Lokführer leben in Angst vor Suiziden„Dieses Geräusch kriege ich nie wieder raus“

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Symbolbild

  • Lokführer tragen ein besonderes Berufsrisiko: Im Schnitt zweimal in ihrem Berufsleben überfahren sie einen Menschen. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei um Suizide.
  • Nachdem ein achtjähriger Junge vor wenigen Wochen vor den ICE geschubst und überrollt wurde, wächst bei den Lokführern jetzt aber sogar beim Einfahren in den Bahnhof die Angst.
  • Wie geht es ihnen damit? Wir haben mit einem Lokführer über den Moment gesprochen, der sein Leben für immer und dramatisch verändert hat.

Wie oft er sich gefragt hat, ob er es nicht doch hätte verhindern können. Ob er die Strecke noch aufmerksamer hätte im Blick haben können. Ob er noch schneller hätte bremsen können. Ob er irgendetwas hätte ahnen können. Aber am Ende war die Antwort immer Nein.

Das Gute daran war, dass er nicht den Hauch einer Schuld hatte.

Das kaum Erträgliche daran war, dass er vollkommen ohnmächtig war.

„Man fühlt sich für etwas schuldig, für das man nichts kann“, sagt Meinhard Bahr heute. „Das ist das Schlimme.“ Es ist der 19. August 2012, ein Sonntag, als Bahr die Regionalbahn 15607 von Wächtersbach nach Frankfurt am Main fährt. Es ist früh am Morgen, der Himmel ist stahlblau, die Sicht ungetrübt. Die Person aber, die in einer lang gestreckten Kurve hinter dem Stromkasten kauerte, konnte er dennoch nicht erkennen. Keine Chance.

Bahr bremst sofort, aber bei Tempo 120 braucht es mehrere Hundert Meter, bis der Zug zum Stehen kommt. Er gibt über Funk Bescheid, „RB 15607 meldet Personenschaden“, dann steigt er aus und geht zurück. Er würde jetzt gerne helfen. Aber schon von Weitem, aus noch 50 Metern Entfernung, sieht er, dass es hier nichts mehr zu helfen gibt.

Er geht zurück, setzt sich wieder in den Führerstand, wartet, bis die Kollegen von der Bahn eintreffen. Er wird abgelöst, ins Krankenhaus gebracht, seine Frau holt ihn ab. In diesem Moment denkt er noch, dass ihn dieser Moment nicht verändern wird, ihn, den gestandenen Eisenbahner, den Fußballer, den Macher, den doch bislang noch nie etwas umgeworfen hat. Aber das war dann doch ein Irrtum. „Das ist etwas, das immer in einem drinbleibt“, sagt Meinhard Bahr heute.

Lokführer, das ist ein Traumberuf, noch immer. Die Fahrten durch idyllische Landschaften, bei offenem Fenster, einsam und doch als Teil eines großen Systems, dieser spezielle Eisenbahnergeist, alles das begeistert den 53-Jährigen noch immer, nach schon 36 Jahren bei der Bahn.

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Aber es gibt eben auch dieses sehr spezielle Berufsrisiko. Das liegt an den Unfällen, die es mit Zügen gibt, selten, aber oft mit schwerem Ausgang. Es liegt an Verbrechen, extrem seltenen, aber brutalen, verstörenden Taten, wie vor Kurzem in Frankfurt, als ein Mann eine Mutter und ihren Sohn wie aus dem Nichts vor einen einfahrenden Zug schubste. Und es liegt, vor allem, an denjenigen, die sich entscheiden, sich mithilfe eines Zuges selbst zu töten. Jedes Jahr sind es in Deutschland etwa 700 bis 800 Menschen, die das tun. Rein rechnerisch bedeutet das, dass, bei 20 000 Lokführern, jeder ungefähr zweimal in seinem Berufsleben einem Suizid ausgesetzt ist. Wobei es natürlich einige wenige gibt, die, glückliche Fügung, von solch einem Ereignis ganz verschont bleiben. Und andere, die, so berichten es Lokführer aus dem Kollegenkreis, sieben- oder achtmal gezwungen sind, einen Menschen zu überfahren.

Lokführer sind nicht die Einzigen, die einen solchen Anblick aushalten müssen. Es betrifft auch Rettungssanitäter oder Polizisten. Die Psychologie weiß inzwischen, was Menschen davor schützt, durch solche Erlebnisse eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, wie es in der Fachsprache heißt.

Die Ohnmacht ist das Schlimme

„Wichtig ist, dass man in so einer Situation sinnvoll handeln kann“, sagt der Psychiater Volker Reinken, Chefarzt der Vincera Klinik Bad Waldsee. „Dass man hilft, jemanden wegbringt zum Beispiel, und man sich als selbstwirksam und handelnd erlebt.“

Für Polizisten und Sanitäter ist es in diesen Situationen Teil ihres Berufes zu helfen, also etwas zu tun. Bei Lokführern ist das anders.

„Sie sind in ihrem Führerstand gefangen“, sagt Reinken. „Das ist das Schlimme.“ Für sie ist es eine Ohnmachtserfahrung. Der Lokführer Meinhard Bahr bleibt nach diesem Erlebnis erst einmal ein paar Tage zu Hause. Er macht eine Kur, drei Wochen lang. Es ist anders als früher, als Lokführer nach einem solchen Vorfall einfach weitergefahren sind, als wäre nichts geschehen, Bahr kann sich noch daran erinnern.

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Meinhard Bahr

Inzwischen ist alles geregelt, die sofortige Ablösung, dazu die Möglichkeiten, anschließend in einen anderen Bereich zu wechseln. Seit 2017 steht all dies im Tarifvertrag der Bahn, auch die kritische Gewerkschaft der Lokomotivführer ist mit den Regeln zufrieden und hält sie für einen deutlichen Fortschritt. Auch die Bahnunternehmen wissen, welche Gefahr die posttraumatische Belastungsstörung für ihre Lokführer ist – und für den Personalstand in einem Bereich, in dem ohnehin stets Mangel herrscht.

Meinhard Bahr ist zuversichtlich, als er einige Wochen nach dem Vorfall zum ersten Mal wieder in eine Lok steigt. Schließlich hatte er ja früher schon kritische Situationen scheinbar folgenlos überstanden. Sieben Jahre zuvor zum Beispiel, als er mit seinem Zug schon einmal eine Person überrollte, die er zuvor nur schemenhaft noch gesehen hatte, unsicher, ob es überhaupt ein Mensch war. Oder, noch ein paar Jahre früher, als er an einem Bahnübergang einen Pkw rammte, darin eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern, beide noch keine zehn Jahre alt. Die Mutter war just in dem Moment angefahren, als Bahr sich mit der Lok näherte, eine rätselhafte Fehlwahrnehmung der Frau, Bahr erwischte den Wagen mit dem rechten Poller, das Auto schleuderte herum, eine Achse des Zugs sprang aus dem Gleis.

Anschließend lag das Auto im Graben, auf dem Dach. „Und die Familie kam unverletzt heraus, einer nach dem anderen“, sagt Bahr. Ein kleines Wunder.

Und da war auch noch der Steinewerfer, der drei große Brocken vor ihm von der Brücke fallen ließ. Bahr kann ihn noch heute beschreiben, Schirmmütze, helle Kapuzenjacke, er hat ihn ja lange genug gesehen. Aber was nützte das schon, er konnte nichts verhindern und die Polizei hat ihn nicht gefunden.

Die ersten beiden Steine fielen vor ihm ins Gleisbett. Der dritte traf seine Lok an der vorderen Dachkante. Hätte er die Frontscheibe durchschlagen, „hätte ich mir ausrechnen können, was mit mir geschehen wäre“. So bekam die Scheibe nur einen Riss. Auch so ein kleines Wunder.

Die ersten Fahrten jetzt, sieben Wochen nach dem Suizid, macht er in Begleitung, sein Teamleiter ist bei ihm im Führerstand. Eine langsame Wiedereingewöhnung. Alles geht gut. Bahr passiert auch die Stelle bei Offenburg, die lang gestreckte Linkskurve mit dem Stromkasten. Nichts Auffälliges. Als hätte es diesen Suizid nie gegeben.

Also fährt Meinhard Bahr wieder allein. Die erste Fahrt, wieder mal Frühschicht, von Fulda Richtung Frankfurt. Gerade fünf Minuten ist er unterwegs, da muss er anhalten. Er spürt sein Herz heftig schlagen, kalter Schweiß tritt aus seiner Haut, er fühlt sich schwach, wie in Panik. Als aschfahl beschreiben ihn die Kollegen, die er zu Hilfe ruft.

„Ich kannte so etwas nicht von mir“, sagt er, „ich hätte nie damit gerechnet.“ Und zumindest im ersten Moment kann er es sich auch nicht erklären.

Ein Reiz, dann kommt es wieder

Wenn Psychiater erklären wollen, wie ein Trauma entsteht, benutzen sie zum Beispiel das Bild eines Bibliothekars, der die Erinnerungen wie Bücher in ein Regal sortiert. Nur dass er sich bei den besonders belastenden Erlebnissen manchmal irrt, dass er sie unter falschen Signaturen in die Fächer stellt und das Buch auch noch zerreißt. „Und ein Trigger, ein irgendwie ähnliches Ereignis, kann dafür sorgen, dass die Seele das Buch entweder teilweise oder ganz wieder zusammensetzt – das ist ein Flashback“, erklärt der Psychiater Reinken. Die Person erlebt alles aufs Neue. Samt aller Gefühle.

Bei Meinhard Bahr ist es ein Klang, der sich in seinem Kopf festgesetzt hat. Das Geräusch, wenn ein menschlicher Körper an einer tonnenschweren Lok mit Tempo 120 zerschellt. Es ist nicht das Bild, das ihn belastet. „Dieses Geräusch“, sagt er, „das kriege ich in meinem ganzen Leben nie wieder raus.“

Auf die Frage, wie häufig Lokführer nach einem solchen Ereignis ihren Beruf nicht mehr ausüben können, gibt die Bahn nur vage Antworten. Ein Großteil der Betroffenen kämen ohne medizinische Betreuung aus. Weniger als zehn Prozent begäben sich in ambulante Therapie, drei bis fünf Prozent in stationäre. Dass jemand berufsunfähig werde, komme „nur in Einzelfällen“ vor.

Ein Arzt legt Bahr nahe, seinen Beruf aufzugeben. Aber das will er nicht. Mit 47 zu Hause? Endgültig? „Das war nicht meine Sache.“ Bahr macht erneut eine Therapie, diesmal länger und gezielter. Es gibt Kliniken, die auf diese Berufsgruppe regelrecht spezialisiert sind, auch die von Psychiater Reinken gehört dazu.„Besonders in der Behandlung von einmaligen Traumata, sogenannten Monotraumatia, ist die Psychotherapie inzwischen sehr weit, da stehen die Chancen auf eine rasche Besserung sehr gut“, sagt er.

Ein schwieriger Weg ist es dennoch. Ein knappes halbes Jahr dauert es, dann ist auch der Lokführer Bahr wieder so weit stabilisiert, dass er sich wieder in den Führerstand setzt. Er ist auch heute noch dabei, fast jeden Tag passiert er die kritische Stelle, den Stromkasten, ohne etwas Besonderes zu spüren. Was nichts daran ändert, was er von solchen Suiziden oder anderen Vorfällen hält, bei denen Lokführer zu Tötungshelfern wider Willen werden.

„Das sind tätliche Angriffe“, sagt er, „die einem einen Schaden zufügen, den man nicht wieder loswird.“ Auch deshalb möchte er, dass der Täter von Frankfurt deutlich bestraft wird, weil er ein Leben ausgelöscht und viele andere für immer beschädigt hat. Auch das Leben von denen, die dieser Täter zu Zuschauern und zu seinem Werkzeug gemacht hat.

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Die Bremswege von Zügen sind sehr lang, die Lokführer haben meist keine Chance zu bremsen, wenn Menschen auf den Gleisen liegen.

Und wenn ihm dasselbe nun wieder passiert? Wenn wieder jemand vor oder an seiner Lok zu Tode kommt? Wenn er wieder dieses Geräusch hört? Ob er sich gewappnet fühlt?

Bahr sagt, er wisse es nicht. Aber er weiß, was passiert ist, als ein Jahr nach dem Suizid damals 30 Meter vor seiner Lok plötzlich ein Jogger am Übergang vor ihm auftauchte. Mit dicken Kopfhörern auf den Ohren. In aller Ruhe trabte er auf die Gleise. Bahr fuhr 120.

Er bremste, spürte, wie sein Herzschlag seinen Körper erfüllte, nach ein paar Hundert Metern kam sein Zug zum Stehen. Bahr sah aus dem Fenster – und entdeckte den Jogger zwischen den Feldern, in aller Ruhe weiterlaufend.

„Der hat wahrscheinlich nicht mal etwas gemerkt“, sagt Bahr. Sehr gerne wäre er dem Jogger jetzt hinterhergelaufen, hätte ihm die Kopfhörer abgenommen und ihn tief angeschaut. Er hätte ihm, so viel ist sicher, einiges zu erzählen gehabt.

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