Interview mit Soziologe Beckert„Die meisten Wirtschaftsprognosen sind falsch“

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Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln.

Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln.

Der Kölner Soziologe Jens Beckert sieht die Wirtschaftswissenschaften auf dem Holzweg, da wir die Zukunft nicht vorhersehen können. Im Interview spricht er mit uns über Zukunftsprognosen und deren Wertigkeit.

Professor Beckert, Sie haben ein Buch über die Rolle der Zukunft in der Ökonomie geschrieben. Der US-Ökonom Nuriel Roubini hatte die Finanzkrise von 2008 vorhergesagt, wofür er Mr. Doom genannt wurde. War das reiner Zufall?

Das war ein Zufallstreffer. Roubini wurde damit 2008 berühmt. Spätere Prognosen von ihm erfüllten sich jedoch nicht. Meine Erklärung hierfür ist eine rein statistische: es gibt hunderttausende Ökonomen auf der Welt. Unter ihnen findet sich immer einer, der Recht behalten wird. Entscheidend ist, es gab keine allgemeine Stimmung unter den Ökonomen 2007 in dem Sinne: das geht hier nicht mehr lange gut. Die Einstellung war: Es gibt ein paar Probleme, aber im Grunde wird alles so weiterlaufen.

Inwiefern wirkt denn eine Vorstellung über die Zukunft auf die Gegenwart ein?

Entscheidungen werden durch unser Bild von der Zukunft geprägt. Dafür muss man sich vor Augen halten, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist. Unsere modernen Gesellschaften sehen die Zukunft als unvorhersehbar, wobei sie sehr viele Möglichkeiten beinhaltet und viele Risiken. In traditionalen Gesellschaften hingegen wird die Zukunft stets als Wiederholung des Gegenwärtigen und Vergangenen gedacht.

Also etwa Agrargesellschaften des Mittelalters. Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Das kann man sich anhand der Bedeutung landwirtschaftlicher Zyklen leicht vorstellen, die sich jedes Jahr wiederholen. Es gab in agrarisch geprägten Gesellschaften zwar auch Gefahren wie Hungersnöte oder Erdbeben, für die man auch vorplante. Aber es gab nicht die Vorstellung, dass die Zukunft ganz anders aussehen könnte als die Gegenwart. Das wird erst ein zentrales Gedankenelement der Moderne. Dazu trägt ganz entscheidend bei, dass im Kapitalismus der Wettbewerbsgedanke institutionalisiert ist. Traditionale Gesellschaften limitierten wirtschaftlichen Wettbewerb sehr stark. Heute muss jeder wirtschaftliche Akteur davon ausgehen, dass ein in der Vergangenheit erfolgreiches Handeln nicht auch in der Zukunft erfolgreich sein wird. Er muss sich darauf einstellen, dass die Zukunft anders aussehen wird. Aber er kann nie genau wissen, wie sie aussehen wird.

Aber irgendwie müssen wir ja wissen, welches Handeln für die Zukunft am sinnvollsten ist.

Wir tun dies mittels Vorstellungen, die wir über die Zukunft entwickeln. Diese Vorstellungen sind jedoch kein Faktenwissen, sondern sind imaginierte Zukünfte, ich spreche da von fiktionalen Erwartungen. Wenn diese imaginierten Zukünfte Akteuren als glaubwürdig erscheinen, werden sie zur Grundlage von Entscheidungen. Weil es Vorstellungen einer ganz anderen Realität sein können und auch häufig sind, steckt darin ein ungeheures Innovationspotenzial.

Womit wir bei der Bedeutung für die Ökonomie sind.

Mir geht es um die Erklärung der Dynamik des Kapitalismus, des Wachstums aber auch der Krisen. Wachstum hat etwas zu tun mit den imaginativen Überschüssen, mit denen wir uns die zukünftige Welt vorstellen und mit deren Hilfe wir unser gegenwärtiges Handeln bereits so ausrichten, als würde diese Zukunft Realität werden.

Was heißt das konkret?

Nehmen wir die gegenwärtige Diskussion über künstliche Intelligenz (KI). Dabei handelt es sich um technologische Entwicklungen, von denen erwartet wird, dass sie die Grundlagen von Wirtschaft und Gesellschaft vollkommen neu gestalten werden. Aber niemand weiß, ob es tatsächlich jemals dazu kommen wird und wie eine durch KI geprägte Welt konkret aussehen wird. Was wir darüber lesen sind im Wesentlichen Zukunftsversprechungen, die jedoch über den Einsatz von Ressourcen bestimmen. KI ist insofern interessant, als es bereits in den 60er Jahren eine Welle der Entwicklung von KI gegeben hat, bei der im Grunde genommen nichts rausgekommen ist. Es gab viel Enthusiasmus, der dazu führt, dass Ressourcen investiert wurden. Wie oft bei solchen technologischen Versprechungen kam es zu Enttäuschungen. Dennoch sind solche Imaginationen nicht irgendwelche Spinnereien, die man besser sein lassen sollte. Denn nur wenn Zukunftsvorstellungen tatsächlich ausprobiert werden, indem Ressourcen in die Entwicklungen investiert werden, kann man sehen, ob sich die Vorstellung verwirklichen lässt oder eben nicht. Im Kapitalismus führen sehr viele Innovationsprojekte zu überhaupt nichts. Aber einige wenige haben ganz radikale Veränderungen zur Folge. Diese Neuerungen sind der Wachstumsmotor unserer Ökonomie.

Was bedeutet Ihre Analyse für Herausforderungen wie den Klimawandel? Denn auch hier wird mit Modellen gearbeitet, die ja dann genauso wenig aussagekräftig sind wie ökonomische Erwartungen.

Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel. Mit Projektionen wird wissenschaftlich erforscht, wie das Klima in 100 Jahren aussehen wird. Zunächst haben diese Projektion die politische Funktion, unser Handeln in der Gegenwart zu beeinflussen und zwar so, dass die Prognose sich eben nicht bewahrheitet. Selbstverständlich gilt auch für die Klimaprognosen, dass niemand genau sagen kann, wie sich das Klima in den unterschiedlichen Szenarien tatsächlich entwickeln wird. Die Prognosen werden daher fortlaufend angepasst. Weil sie eben kein gesichertes Wissen über die Zukunft sein können, werden die Prognosen selbst politisiert und nicht nur die Frage, welche Konsequenzen aus ihnen gezogen werden sollten. Die Prognosen selbst werden angegriffen, am stärksten im Moment von US-Präsident Donald Trump.

Wie sinnvoll ist es denn, über Perspektiven zu diskutieren, von denen wir gar nicht wissen, ob sie jemals eintreten werden. Es wird ja zum Beispiel gefordert, dass die Menschen wegen der herannahenden Herrschaft künstlicher Intelligenz in den Arbeitsalltag ein Grundeinkommen beziehen sollten.

Es ist dennoch sinnvoll und auch das Einzige, das wir tun können. Wir brauchen gerade angesichts der Unsicherheit, mit der wir uns aufgrund der Offenheit der Zukunft konfrontiert sehen, Vorstellungen von der Zukunft. Nur so können wir unser gegenwärtiges Handeln nicht als willkürliches, sondern zielführendes Handeln erscheinen lassen. Für unser Handeln ist es wichtiger, dass es Prognosen gibt, als dass diese Prognosen richtig sind. Sehen Sie die makroökonomischen Prognoseinstitute. Diese machen punktgenaue Vorhersagen etwa zur Inflationsrate oder dem Wirtschaftswachstum, die zumeist nicht eintreffen. Dennoch halten wir an diesen Prognosen fest.

Man sollte sich vielleicht die Frage stellen, warum man das weiter finanziert und warum diese Prognosen überhaupt weiterhin erhoben werden.

Ich glaube, dass es daran liegt, dass wir für das politische Handeln eine als rational erscheinende Orientierung brauchen. Der Finanzminister muss für seine Finanzplanung wissen, wie sich das BIP und die Inflationsrate entwickeln werden. Auch wenn die Zahlen letztendlich falsch sind, kann die Alternative dazu nicht sein einfach zu sagen, wir wissen es nicht. Wir brauchen eine Handlungsorientierung für unsere Entscheidungen. Auch wenn wir immer wieder die Erfahrung machen, dass wir daneben liegen. Fehlprognosen führen zu neuen Erwartungen, zu neuen Prognosen und nicht zur Aufgabe der Vorhersage zukünftiger Entwicklungen.

Sie plädieren also nicht dafür, die Wirtschaftsweisen zu feuern! Wie ist es mit Steuerschätzungen, machen die Sinn?

Ja, durchaus. Es gibt eine mittelfristige Finanzplanung. Dafür sind die Steuerschätzungen da. Man braucht sie. Ob es am Ende 62 Milliarden Mehreinnahmen sind oder etwas weniger, ist gar nicht entscheidend. Wenn eine Finanzkrise wie 2008 eintritt, ist die Schätzung Makulatur. Es wird dann eine neue angestellt. Über solche Krisen können wir nicht durch Wirtschaftsprognosen informiert werden. Aber die Alternative kann nicht sein, dass wir es bleiben lassen, denn es würde die Basis von Entscheidungen zerstören.

Wenn Sie sagen, dass traditionale Gesellschaften eine weniger offene Zukunft hatten, ist die Nicht-Vorhersagbarkeit dann eine Folge des Kapitalismus?

Man muss zwischen Naturphänomenen und sozialen Phänomenen unterscheiden. Überschwemmungen, Dürren oder Erdbeben lassen sich nicht vorhersagen und meist nicht verhindern. Aber man kann sich darauf vorbereiten. Bei sozialen Phänomenen ist es anders, was sich an den Begriffen Gefahr und Risiko begreifen lässt. Bei Naturkatastrophen handelt es sich um Gefahren. Risiken hingegen entstammen bewussten Entscheidungen, die ich treffe und deren Folgen ich meinem eigenen Handeln zurechnen muss. Risiken in diesem Sinn gibt es zwar auch in vormodernen Gesellschaften, vornehmlich bei politischen Entscheidungen, etwa wenn man in den Krieg zieht. Aber traditionale Gesellschaften haben gerade in der Ökonomie institutionelle Mechanismen, durch die das Eingehen von Risiken in einem ganz engen Rahmen verbleibt. Zum Beispiel haben Zünfte bis ins 19. Jahrhundert den Wettbewerb massiv eingeschränkt und damit auch das Eingehen von Risiken verhindert. In einem freien Markt hingegen, versuchen Unternehmer immer wieder Neues. Das Risiko rückt somit ins Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung.

Lässt sich das Bild vom Homo Oeconomicus angesichts der Offenheit der Zukunft noch aufrecht erhalten?

Nein. Wenn es keine Möglichkeit gibt, Zukunft vorherzusagen, dann gibt es in vielen Entscheidungssituationen auch keine Möglichkeit, rational im Sinne der ökonomischen Theorie zu handeln. In der Theorie wird damit so umgegangen, dass idealisierte Annahmen gemacht werden: Ist alles bekannt oder kann es mit Wahrscheinlichkeiten berechnet werden, dann funktioniert das Bild vom Homo Oeconomicus. Der Begriff der fiktionalen Erwartungen ist ein Gegenbegriff zur Theorie rationaler Erwartungen in der Ökonomie.

Diese Theorie nimmt an, dass Erwartungen durch die rationale Verarbeitung der Information aus der Vergangenheit bestimmt sind.

Ich halte dagegen, dass in unsere Erwartungen alle möglichen Imaginationen mit einfließen. Dies führt aber zu einem ganz anderen Bild von wirtschaftlichem Handeln. Es gibt einen Überschuss an Zukunftsvorstellungen in der Ökonomie. Ich spreche hier von säkularer Verzauberung. Mit dem Begriff der Entzauberung drückte der Soziologie Max Weber ja aus, dass alles Handeln im modernen Kapitalismus auf rationalen Kalkulationen beruht. Meines Erachtens ist dies ein ganz falsches Bild unserer modernen Wirtschaft. Gerade wenn es um Innovationen geht, die ja für die Dynamik unserer Wirtschaft entscheidend sind, kann man den Kapitalismus nicht ohne Berücksichtigung der Offenheit von Imagination verstehen.

Das Gespräch führte Michael Hesse

Zur Person

Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln. Zuvor hat er unter anderem in Göttingen, New York, Princeton, Paris und an der Harvard University gelehrt. 2018 wurde er mit dem Leibniz-Preis, dem wichtigsten Forschungsförderpreis Deutschlands ausgezeichnet. Sein Buch „Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus“ erscheint im Suhrkamp-Verlag (42 Euro, 569 Seiten).

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