Russland hat aus seinem Anspruch auf diese Länder nie ein Geheimnis gemacht. Für die außenpolitische Doktrin Moskaus gibt es das „nahe Ausland“ – das sind die Ex-Republiken der Sowjetunion, für die aus Moskaus Sicht nur eine eingeschränkte Souveränität gilt.

Das heißt?

Die Anerkennung einer Souveränität nur insoweit, als das Agieren dieser Länder den Interessen Russlands gehorcht. Die Integration des Baltikums in die EU und die Nato hat Moskau gerade noch hingenommen. Aber bei den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken war man dazu nicht bereit.

Wäre der Krieg durch eine andere deutsche Politik zu verhindern gewesen?

Kontrafaktische Hypothesen – „was wäre gewesen, wenn bzw. wenn nicht“ – sind immer schwierig. Ganz sicher verdankt Russland die Modernisierung seiner Militärmaschinerie wesentlich den Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft. Aber hätte Deutschland sich davon sehr viel früher abgenabelt, hätte Russland mutmaßlich andere Kunden gefunden.

Hätte die Ukraine 2008 eine echte Nato-Beitrittsperspektive samt folgender Vollmitgliedschaft bekommen, hätte Putin den Angriff auf das Nachbarland vermutlich nicht gewagt. Aber hier muss man wiederum einschränkend hinzufügen, dass die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung seinerzeit gegen eine Integration in das westliche Bündnis war. Es gab daher gute Gründe, 2008 keine Einladung an die Ukraine zur Nato-Mitgliedschaft auszusprechen. Kurz und gut: Die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine liegt nicht in Berlin, sondern einzig und allein bei Wladimir Putin. Die deutsche und europäische Außenpolitik hätte diesen Krieg vielleicht verzögern, aber nicht verhindern können. Dafür ist der neo-imperiale Reflex in Moskau einfach zu stark.

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