Interview zu Vorfällen in Chemnitz„Neonazis anderswo können das als Vorbild werten“

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Polizei in Chemnitz

Polizisten nach dem Abbruch des Stadtfestes Chemnitz

Berlin – Michael Nattke ist Extremismus-Experte und Fachreferent im Kulturbüro Sachsen in Dresden. Dessen zentrale Aufgabe ist die Mobile Beratung für Demokratieentwicklung und gegen Rechtsextremismus in Sachsen. Wir haben mit ihm über die Zusammenrottung der Hooligans und Rechtsextremen in Chemnitz gesprochen.

Herr Nattke, von außen ist die Lage noch sehr unübersichtlich. Sie sind mit Organisationen vor Ort vernetzt, haben den ganzen Tag Informationen gesammelt. Wer stand da am Sonntag in Chemnitz auf der Straße: Rechtsextreme, rechte Hooligans oder ganz normale Bürger?

Nach dem, was wir gesichtet haben, waren die Agierenden auf der Straße, die den Ton angegeben haben, tatsächlich rechte Hooligans oder Menschen, die schon in der Vergangenheit mit rechten Gruppen in Erscheinung getreten sind. Das sind nicht unbedingt Neonazis, aber Menschen, die sich in asylfeindlichen Zusammenhängen bewegen. Darüber hinaus sind aber auch einfach Leute mitgelaufen und haben sich angeschlossen.

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Der Aufruf zur Versammlung kam ursprünglich von dem rechten Hooligan-Verein „Kaotic Chemnitz“. Was ist über die bekannt?

Das ist eine rechte Hooligan- und Ultra-Gruppe aus Chemnitz. Bisher sind sie noch nicht mit solchen großen Aktionen in Erscheinung getreten. Aber mit ihren eigenen Aufklebern sind sie im Stadtbild durchaus sichtbar, in der Hooligan-Szene bekannt und auch mit anderen Gruppen vernetzt.

Kamen die alle aus Chemnitz oder sind auch Teilnehmer angereist?

In den Hooligan-Kreisen gibt es ein sehr hohes Mobilisierungs-Potenzial, auch über soziale Medien. Es waren Hooligans aus der ganzen Region dabei, die aus den umherliegenden Landkreisen angereist sind. Auch aus Dresden ist uns eine Gruppe bekannt, die asylfeindliche „Wellenlänge“, die mit mehreren Mitgliedern vertreten war.

Wie gefährlich sind die Hooligans?

Man sieht zum wiederholten Mal, dass es rechten Hooligans gelingt, so zu mobilisieren, dass die Sicherheitskräfte erst einmal überfordert sind. Das hat sich schon mehrfach gezeigt, in Köln, Heidenau, Freital und Clausnitz. Dass die Sicherheitskräfte davon so überrascht werden, das macht mir ehrlich gesagt größere Sorge als die Menge, die sich zusammenfindet.

Hat die Polizei also versagt?

Die Polizisten direkt vor Ort haben einen großartigen Job gemacht. Sonst wäre es zu einer totalen Eskalation und möglicherweise auch zu Verletzten gekommen. Ich frage mich aber: Wer macht die Analyse bei der Polizei, um einzuschätzen, wie viele zu einer solchen Veranstaltung kommen?

Die nächsten Demos sind bereits angekündigt. Wie sollte die Polizei jetzt reagieren?

Von Seiten der Polizei darf es null Toleranz für Selbstjustiz geben. Gruppen, die durch die Straßen ziehen, und eigenmächtig tun, was sie wollen – das muss im Keim erstickt werden. Es ist ein Angriff auf die Demokratie, wenn plötzlich 800 Leute durch die Straße ziehen und glauben, dass sie angreifen können, wen sie wollen.

Wie kommt es, dass sich den Hooligans einfach ganz normale Leute anschließen?

Das ist eine spezielle Dynamik, das da 200 bis 300 Leute loslaufen und andere Leute mitlaufen, auch weil sie schaulustig sind. Man darf außerdem nicht vergessen, was die Cegida-Demos, also der Chemnitzer Ableger von Pegida, ja auch gezeigt haben: Wir haben in Chemnitz ein Potenzial von rassistischen Bürgern und Bürgerinnen, die nicht zwangsweise Neonazis sind. Sicherlich werden sich aus diesen Kreisen auch Leute angeschlossen haben.

Wie gefestigt ist rechtes Denken in der sächsischen Bevölkerung?

In den Jahren 2015/2016 konnte man das ja in Sachsen sehr gut erkennen: Die asylfeindlichen Proteste, die es dort gab, hatten eine relativ hohe Akzeptanz. Ein Beispiel war Chemnitz-Einsiedel, ein Vorort von Chemnitz, dort gab es eine Initiative „Einsiedel sagt Nein zum Erstaufnahmeheim“. Diese Initiative wurde bundesweit zu einem Symbol für einen Schulterschluss zwischen organisierten rechtsextremen Kreisen und Bürgern. Da haben es die Neonazis geschafft, bis in bürgerliche Kreise hineinzuwirken. Zum vollständigen Bild muss man aber auch sagen: Es gibt auch in Chemnitz viele Menschen und Gruppen, die sich für Asyl einsetzen und Solidarität zeigen.

Es soll am Sonntag Übergriffe auf Migranten gegeben haben, von Hetzjagden ist die Rede. Können Sie das bestätigen?

Unserem derzeitigen Kenntnisstand nach gab es zumindest Versuche, Migranten anzugreifen. Aus der spontanen Versammlung heraus, die sich ja auch in Bewegung gesetzt hat, wurde wohl immer wieder versucht, Migranten zu attackieren. Uns ist bisher zum Glück aber nicht bekannt, dass es zu Verletzten kam.

Werten Sie die Vorfälle am Sonntag als Zeichen für ein Erstarken der rechten Szene?

Es wurde wieder mal was sichtbar. Ob das zu einem Erstarken führen wird, das wird die nächste Demonstration zeigen. Wenn die Sicherheitsbehörden Ausschreitungen direkt unterbinden können, dann muss es nicht zum Erstarken führen. Es hat aber das Potential dazu. Das Ganze kann ja von Neonazis in anderen Städten als Zeichen gewertet werden, als Vorbild, und Versuche nach sich ziehen, Ähnliches zu wiederholen. Insofern ist es durchaus mit Vorsicht zu genießen, was daraus jetzt wird.

Kerzen am Tatort in Chemnitz

Blumen und Kerzen liegen auf einem Weg in der Chemnitzer Innenstadt. Nach dem verhängnisvollen Streit in der Chemnitzer Innenstadt in der Nacht zu Sonntag mit einem Todesopfer und zwei Verletzten endet das Stadtfest vorzeitig.

Auslöser war ein Todesfall nach einem Streit auf dem Chemnitzer Stadtfest. Als Grund für die Demos nennen die Organisatoren ebenso wie viele Online-Kommentatoren unter anderem, dass der Getötete eine Frau habe vor sexuellen Übergriffen schützen wollen. Das aber hat die Polizei schon lange dementiert. Spielen Fakten noch eine Rolle?

Leider erleben wir in unserer praktischen Arbeit immer wieder, dass zumindest ein kleiner Teil der Bevölkerung völlig faktenresistent ist. Wir stoßen da auch mit unserer Arbeit an Grenzen, denn auch die basiert ja darauf, Vorurteile mithilfe von Fakten abzubauen. Das, was wir über Jahre gemacht haben, das funktioniert teilweise nicht mehr, weil es ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber den Kommunikationsmitteln in unserer Gesellschaft gibt. Ich weiß nicht, wie die Polizei das ändern könnte. Wir stellen uns die Frage ja selbst.

Bundeskanzlerin Merkel und die Bundesregierung haben die Angriffe verurteilt. Das dürfte aber die wenigsten auf der Straße interessieren. Was würde wirklich helfen?

Kurzfristig gibt es kein Patentrezept, das kann einfach immer wieder passieren. Langfristig kann man sehr viel tun. Wir alle müssen verstehen, dass die Verteidigung der Demokratie eine Daueraufgabe ist und nie aufhören wird. Wir müssen anerkennen, dass Arbeit für eine demokratische Gesellschaft Arbeit ist, die nicht nur ehrenamtlich geleistet werden kann. Diese Arbeit muss auf langfristige stabile Füße gestellt werden. Man muss Strukturen schaffen, die Schulen die Möglichkeit geben, demokratische Gesellschaft wirklich erlebbar zu machen. Und wir müssen aus den vielen Initiativen, die es so gibt, Bundesprogramme schaffen, die nicht von einer neuen Mehrheit im Bundestag gekippt werden können.

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