Kardinal Kasper„Man kann Missbrauch ja nicht einfach für überwunden erklären“

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Kardinal Walter Kasper 

  • Die Kirche sieht sich mit einer ihrer heftigsten Krisen konfrontiert. Wie könnte ein Ausweg aussehen?
  • Kardinal Walter Kasper plädiert für neue Formen von Leitung in der katholischen Kirche, für mehr Kontrolle der Bischöfe und für Alternativen zur Weihe von Frauen.

Köln – Herr Kardinal, Sie waren Theologieprofessor, Bischof und Leiter einer Behörde im Vatikan. Haben Sie in der Kirche je eine solche Krise erlebt wie heute?

Die gegenwärtige Krise ist auf jeden Fall heftig. Die 68er-Zeit war auch nicht leicht. Aber da ging es vor allem an den Universitäten rund. Heute haben wir es – ausgelöst durch den Missbrauchsskandal – mit einem Zusammenbruch von Vertrauen zu tun. Das trifft die Kirche besonders, weil sie wie keine andere Institution auf Vertrauen angewiesen ist. Da ist jetzt sehr viel zu tun.

Zur Person

Walter Kasper, geboren 1933, ist emeritierter Kurienkardinal. Er wurde 1964 Theologieprofessor in Münster, ab 1970 in Tübingen. Von 1983 bis 1999 war er Bischof von Rottenburg-Stuttgart. Danach wirkte er 21 Jahre im Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen, zunächst als Sekretär, ab 2001 als Präsident. Damit war Kasper der „Ökumene-Minister“ des Vatikans. Papst Franziskus hat Kasper als „großartigen Theologen“ gewürdigt und seine Arbeiten gelobt. (jf)

Was denn?

Aufarbeitung und Vorbeugung – so gut es geht. Man kann Missbrauch ja nicht einfach abschaffen oder für überwunden erklären. Deshalb müssen alle Verantwortlichen in der Kirche höchst sensibel sein, und sie müssen Räume der Offenheit schaffen: Räume, in denen Betroffene offen sprechen können, wo sie offene Ohren finden und wo dann auch in aller Offenheit Konsequenzen gezogen werden. In meiner Zeit als Bischof hatte ich beim Umgang mit Verdachtsfällen das Problem, dass die Familien der Opfer massiv gemauert haben. Sie wollten um jeden Preis verhindern, dass das Geschehene in irgendeiner Weise ruchbar wird. Damit waren mir als Bischof mit den rechtlichen Möglichkeiten von damals ziemlich die Hände gebunden. Also, Sensibilisierung ist das A und O.

Was noch?

Wir brauchen dringend kirchliche Verwaltungsgerichte als Instanzen, bei denen man Beschwerde einlegen kann.

Ihr Mitbruder, Kardinal Gerhard Müller, hält es für schlechterdings unmöglich, dass Laien über Bischöfe zu Gericht sitzen.

Das sehe ich anders. Es geht ja nicht um ein Urteil über Personen, sondern über deren Entscheidungen. Verwaltungsakte der Kirche müssen den Regeln der Kirche entsprechen. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein und eine Grundvoraussetzung bischöflichen Handelns. Zudem macht ja ein Verwaltungsgericht selbst keine Gesetze, sondern überprüft nur die Einhaltung der vorhandenen. Wenn so etwas in der Kirche passierte, würde dies den Sinn jedes Bischofs für Gesetzestreue und Rechtskonformität ungemein schärfen. Von einem Bischof zu verlangen, dass er seine eigenen Gesetze oder die Gesetze Roms einhält, ist weder unbillig, noch schränkt es den Bischof ungebührlich ein. Es würde seiner Autorität im theologischen Sinne nichts nehmen, sondern im Gegenteil seine Autorität stärken, zu mehr Transparenz und Glaubwürdigkeit beitragen.

Sie erwähnten die Ära der 68er. Teilen Sie die Analyse des emeritierten Papstes Benedikts XVI., dass die 68er mit ihrer Auflösung der Moral schuld sind an der Missbrauchskrise?

Dass im Zuge von ’68 manches zusammengebrochen ist an Normen und Strukturen, das stimmt schon. Aber nicht allem muss man nachtrauern, und es ist ja auch viel Neues, Gutes aufgebrochen. Joseph Ratzingers beziehungsweise Benedikts XVI. Sicht auf 68 rührt – soweit ich sehe – von eigenen schlechten Erfahrungen in jener Zeit her.

Sie sind 1933 geboren, also selber auch ein 68er.

Ja, aber ich war damals auch schon »Establishment«, wie die 68er das nannten. Ich war nach 1969 zweimal Dekan der Theologischen Fakultät in Münster und Tübingen und habe so manchen Kampf mit den Studenten ausgefochten. Nun war mein Vorteil vielleicht, dass ich Karl Marx gelesen hatte und besser über ihn Bescheid wusste, so dass ich gut diskutieren konnte.

Für den kirchlichen Niedergang macht Benedikt XVI. auch die „konziliären“, also die vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägten Theologen verantwortlich. Einer davon sind Sie.

Aber Joseph Ratzinger auch. Solche Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Bedenkenswert an seinem Text finde ich den Hinweis auf ein schwindendes Gottesbewusstsein in der Gesellschaft. Das ist zunächst gar nicht als Vorwurf zu verstehen, sondern schlicht als Diagnose. Wenn aber die Ehrfurcht vor dem Heiligen schwindet, schwindet auch die Ehrfurcht vor der Heiligkeit – säkular gesprochen: vor der Würde – des anderen Menschen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Verdunkelung der Verantwortung jedes Menschen vor Gott und einer Abschwächung zwischenmenschlicher Verantwortung.

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Es gibt in der Kirche Zweifel, ob die Kirche von der Demokratie lernen kann, weil die Kirche keine Demokratie sei.

Gewaltenteilung oder Gerichte sind keine Erfindung der Demokratie. Aber wenn wir zu Recht über arroganten, selbstverliebten Klerikalismus und Machtmissbrauch in der Kirche klagen, dann müssen wir doch auch sehen, welche Formen von Machtbegrenzung und Machtkontrolle sich anderswo bewährt haben, etwa in demokratischen Gemeinwesen.

Gehört dazu die Gemeindeleitung durch Laien?

Das ist eine Frage der Definition. Gemeindeleitung, verstanden als Vorsitz in der Feier der Eucharistie, ist nach katholischem Verständnis nicht auf Laien übertragbar. Aber im Sinne einer Moderation des Gemeindelebens gibt es keine grundsätzlichen Hindernisse für Leitung durch Laien. Wir werden im Übrigen gar nicht daran vorbeikommen, neue Formen von Leitung zu installieren und zu praktizieren. Ich bin ein entschiedener Gegner dieser am Schreibtisch entwickelten bürokratischen Monster von Großpfarreien, die jetzt allerorten gegründet werden, nur weil wir nicht mehr genügend Priester haben. Als könnte man so die Kirche retten. Digital mag das gehen, personal und ekklesial ganz und gar nicht.

Wenn Menschen in Kirche und Gemeinde leitend tätig werden, könnten sie dann nicht auch geweiht werden?

Warten wir einmal die Amazonas-Synode im Herbst ab. Dort sind acht regionale Bischofskonferenzen zuständig. Falls sie einvernehmlich darum bitten, verheiratete Männer, sogenannte „viri probati“, zu Priestern zu weihen, wäre der Papst nach meiner Einschätzung im Grundsatz wohl dazu bereit. Aber ich denke, er will zunächst die Bischöfe und ihre Argumente hören. Er wartet auf das Votum der Ortskirche.

Und was ist mit den Frauen?

Die Kirche muss den Frauen den Platz geben, der ihnen gebührt. Das ist für mich keine Frage. Da ist inzwischen schon wesentlich mehr geschehen, als gemeinhin gesehen wird. In der römischen Kurie dürften es zweifellos noch mehr Frauen sein. Auf der mittleren Management-Ebene sind es schon mehr, als man gewöhnlich denkt. Auch an den päpstlichen Universitäten in Rom gibt es eine Reihe von Professorinnen, was noch zu meiner Zeit völlig undenkbar gewesen wäre. Aber auf der höchsten Leitungsebene ist es schwierig, auch deshalb, weil für solche Spitzenpositionen nur Kandidatinnen in Frage kämen, die bereits Leitungserfahrung hatten. Die müssten Sie aus der ganzen Welt holen – mit Umzug nach Rom und allen damit verbundenen Folgen, nicht zuletzt finanziellen. Im weltlichen Bereich hätten solche Frauen mindestens das Doppelte dessen verdient, was sie im Vatikan bekämen. Aber dennoch: Es wächst etwas, die Dinge verändern sich.

Bleibt allerdings noch die Frage nach der Weihe.

Man braucht nicht für alle Leitungsaufgaben in der Kirche eine Weihe.

Für alle entscheidenden Posten aber doch.

Ich bin dafür, Schritt für Schritt vorzugehen, und erst einmal das zu tun, was heute möglich ist. Da ist noch viel Luft nach oben. In der Frage der Weihe bin ich zurückhaltend. In Deutschland wird das sehr stark fokussiert. Schon in Italien gibt es diese Diskussion kaum, von Afrika oder Asien gar nicht zu reden. Ich bezweifle, dass es universalkirchlich in absehbarer Zeit zu Veränderungen kommen kann. Und wir könnten nicht Frauen hier in Deutschland zu Priesterinnen weihen, die dann in Afrika nicht anerkannt wären.

Unter den Frauen rumort es. Erst am Montag war wieder der „Tag der Diakonin“.

Ich weiß, das sollen sie machen. Aber ob das was bringt? Ich weiß nicht recht. Der Papst hatte ja eine Theologenkommission zur historischen Prüfung des Diakonats der Frau eingesetzt. Der Bericht ist übergeben, aber nicht veröffentlicht. Ich weiß nicht, warum. Aber ich vermute, es steht das drin, was man auch schon vorher gewusst hat, dass es nämlich unterschiedliche Auffassungen unter Historikern gibt, wie die Ämter von Frauen in der alten Kirche genau beschaffen waren. Mit einer rein historischen Betrachtung ist das Problem deshalb nicht lösbar. Damit blockiert man das Ganze eher.

Was setzen Sie denn als Vorschlag dagegen?

Mein Vorschlag lautet, sich gar nicht erst in das Prokrustesbett bestimmter historischer Situationen spannen zu lassen. Die Situation der Frauen im vierten oder fünften Jahrhundert war grundverschieden von der heutigen. Eine Pastoralreferentin macht heute zehnmal mehr als damals eine Diakonin. Man sollte deshalb von den heutigen Verhältnissen ausgehen und dafür eine liturgische Form für Frauen in kirchlichen Ämtern finden.

Aber die Frauen bestehen weiterhin auf der Teilhabe am Weihesakrament.

Die Unterscheidung einer sakramentalen und einer nichtsakramentalen Weihe ist im zwölften Jahrhundert entstanden. Und wieder sind Sie damit mitten drin in einem historischen Für und Wider, über das sich selbst der Papst nicht ohne weiteres hinwegsetzen kann. Also, so kommt man meines Erachtens nicht weiter. Tun wir das heute Mögliche und auch dringend Nötige!

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