Interview mit Serap Güler„Der Rassismus hat nicht zugenommen, er ist nur sichtbarer“

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Staatssekretärin Serap Güler (CDU) im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

  • Serap Güler (39, CDU) ist Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW.
  • Im Interview spricht sie über Rassismus und den Fall Tönnies, Corona und George Floyd.
  • Außerdem positioniert sie sich gegen die AfD und erklärt, warum der Verfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts ihre größte Sorge ist.

Frau Güler, haben Sie in Ihrem Leben schon einmal Rassismus erfahren? Güler: Bevor ich in die Politik gegangen bin, war das kein Thema. Mit meinem Einzug in den Landtag 2012 hat sich das geändert. Seither gibt es schon die ein oder andere Nachricht, die mich erreicht, und die ich gar nicht anders werten kann.

Haben Sie schon mal eine Wohnung gesucht und nicht bekommen, weil Sie Güler heißen?

Ich habe diese Erfahrung nicht gemacht. Ich bin in meinem Leben aber auch nur dreimal umgezogen. Aber das gibt es natürlich, dass Menschen zum Beispiel aufgrund ihres türkischen oder arabischen Nachnamens keinen Besichtigungstermin bekommen. Meine Nichte hat mir erzählt, dass eine Vermieterin, als sie mit ihrem türkischstämmigen Freund zur Besichtigung kam, völlig verdutzt war und sagte: „Sie klangen am Telefon aber anders.“ Aber man muss gegenüber Rassismus ja nicht erst eine Sensibilität entwickeln, wenn man ihn selbst erfahren hat.

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Seit dem Corona-Ausbruch in dem Schlachtbetrieb von Clemens Tönnies sprechen alle über das Tierwohl und die Arbeitsbedingungen. Für die Bulgaren und Rumänen, die Jobs machen, die kein Deutscher haben will, interessiert sich niemand. Ist das Rassismus?

Das ist wohl eher eine Art moderne Sklaverei, weil das System der Subunternehmer und Werkverträge krank ist.

Hätte man sich um das Wohl der Menschen mehr gekümmert, wenn die Betroffenen Deutsche wären?

Ich glaube nicht, dass man das Thema noch intensiver diskutiert hätte. Solche Arbeitsverhältnisse gibt es leider auch in anderen Branchen. Subunternehmer wie im Fall Tönnies beuten Menschen aus. Unabhängig von der Herkunft.

Wo sehen Sie offenen Rassismus in NRW, wo kommt er latent daher?

Wenn man aufgrund seines Namens, seiner Herkunft oder seiner Religion klar abgewiesen wird, ist das offener Rassismus. Nach dem Motto: „Wenn Dir das hier nicht gefällt, dann geh doch in Dein eigenes Land zurück.“ Das kommt aber eher selten vor. Der latente Rassismus ist das größere Problem: Wenn zum Beispiel jemandem mit ausländisch klingendem Namen gesagt wird, die Wohnung sei vergeben und seine Freundin mit deutschem Namen anruft und einen Besichtigungstermin bekommt. Dagegen kann man sich kaum wehren. Mein weißer Arzt erzählte mir, dass es ihn schmerzt, mit seiner schwarzen Adoptivtochter durch die Kölner Innenstadt zu gehen, weil sie schief angeschaut wird.

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Nimmt der latente Rassismus zu?

Wir sprechen nach dem Tod von George Floyd in den USA natürlich alle darüber. Aus meiner Sicht hat er nicht zugenommen, ist nur offener sichtbar. Ich will das nicht nur auf eine Partei schieben, aber mit der AfD werden Dinge thematisiert, die früher als Tabu galten. Auf der anderen Seite ist die Gesellschaft heute sensibler, was Rassismus angeht. Das ist eine positive Entwicklung. Schließlich haben 30 Prozent der Menschen in NRW eine Migrationsgeschichte. Wir müssen aufhören, Rassismus zu rechtfertigen – beispielsweise, wenn wir jungen Menschen mit Migrationsgeschichte in der vierten Generation vorhalten, sich nicht mit Deutschland zu identifizieren.

Warum?

Ich kann ihre Integration infrage stellen oder kritisieren. Wenn ich aber anfange Rassismus damit zu erklären, dass viele junge Türkeistämmige immer noch den türkischen Präsidenten bejubeln, versuche ich, diesen Rassismus zu rechtfertigen, gar zu entschuldigen. Das ist falsch. Auch der Flüchtlingspolitik kritisch gegenüber eingestellt zu sein zu, heißt ja noch lange nicht, dass man ein Rassist ist.

Auch jemand, der einem Schwarzen einen Job nicht gibt, ist kein Rassist. Anders verhält es sich, wenn er ihm den Job nur wegen seiner Hautfarbe nicht gibt. Da müssen die gesellschaftlichen Alarmglocken läuten.

Hat die AfD den Rassismus gesellschaftsfähig gemacht?

Wenn man das auf den Hass und die Hetze bezieht – eindeutig ja. Vor der AfD gab es in der öffentlichen Auseinandersetzung eine rote Linie. Heute wird Menschen viel mehr an den Kopf geschmissen. Menschen wie mir zu sagen, man würde mich am liebsten „entsorgen“ oder man gehöre nicht hier her und sei nur „Passdeutsche“, zeigt, dass die rote Linie überschritten wurde. Das sind Aussagen, die gehen an vielen Menschen nicht spurlos vorbei. Heute haben die, die sich so äußern, eine politische Vertretung und meinen, das überall herumposaunen zu können. Das trägt zu einer anderen Wahrnehmung bei, was Rassismus angeht.

Was ist Ihre größte Sorge?

Der gesellschaftliche Zusammenhalt zerfällt mit jeder dieser Erfahrungen. Ich habe mit den Opferfamilien von Hanau gesprochen. Sie haben mir ein bisschen das Gefühl vermittelt, dass sie Bürger zweiter Klasse sind, dass man sie hier nicht haben will. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Hanau und Halle haben gezeigt, dass wir im Kampf gegen Rechts früher ansetzen müssen. Bevor man zum Rechtsextremisten wird, hat man schon ein paar Stufen durchlaufen, die alle mit Rassismus zu tun haben.

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Es ist gut, dass sich ein Ausschuss des Bundeskabinetts jetzt damit befasst. Wir müssen viel früher gegensteuern. In Klassenzimmern, wo sich Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Fächern damit auseinandersetzen, so wie bei uns in NRW. Und in Lehrerzimmern, in denen wir „Interkulturelle Kompetenz“ und „Antidiskriminierung“ zum festen Bestandteil machen, auch in der Lehrerausbildung.

Warum gibt es denn keine Antidiskriminierungsstelle in Nordrhein-Westfalen?

Weil wir seit 2006 in NRW unter dem Dach der freien Wohlfahrtspflege 186 Integrationsagenturen betreiben, 13 allein in Köln. Diese Struktur funktioniert gut. Die Menschen gehen lieber zu den Institutionen, die sie kennen, weil das niedrigschwellige Angebote sind.

Brauchen wir ein Antidiskriminierungsgesetz?

Nein. Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes ist eindeutig.

Soll der Begriff der „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden?

Ja. Ich kenne natürlich den historischen Hintergrund. Das war auf die Nazi-Ideologie bezogen und wird auch von niemandem in Frage gestellt. Aber eine Verfassung ist ja nicht nur ein historischer Text, sondern das Wertefundament einer Gesellschaft im Hier und Jetzt. Der Begriff „Rasse“ ist auch eine Bestätigung für Rassisten, dass es „Rassen“ gibt. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir in Artikel 3 ergänzen, dass niemand aufgrund seiner äußeren Merkmale oder seines Glaubens „rassistisch diskriminiert“ werden darf.

Die Rassismus-Debatte in Deutschland ist ja eine Folge der Zustände in den USA nach dem Tod von George Floyd. Ist das nicht übertrieben?

Wir müssen nicht erst in die USA blicken, um Rassismus zu sehen. Denken wir an die Verbrechen in Hanau oder Halle. Was ich unpassend finde, ist der direkte Vergleich mit den USA – vor allem, was die Einstellung und die Arbeit der Polizei betrifft. Eine Polizei, die wie bei uns drei Jahre lang auf Deeskalation ausgebildet wird, kann ich nicht mit der Ausbildung in den USA vergleichen, die dort je nach Bundesstaats zwischen sechs Wochen und drei Monaten beträgt. Ein Unterschied ist auch, dass in NRW seit 2018 jeder Polizeianwärter überprüft wird, ob er bis dato extremistisch aufgefallen ist.

Serap Güler

Serap Güler (39) ist Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW. Die CDU-Politikerin wurde als Kind türkischer Einwanderer in Marl geboren. Der Vater arbeitete im Bergbau, die Mutter war Hausfrau. Güler legte 1999 ihre Abiturprüfung ab, absolvierte eine Ausbildung im Hotelwesen und ein Studium der Kommunikationswissenschaften und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen. Anschließend wechselte Güler in die Ministerialverwaltung. Sie war Referentin im Ministerbüro des damaligen Integrationsministers Armin Laschet. Nach der Landtagswahl 2010 wurde sie Pressereferentin im Gesundheitsministerium von Barbara Steffens. 2012 zog sie über die Landesliste der CDU in den Landtag ein. Ihren Wahlkreis Köln-Mülheim konnte sie nicht gewinnen. 2017 trat sie im Wahlkreis Neustadt-Nord, Deutz und Kalk an, konnte aber kein Direktmandat erringen.

Das heißt, Sie sehen kein Rassismus-Problem bei der deutschen Polizei?

Wenn ich ein Rassismus-Problem sehe, ist es ein gesamtgesellschaftliches. Im Klassenzimmer, auf einer Polizeiwache, auf dem Wohnungsmarkt, in der Wirtschaft. Ja, es gibt auch faule Äpfel bei der Polizei. Aber dass die Polizei in dieser Debatte unter Generalverdacht gestellt wird, finde ich unmöglich. Ich kann verstehen, dass manche ein robustes Auftreten der Polizei kritisch sehen. Aber es ist manchmal notwendig, in problematischen Stadtviertel deutlicher im Ton aufzutreten. Ich glaube nicht, dass ein Antidiskriminierungsgesetz, wie es Berlin auf den Weg gebracht hat, eine gute Entwicklung ist, weil es eher ein Anti-Beamten- oder Anti-Polizeigesetz ist.

Muss sich jemand, der in der vierten oder fünften Generation in Köln lebt, die Frage nach der Herkunft immer noch gefallen lassen?

Für mich ist das kein Rassismus. Diese Frage kann auch aus Neugier gestellt werden. Nicht die Frage „Woher kommst Du?“ ist rassistisch. Aber wenn der Fragesteller die Antwort „aus Köln“ auch beim dritten Mal nicht akzeptiert, wird es problematisch. Ich glaube, dass gerade die jüngeren Migrantinnen und Migranten da viel sensibler sind. Die nervt das schon eher.

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