Kommentar zu Chemnitz„Wir“ gegen „die“: Demokraten gegen Demokratiefeinde

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IMAGO NICHT WIEDERVERWENDEN Sachsen Schild

Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten: Das nehmen wir nicht hin. Das hat in unseren Städten keinen Platz.

Diese Worte stammen von Regierungssprecher Steffen Seibert, er hat damit im Namen der Bundesregierung die Vorfälle kommentiert, die am Sonntag die sächsische Metropole Chemnitz erschütterten. Das zeigt schon: Leider beschreibt er nicht die Lage im Lande, wenn er sagt, solche Hetzjagden haben in unseren Städten keinen Platz. Und es wurde ja Hass verbreitet, von örtlichen Hooligans und von Bundestagsabgeordneten der AfD: Als man über die tödliche Messerstecherei nichts wusste, außer dass Ausländer beteiligt waren, rief die rechtsradikale Hooligan-Szene schon dazu auf, in Chemnitz zu zeigen, „wer in der Stadt das Sagen hat“ – und nahm sich ihren Platz.

Noch weiß man wenig über die Krawalle und ihre Macher – ganz sicher kann man aber sagen, dass ihnen das Todesopfer egal war. Unklar ist noch, wie viele „Normalbürger“ sich beteiligten, nur dass es darauf Hinweise gibt. Trotzdem ist klar, dass die Auslöser gut vernetzte rechte Gruppen waren, und dass sich Chemnitz in diesem Sinne in eine Reihe mit Freital, Heidenau, Clausnitzoder Bautzenstellt, wo seit 2015 Ähnliches geschah. Das zeigt: Auch Seiberts erster Teilsatz ist leider keine Beschreibung. „Das nehmen wir nicht hin“?  Offenbar ja doch.

Der Appell ist wichtig – doch es folgt zu wenig

Nun muss man Seibert zugute halten: Er hat seine Worte nicht als Beschreibung gemeint, sondern als Appell. Den leitete er so ein: „Es ist wichtig für die Bundesregierung wie für alle demokratischen Politiker wie auch, denke ich, für die große Mehrheit der Bevölkerung, klar zu sagen“, dass „wir“ das nicht hinnehmen. Damit hat er zweifellos recht: Der Appell ist wichtig.

Nur, was heißt das? Was folgt daraus, für die Regierung, für demokratische Politiker, für die Bevölkerung? Bislang jedenfalls zu wenig. Nichts ist gegen Empörungsrituale wie Seiberts Appell oder große Gegendemos zu sagen. Im Gegenteil: Empörung ist ein guter erster Schritt, und sei sie ritualisiert. Nur was der zweite Schritt sein kann, das wissen wir alle nicht, wenn wir ehrlich sind. Es gibt Erklärungsversuche und Lösungsansätze – doch sie wurzeln, Hand aufs Herz, auf unserer jeweiligen politischen Einstellung oder Sozialisation.

Im Osten hat sich ein Nährboden gebildet

Wahlweise ist das Erbe der DDR-Diktatur, die soziale Kluft oder die Abstiegsängste, die mangelnde Wertschätzung der Ostdeutschen oder ihre Integration oder Repräsentation Schuld daran, dass sich im Osten eine ganz eigene politische Kultur herausgebildet hat. Denn es stimmt zwar, dass die „Hooligans gegen Salafisten“ 2014 Köln heimsuchten; dass Asylheime auch im Westen brennen; dass der AfD-Abgeordnete, der zur Lynchjustiz aufruft, Schwabe ist.

Das ändert nur nichts daran, dass sich im Osten ein fruchtbarer Nährboden für solche Schlägerbanden und ihre Ideologie gebildet hat. Aus ihm sprießen eine AfD auf CDU-Stärke, Hunderte Nein-zum Heim-Initiativen, Beifallklatscher bei Brandanschlägen und LKA-Angestellte, die mit organisierten Fremdenfeinden zu Pegida gehen.

Vielleicht taugen ja alle genannten Thesen als  Mosaiksteine für eine Gesamterklärung. Andererseits kann man jede davon empirisch widerlegen: Den AfD-Wählern geht es nicht schlechter als dem Wähler im Bundesdurchschnitt. Die Wortführer der alten und neuen Rechten stammen oft aus dem Westen. Es sind nicht alle Sachsen „so“, oft werden sie zu unrecht verspottet oder belehrt, und wer allen Chemnitzern die Hooligan-Krawalle anlastet, gibt so den Randalierern Recht damit, dass sie „in der Stadt das Sagen“ haben – und betreibt ihr Spiel.

Eine echte Fehleranalyse steht immer noch aus

Und doch ist es Fakt, dass im Osten autoritäre und xenophobe Denkmuster weit über die AfD-Anhängerschaft hinaus verbreitet sind. Und so sehr man Ostdeutschland noch immer als Transformationsgesellschaft sehen muss, die auf ihrem Weg zu einer lebendigen Zivilgesellschaft auch Rückschläge erlebt, so wie es ja auch in benachbarten Ex-Ostblockstaaten zu beoachten ist: Wie viele Generationen nach Lichtenhagen und Hoyerswerda kann man das eigentlich noch geltend machen?

Alles in allem ist dieses Mosaik an Erklärungsversuchen also weit entfernt von einer echten, offenen Fehleranalyse. Diese steht noch immer aus – und darf übrigens kein Studienprojekt der West-Elite sein, sondern muss die ostdeutsche Stimmen ernst nehmen. Das bedeutet aber auch, dass diejenigen, die sich im Osten zu Unrecht in einen Topf mit Neonazis, Wehrmachtfans und Hooligans geworfen fühlen, ein neues Wir-Gefühl entwickeln müssen. Das „Wir“ im Osten darf nicht mehr kollektiv beleidigt sein, wenn Rechtsextremismus, Vorurteile und Populismus-Anfälligkeit in den  neuen Ländern angeprangert werden.

Wenn das Ost-„Wir“ gegen „die da“ steht, dürfen damit nicht länger „die Wessis“ oder „die da oben“ gemeint sein. Mit „Wir gegen die“ muss gemeint sein: Wir Demokraten gegen die Demokratiefeinde.

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