Kardinal Karl Lehmann im Interview„Heute denke ich, ich war ziemlich frech“

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Kardinal Karl Lehmann

Kardinal Karl Lehmann

Herr Kardinal, das Gehen fällt Ihnen nach mehreren Knie-Operationen und einer Entzündung am Zeh sichtlich schwer. Wie ist es mit dem Weggehen nach mehr als 30 Jahren als Bischof von Mainz?

Ich kann mich mit dem Rollator einigermaßen gut überall hin bewegen. Im Dom spare ich mir bisweilen das Treppensteigen zum Altar. Aber ich freue mich jetzt darauf, dass allerhand Amtsvorgänge entfallen und ich mir Samstage und Sonntage freier einteilen kann.

Wer Sie so an Ihrem Krückstock sieht, für den bekommt die bischöfliche Insignie des Hirtenstabs noch einmal eine ganz eigene Bedeutung.

Zur Person

Karl Lehmann war von 1968 bis 1983 Professor und danach Bischof von Mainz. Von 1987 bis 2008 war er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. 2001 erhob ihn Papst Johannes Paul II. zum Kardinal.

Zum 80. Geburtstag am 16. Mai erscheinen im Herder-Verlag drei neue Bücher des Theologen aus Leidenschaft: der Interviewband „Mit langem Atem“, Hirtenbriefe unter dem Titel „Was im Wandel bleibt“ und der Sammelband „Auslotungen“ mit Aufsätzen und Referaten. (jf)

Manchmal ist es für den Bischof gut, wenn er eine Stütze hat. (lacht) Die Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester, die mich bis in die jüngste Zeit erreichen, erschüttern mich jedes Mal aufs Neue, auch wenn sie sehr lange zurückliegen und ich manchmal den Eindruck habe, es gehe den Opfern heute nicht zuletzt um die Entschädigung. Kraft kostet es mich auch, wenn ich mich mit eigenwilligen und unbelehrbaren Priestern herumärgern muss, egal ob sie extrem rechts oder auch links stehen.

„Dieses Amt nicht überschätzen“

Mit Eigenwilligkeit ist Ihr Schüler Gerhard Müller bis zum Präfekten der Glaubenskongregation und damit zum dritten Mann im Vatikan aufgestiegen.

Wie es heute immer auch stehen mag, jedenfalls war er früher nicht so. Ich habe in meinen Akten nachgesehen: Ich habe Gerhard Müller 13 Jahre lang theologisch betreut, vom theologischen Diplom bis zur Habilitation. Da war er sehr gelehrig und konnte gut mit Kritik umgehen. Er hat tadellose Arbeiten geschrieben. Später hat er sich verändert. Ich will dies aber gar nicht beurteilen. Jeder Schüler muss seinen eigenen Weg gehen.

Ist das, was Sie beschreiben, nicht typisch für die letzten 30 Jahre Kirchengeschichte in Deutschland – Sie sind der, der mit allem und allen zu tun hatte?

So pessimistisch bin ich nicht. Als Bischof und Vorsitzender sieht man mehr. Aber man darf dieses Amt auch nicht überschätzen. Als Vorsitzender der Bischofskonferenz habe ich auch gemerkt, dass das Amt selbst weniger hergibt, als es scheint. Ein größeres Gewicht bekommt es etwa durch die Erwartungen und Anforderungen der Medien. Man muss rasch reagieren. Der Vorsitzende kann jedoch nicht jede Stellungnahme vorab im Kreis aller 27 Bischöfe erörtern. So bekommt sein Wort fast von selbst eine eigene Autorität. Ich hatte außerdem das Glück, dass mir die Mitbrüder selten dazwischen gegrätscht sind. Da kamen mir bestimmt meine genaueren Kenntnisse des deutschen Katholizismus und meine Herkunft als Theologe zu Hilfe.

Bischof „mit möglichst größter Offenheit“

Was reizte den theologischen Lehrer Lehmann, Bischof zu werden?

Ich weiß nicht, ob ich das Bischofsamt angenommen hätte, wenn ich nicht das Vorbild des Münchner Kardinals Julius Döpfner vor Augen gehabt hätte. Von ihm habe ich gelernt, wie Bischof geht. Andere kommen hinzu wie mein Vorgänger in Mainz, Kardinal Hermann Volk.

Und wie geht Bischof?

Mit möglichst großer Offenheit. Das schließt einen festen Standort nicht aus. Der verdankt sich aber einer inneren Vertiefung, wie bei einem gut verwurzelten Baum, der seine Äste oben umso weiter ausbreiten kann. An Döpfner hat mir auch die Entschiedenheit imponiert, die eigene Position zu vertreten. Er hat mir einmal erzählt, dass Papst Paul VI. von ihm verlangt habe, die „Königsteiner Erklärung“ der deutschen Bischöfe zur Gewissensfreiheit in der Frage der Empfängnisverhütung zurückzunehmen. Döpfner sagte zu ihm: „Das können wir nicht. Das ist eine Frage unseres pastoralen Gewissens.“ – „Akzeptieren Sie denn auch meine Gewissensentscheidung als Papst?“, gab Paul VI. zurück. Döpfner bejahte. Da erwiderte der Papst: „Dann müssen wir wohl damit leben.“ Es war wenige Wochen vor Döpfners Tod. Ich habe großen Respekt davor, wie beide Konflikte austrugen.

Im entscheidenden Moment zog der Papst nicht die Hierarchiekarte.

Mir hat das sehr geholfen, als ich 1987 als neuer Vorsitzender bei Papst Johannes Paul II. saß und er mit der gleichen Forderung kam: Die „Königsteiner Erklärung“ müsse weg. Da habe ich ihm gesagt: „Heiliger Vater, Sie haben das meinem Vorgänger zehn Jahre lang nicht abverlangt. Dann verlangen Sie es jetzt bitte nicht sofort von mir.“ Heute denke ich, das war ziemlich frech. Wahrscheinlich hat er auch gemerkt, dass die heiklen, intimen Fragen der Sexualmoral nicht allein über Vorschriften und Verbote zu regeln sind. Ich habe ihm ja selbst ein Gutachten gemacht. Er ist gewiss nachdenklich geworden.

„Habe mir immer ein Stück Offenheit zu bewahren versucht“

Wieder ein Jahrzehnt später hat er Sie zum Ausstieg aus der Schwangerenkonfliktberatung gezwungen. Der bitterste Moment Ihrer Laufbahn?

Mir war immer klar, dass die deutsche Rechtsfigur – Abtreibung ist strafbar, wird aber nach vorausgegangener Beratung nicht bestraft – schwer zu vermitteln ist. Nicht nur in Rom wurde das als Trickserei im Umgang mit dem ungeborenen Leben bewertet. Und mit allem, was nach Finte roch, tat sich der in ethischen Fragen so geradlinige Papst ausgesprochen schwer. Das wusste ich, und ich wusste auch, dass er es ist, der am Ende entscheidet. Unserer Beziehung hat der Dissens offenbar nicht geschadet. Ein Intimus des Papstes hat mir aus erster Hand berichtet, dass meine Ernennung zum Kardinal 2001 auf eine ausdrückliche und bewusste Intervention Johannes Pauls zurückging – und das nach all den Querelen. Ich kann ihn heute gut als Heiligen verehren.

Damals hatten Sie das Nachsehen.

Ja, und das war eine Enttäuschung und eine Niederlage. Aber ich habe mir in allen Kämpfen immer ein Stück Offenheit zu bewahren versucht, wenn ich wusste, dass die Dinge am Ende nicht in meiner Hand liegen. Das mindert am Ende die Bitterkeit. Ich denke auch an bestimmte Bischofsbesetzungen, für die in Rom an allerhand Strippen gezogen worden war und die sich gelegentlich für die Kirche nicht nur in unserem Land als mehr oder weniger unglücklich erwiesen haben. Bevor Sie fragen: Ich nenne keine Namen! Aber es war mitunter schon skandalös, wie mit den Meinungsbildungen und Bedürfnissen der Ortskirchen umgegangen wurde.

Sie verlassen das Schiff der Kirche in einer stürmischen Phase. Noch stimmen die Kirchensteuer-Einnahmen. Aber im kirchlichen Leben ist so viel Schwund und Abbruch, dass der Neffe von Kardinal Frings, ein Priester des Bistums Münster, seine Gemeinde verlassen hat und ins Kloster gegangen ist.

Der bloße Blick auf die Statistiken verführt zu einem Negativ-Bild des Niedergangs. In der Wirklichkeit der Gemeinden nehme ich demgegenüber viel Lebendigkeit und sogar Aufbruchstimmung wahr. Aber es kann sein, dass das Bischofsamt die Wahrnehmung prägt, während die Pfarrer und die Gläubigen im Alltag manche Frustration aushalten müssen. Tatsächlich gibt es ja auch in meinem Dienst Dinge, die mir auf der Seele lasten. So hat sich in den 30 Jahren, in denen ich Bischof bin, der Kirchenbesuch von 19 auf neun Prozent mehr als halbiert.

„Wir müssen als Kirche ein neues Verhältnis zu uns selbst gewinnen“

Geht das so weiter, macht Ihr Nachfolger in 30 Jahren das Licht aus.

Nein! Das sind ja keine linearen Prozesse, die rechnerisch bei Null enden. Wir müssen aber als Kirche ein neues Verhältnis zu uns selbst gewinnen: Auch als Minderheit kann man etwas bedeuten und etwas erreichen. Gutes Einvernehmen ergibt sich oft genug aus dem einvernehmlichen Tun. Wenn ich nur daran denke, was wir in den Kirchen derzeit für die Flüchtlingshilfe tun. Das wird von der Politik dankbar gesehen und anerkannt. Und das hilft uns in kritischen Momenten, wenn es zum Beispiel darum geht, aus humanitären Gründen die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu verhindern.

Mit vielen innerkirchlichen Reizthemen haben Sie sich fast zeitlebens beschäftigt – auch mit Ehe und Familie oder der katholischen Sexualmoral. Ist das Pontifikat von Papst Franziskus für Sie eine Art Ernte dessen, was Sie an Samen der Reform zu säen versucht haben?

Wenn ich das öffentliche Echo auf das Papstschreiben „Amoris laetitia“ schaue, stelle ich ein ganz schnelles Abflauen des Interesses fest. Umso mehr müssen sich jetzt die Theologen an den Universitäten und die Fachpublikationen des Textes annehmen. Sonst bleibt er ein Schlag ins Wasser. Dass der Papst selbst behauptet, ihm gehe es mehr um die Pastoral als um Dogmatik, dispensiert die Theologie nicht vom Weiterdenken. Der Papst verlangt dies immer wieder.

Kardinal Müller sagt, Franziskus sei Seelsorger, kein Theologe.

Diesen Gegensatz, das kann man gerade beim Papst nicht machen! Jede verantwortungsvolle Seelsorge muss theologisch legitimiert sein. Gerade die Äußerungen des Papstes fußen auf einem Fundament theologischer Prinzipien. Nur dass er damit nicht ständig hausieren geht. Er geht mit der Berufung auf das Lehramt behutsam, aber durchaus selbstbewusst um.

Durch Franziskus „ein neuer Geist der Freiheit eingezogen“

Tut Franziskus der Kirche gut?

Der Papst greift Themen auf, die seit langem einer positiven Zuwendung bedurften. Ich denke insbesondere an sein Bekenntnis zur synodalen Verfassung der Kirche. Darüber bin ich ausgesprochen froh. In die Kirche ist durch ihn ein neuer Geist der Freiheit eingezogen. Ich habe es auf Synoden dreimal erlebt, dass eine Debatte über in Ehe und Familie bewährte Verheiratete als Priester, die „viri probati“, durch ein Verbot von oben unterbunden wurde. Heute sagt der Papst, „eine Synode ist frei, oder sie ist keine Synode“. Was für eine Veränderung! Hoffentlich lebt er lange genug, um noch zentrale Personalentscheidungen treffen zu können. Das Neue braucht neue Leute.

Der Papst ist nur ein halbes Jahr jünger als Sie.

Das habe ich ihm auch geantwortet, als er mich am Ende eines Gesprächs im November umarmt und gesagt hat, „Sie haben nur einen Fehler: Sie sind zu alt.“ (lacht)

Was haben Sie selbst jetzt vor?

Ausruhen, meine riesigen Akten aus mehr als 30 Jahren in Amtliches und Privates ordnen, vielleicht auch ein Buch schreiben, auf jeden Fall viel nachdenken und beten. Es reizt mich, einmal die 40-jährige Debatte über die wiederverheirateten Geschiedenen aufzuarbeiten. Mit all den Details, die keiner kennt und keiner kennen kann. Vieles wurde damals nur mündlich erörtert. Selbst in Rom sagten mir maßgebliche Leute schon in den 1970er Jahren: „Wir wissen doch, dass sich in unserer Praxis etwas ändern muss. Und es soll doch keiner sagen, dass wir nichts ändern könnten. Wir müssen es nur wollen“. Der Papst hat uns jetzt mit „Amoris laetitia“ eine große Aufgabe gestellt: seriös umsetzen!

Thomas von Aquin hat zum Ende seines Lebens gesagt, sein ganzes theologisches Werk sei nur Stroh. An dem Punkt sind Sie offenkundig nicht.

Ich zitiere dies oft, weil alles unzulänglich ist, was der Mensch über Gott sagt. Aber erstens bin ich kein Heiliger und zweitens ist Thomas von Aquin seine Erkenntnis in einer Vision Gottes zuteilgeworden. Ich habe noch keine solche Vision gehabt. Ich begnüge mich mit der Einsicht, was sogar dem „Großen Lehrer“ Thomas widerfahren ist. Um wie viel mehr schaffen wir immer nur Fragmente!?

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