Kommentar zum Ukraine-KriegDas Ende der deutschen Naivität

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt

Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung am Sonntag im Bundestag.

Köln – Es war die erste Rede nach dem Ende des Friedens in Europa. Es war eine Regierungserklärung, mit der Bundeskanzler Olaf Scholz einen historischen Kurswechsel vollzog. Lange, vielleicht zu lange hatte der Kanzler nach dem Angriff Putins auf die Ukraine gezögert. Auf den wachsenden Druck der Partner in EU und in der Nato hin verkündete Scholz nun die 180-Grad-Wende.

Dass die Bundesregierung ihre Weigerung aufgegeben hat, der Ukraine Waffen zu liefern, ist ein Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik. Das Dogma, Deutschland kümmere sich vor allem um die Diplomatie und andere Partner um das Militärische, gilt  nicht mehr. Berlin stellt zudem die gewaltige Summe von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr bereit und will sich mit einer beschleunigten Energiewende unabhängig von russischem Gas machen.

Swift-Ausschluss Russlands war mehr als überfällig

Aus Beständen der Bundeswehr soll Kiew nun so schnell wie möglich 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“ erhalten. Eine Entscheidung, die angesichts Putins Invasion richtig und notwendig ist. Mehr als überfällig war es auch, dass sich Scholz und die Ampelkoalition nicht mehr dagegen sperren, das internationale Zahlungssystem Swift für Russland abzuschalten. Auch wenn dieser Schritt Deutschland und Westeuropa womöglich wirtschaftlich schadet, müssen die Folgen angesichts der Kriegsgräuel in der Ukraine in Kauf genommen werden.

Alles zum Thema Olaf Scholz

Das könnte Sie auch interessieren:

Spät, sehr spät fand Scholz mit seiner Regierungserklärung auch die richtigen Worte. Denn allzu lange agierte die deutsche Außenpolitik in dem Glauben, Frieden und Fortschritt auf der Welt seien allein mit der Überzeugungskraft der Demokratie zu erreichen. Deutschland wird nun seine vielzitierte historische Verantwortung neu definieren müssen.

Ukraine braucht jetzt alle Hilfe

Bis zur Zäsur am Sonntag war jeder Tag, an dem sich die Ukraine verzweifelt gegen Putins übermächtiges Militär wehrt und um Hilfe fleht, ein Tag, an dem man sich in Deutschland wegen unterlassener Hilfeleistung schämen musste. In Kiew werden Wohnblocks bombardiert, Menschen sterben. Aus Deutschland lag lange nur das lächerliche Angebot vor, 5000 Helme zu schicken. Zudem kam aus Berlin zum Ärger aller EU- und Bündnispartner auch nach Ausbruch des Krieges zunächst das Signal, sich an den schärfsten wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland nicht  beteiligen zu wollen. Für den Fall, dass es noch schlimmer komme, müsse man noch etwas in der Hand haben, hieß es.

Doch was könnte für einen souveränen europäischen Staat schlimmer sein als das, was der Ukraine gerade widerfährt? Das Land braucht jetzt alle Hilfe, die es bekommen kann. Ökonomisch, politisch, militärisch.

Zurückhaltung war lange die einzige Option

Die nun vollzogene Kehrtwende des Kanzlers ist gleichbedeutend mit dem Ende der Naivität in der deutschen Außenpolitik. Sie kommt politisch gerade noch rechtzeitig, unabhängig von der Frage, ob die späte Hilfe an die Ukraine militärisch noch Sinn hat. Ein weiteres Zaudern wäre Deutschland in Europa womöglich jahrzehntelang vorgehalten worden. Wenn wir für die Werte Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung einstehen wollen, geht dies nicht nur durch Sonntagsreden.

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund seiner Geschichte zu Recht aus kriegerischen Konflikten weitgehend herausgehalten. Das Leid, das Nazi-Deutschland verursacht hat, ist beispiellos und wiegt schwer. Vor diesem Hintergrund war Zurückhaltung die einzige Option. Doch angesichts der Aggression Russlands, die die komplette europäische Nachkriegsordnung von 1945 bedroht, muss Deutschland sich neu positionieren.

In der Ukraine wird auch die Freiheit des ganzen Kontinents verteidigt

Der Krieg in der Ukraine ist der größtmögliche Testfall für den Westen. Auch die Großmacht China, die ebenso wie Russland große Expansionspläne hegt, wird genau hinschauen, wie geschlossen Nato und EU auf Putins Angriff reagieren werden.

Die Ukraine kämpft ums Überleben und braucht unsere Hilfe. In dem Land an der Ostflanke Europas wird auch die Freiheit des ganzen Kontinents verteidigt.  Deutschland muss Kiew unterstützen. Mit allem, was wir einsetzen können – jenseits eines direkten militärischen Einsatzes. Und wir müssen dabei auch ökonomische Einbußen in Kauf nehmen.

Noch ist nicht absehbar, wie weit der Diktator in Moskau gehen wird. Ob er das nach Demokratie strebende Nachbarland vernichten, womöglich auch noch einen Nato-Staat angreifen will? Niemand  weiß das heute. Aber es gibt die Aussicht, dass der Überfall auf die Ukraine der Anfang vom Ende Putins sein kann. Wenn der Westen ihm geschlossen die Stirn bietet, wenn die Demokratien der freien Welt zusammenstehen.

KStA abonnieren