Abo

Ausgewählte BeatmungNach diesen Kriterien entscheiden Ärzte über Leben und Tod

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt

  • In Frankreich werden seit dem 21. März keine Patienten mehr beatmetet, die über 80 Jahre alt sind. Nach deutschem Recht ist das nicht zulässig. Doch wer entscheidet im Konfliktfall?
  • Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Virologen verfügen derzeit über großen Einfluss. Auf ihrem Rat beruhen die in der Corona-Krise getroffenen Entscheidungen der Politik. Virologen sind deshalb nach Einschätzung des Wissenschaftsjournalisten Harald Lesch „systemrelevant“. Was vor Wochen noch undenkbar schien, haben sie möglich gemacht. Auf ihre Empfehlung hin hat die Politik zentrale Bürger- und Freiheitsrechte wie die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Freizügigkeit, das Recht also, sich in Deutschland frei bewegen zu dürfen, eingeschränkt. Außerdem wurden strenge Kontaktverbote angeordnet und bis auf weiteres sämtliche Schulen, Kitas und Spielplätze sowie zahlreiche Geschäfte geschlossen.

Dafür gibt es nach Auffassung der Virologen einen zwingenden epidemiologischen Grund: Nur so lässt sich ein explosionsartiges Anwachsen der Infektionszahlen und damit ein Kollaps unseres Gesundheitssystems verhindern. Ohne diese Maßnahmen würde die Zahl der Virus-Erkrankten sprunghaft ansteigen und ein Mangel an Intensivbetten mit Beatmungsgeräten entstehen. Die Folge: In kürzester Zeit würde auch die Zahl der Toten wachsen. In Italien und Spanien ist ein solches Mangel-Szenario bereits traurige Realität. In Madrid werden die Leichen mittlerweile in einer großen Eishalle aufgebahrt. Und auch in den USA steht das Gesundheitssystem mangels rechtzeitiger Schutzmaßnahmen vor dem Zusammenbruch.

Was geschieht bei einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems?

Davon sind wir derzeit mit bundesweit 28.000 Intensivbetten noch weit entfernt. Doch was geschieht, wenn es im weiteren Verlauf der Pandemie auch bei uns zu einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems kommen sollte und der Vorrat an Intensivbetten mit Beatmungsgeräten nicht mehr reicht, allen Hilfsbedürftigen ein solches Bett bereitzustellen? Nach welchen Kriterien müssen dann Krankenhausärzte entscheiden, wem ein Beatmungsgerät zugewiesen wird und wem nicht? Eine Entscheidung über Leben und Tod.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Notwendigkeit einer solchen Entscheidung rückt nach Auffassung deutscher Ärzte-Verbände näher. Sie halten einen Mangel an Intensivbetten sogar für wahrscheinlich. Für diesen Fall haben deshalb sieben medizinische Fachgesellschaften einen Katalog mit ethisch-klinischen Handlungsempfehlungen beschlossen, wie bei einer Erschöpfung der Krankenhauskapazitäten zu verfahren ist.

Triage: das Auswahlverfahren

Diesem Beschluss zufolge soll in Fällen, in denen nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten in die Intensivstation aufgenommen werden können, das in der Katastrophenmedizin maßgebliche Auswahlverfahren – „Triage“ genannt – entsprechend zur Anwendung kommen. Danach ist eine Intensivtherapie nicht mehr indiziert bei Patienten, bei denen der Sterbeprozess unaufhaltsam begonnen hat, eine Therapie also aussichtslos ist, weil keine Besserung oder Stabilisierung zu erwarten ist oder das Überleben nur bei dauerhaftem Aufenthalt auf der Intensivstation gesichert werden kann. Solche Patienten erhalten keine Beatmungsgeräte mehr.

Keine Beatmung für Patienten über 80

Im Übrigen orientiert sich nach Aussage von Uwe Janssens, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin und Mitverfasser der neuen Triage-Regeln, die Auswahlentscheidung an der klinischen Erfolgsaussicht der Patienten. Demnach ist es, so Janssens, nicht zulässig, allein anhand des kalendarischen Alters oder auf Grund sozialer Kriterien – wie Geschlecht, Beruf oder gesellschaftliche Stellung – zu entscheiden.

Damit grenzen sich die Empfehlungen der ärztlichen Fachgesellschaften – denen ich uneingeschränkt zustimme – von Triage-Regeln ab, wie sie beispielsweise im französischen Straßburg gelten: Dort werden seit dem 21. März keine Patienten mehr beatmetet, die über 80 Jahre alt sind. Eine nach deutschem Rechtsverständnis mit der Menschwürde unvereinbare Regelung. In seinem Urteil vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz – in dem es um die staatliche Abwägung von Menschenleben in einer Notsituation ging – hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das menschliche Leben „die vitale Basis der Menschenwürde“ ist und jeder Mensch als Person diese Würde besitzt, „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status“.

Die Entscheidung ist und bleibt tragisch

Das gilt Karlsruhe zufolge „unabhängig auch von der voraussichtlichen Dauer seines individuellen menschlichen Lebens“. Mit diesem Rechtsverständnis sind auch Triage-Empfehlungen nicht vereinbar, welche vor kurzem die italienische Gesellschaft für Reanimations- und Intensivmedizin den italienischen Intensivärzten an die Hand gegeben hat und die maßgeblich auf „die Länge der rettbaren Restlebenszeit“ abstellen.

Nach welchen Überlegungen auch immer Ärzte im Konfliktfall ihre Auswahlentscheidung treffen: Es bleibt eine tragische Entscheidung.

KStA abonnieren