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Missbrauchsbeauftragte des Bundes„Wir alle schützen Kinder zu wenig“

Lesezeit 11 Minuten
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Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung

  • Kerstin Claus ist Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM).
  • Die Journalistin wurde als Jugendliche von einem evangelischen Pfarrer missbraucht und engagiert sich seit langem für Aufklärung und Prävention.
  • Im Interview erklärt sie, was sie sich von einer Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum Köln verspricht und woran es bei der Aufarbeitung hapert.

Frau Claus, was macht es für einen Unterschied, dass das Amt der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung jetzt von einer Betroffenen ausgeübt wird?

Für mich stellt es sich so dar: Mit dem Amt ist auch meine Expertise in den Mittelpunkt gerückt. Was ich sage, kann nicht einfach emotionalisiert und damit abqualifiziert werden.

Was heißt das?

Alles zum Thema Erzbistum Köln

Zu emotionalisieren, bedeutet oft, Qualität entwerten zu wollen. Betroffene erleben in Diskussionen rund um Aufarbeitung häufig, dass ihr Gegenüber auf noch so sachkundige, rationale und aufgeräumt vorgetragene Beiträge erwidert: „Ich verstehe ja Ihre Gefühle als Betroffene. Aber nüchtern betrachtet, sieht es in der Sache doch so und so aus…“ Diese Strategie zur Entkräftung valider Argumente von Betroffenen verfängt in meinem Fall nicht mehr. Ich bin zwar immer noch dieselbe Person mit meiner Geschichte. Aber durch mein Amt werde ich mit meiner inhaltlichen Kompetenz noch einmal anders wahrgenommen.

Sie wurden als Jugendliche von einem evangelischen Pfarrer missbraucht. Sehen Sie die Gefahr, gegenüber der evangelischen Kirche übereifrig unterwegs zu sein oder – im Gegenteil – mit einer Beißhemmung, damit nur ja keiner sagt, Sie hätten als „Betroffene mit Bundesadler“ eine persönliche Agenda?

Ich halte mich da für gut sortiert. Mein Amt gilt allen Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter. Deswegen ist es für mich ein wesentliches Anliegen, dass es keine Betroffenen erster, zweiter oder dritter Klasse geben darf. Dass der öffentliche Fokus stärker auf die Kirchen gerichtet ist als zum Beispiel auf die Familien, hat verschiedene Gründe.

Welche Gründe?

Zum einen ist ein institutionelles Gebilde wie die Kirche besonders spannend. Zum anderen hat es etwas Entlastendes für die Menschen, wenn sie sagen können: „Der Missbrauch passiert dort und nicht hier.“ Familie aber ist „hier“ - für jede und jeden. Solange wir das nicht begreifen, werden wir Kinder und Jugendliche nicht besser schützen, zumal auch der institutionelle Kontext sexualisierter Gewalt – die Kirchen, der Sport – für die betroffenen Familien ein „Hier“ ist.

Dann haben die Kirchen für die Öffentlichkeit doch so eine Art Sündenbock- oder Prügelknaben-Funktion?

Nein und ja. Die Kirchen haben eine besondere moralisch-ethische Fallhöhe. Sie werden zurecht mit höheren Maßstäben gemessen als andere Institutionen. Dass nun ausgerechnet hier Kinder und Jugendliche sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren und sind, bedeutet auch für die Gesellschaft insgesamt eine Umkehrung moralischer Erwartungen. Das „Wächteramt“, das Staat und Gesellschaft den Kirchen in ethischen Fragen zubilligen, fällt jetzt plötzlich ihnen selbst zu: Der Staat muss ein Wächteramt gegenüber den Kirchen einnehmen. Mit diesem Rollenwechsel tun sich alle Seiten noch schwer.

Sie haben die Frage nach den Kirchen als Sündenbock aber zum Teil auch bejaht.

Richtig ist: Wir alle schützen Kinder zu wenig, weil wir zu wenig auf ihr Nahfeld schauen und es bislang nicht gelungen ist, im sozialen Gefüge von Kindern und Jugendlichen hinreichende Schutzkonzepte zu etablieren. Familien genießen vom Grundgesetz her besonderen Schutz. Der Staat darf hier nicht ohne Weiteres eingreifen. Und noch immer herrscht eine falsche Vorstellung von sexualisierter Gewalt vor. Die meisten denken: „Gewalt? Die sehe ich doch, die höre ich doch!“ Aber das ist falsch. Sexualisierte Gewalt ist zunächst unsichtbar, und es gehört zum strategisch-manipulativen Vorgehen der Täter und Täterinnen, sie unsichtbar zu halten. Sichtbar, manifest wird sie deshalb oft erst dann, wenn sie lange und massiv ausgeübt worden ist.

Wie kann das verändert werden?

Studien zu Verkehrsunfällen zeigen, dass Menschen eher bereit sind, einzugreifen, wenn ihr Erste-Hilfe-Kurs noch nicht so lange her ist. Damit der oder die Einzelne handlungsfähig wird, müssen wir uns zutrauen, in einer bestimmten Situation auch sinnvoll handeln zu können. Übertragen auf Missbrauch heißt das: Jede und jeder braucht ein paar Basics, ein Grundwissen, einige zentrale Kompetenzen, um auf die Wahrnehmung von Missbrauch angemessen reagieren zu können. Ohne solche Basics ist es wie mit dem Autofahrer, der an der Unfallstelle steht und verzweifelt darauf hofft, dass andere den Verwundeten zu Hilfe kommen.

Sie haben das mal mit Regeln für den Brandschutz verglichen. Sagen Sie vier Regeln zur Missbrauchsbekämpfung, die alle draufhaben müssen!

Erstens: Mit Kindern sprechen. Zuhause, in der Schule, in den Freizeitkontexten. „Sag mir, wenn dir unterwegs oder beim Surfen im Internet etwas komisch vorkommt!“

Zweitens: Das regionale Hilfeangebot kennen. Der erste Schritt ist nicht gleich die Anzeige bei der Polizei oder der Gang zum Jugendamt. „Sollte mir etwas verdächtig vorkommen, habe ich die Nummer des bundesweiten Hilfetelefons, des Kinderschutzbunds oder einer Fachberatungsstelle bei mir vor Ort im Handy eingespeichert – so ähnlich wie die 110.“

Drittens: Einen Verdacht zulassen. „Wenn ich ein Bauchgefühl habe, hat das einen Grund.“ Das ist noch keine Vorverurteilung. Und gerade im Umgang mit Kindern sollte nicht der Reflex greifen, „ach, wahrscheinlich interpretiere ich da etwas hinein.“

Viertens: Das Notfall-Kit im Kopf parat haben. „Wenn etwas passiert, tue ich Folgendes…“ Man muss die Wege einmal durchdacht haben, damit man sie dann auch beschreiten kann.

Ihr Vorgänger Johannes-Wilhelm Rörig hat 2020 mit der katholischen Kirche in einer „Gemeinsamen Erklärung“ vereinbart, dass die Aufarbeitung des Missbrauchs in der Regie der einzelnen Bistümer geschieht. Stehen Sie hinter dieser Regelung?

In der früheren Bundesregierung gab es keinen großen politischen Willen, sich des Themas Aufarbeitung und verbindliche Standards anzunehmen. Deshalb ist die „Gemeinsame Erklärung“ das Maximum dessen, was damals erreichbar war. Und dahinter stehe ich. Die Frage heute ist allerdings: Reicht der politische Wille inzwischen weiter? Und sind wir bereit, über Nachbesserungen zu verhandeln – etwa über die nach wie vor defizitäre Beteiligung der Betroffenen?

Als Defizit wird auch das Reglement zur Opferentschädigung kritisiert, für das wiederum die Kirche selbst verantwortlich ist. Der Kölner Landgerichtspräsident Roland Ketterle hat von einer rechtsstaatlich fragwürdigen „Blackbox“ gesprochen.

Die von den Bischöfen eingerichtete Kommission zur Bemessung der Leistungen an Betroffene ist kein rechtsstaatliches Instrument und hat kein rechtsstaatliches Mandat. Da hat Herr Ketterle Recht. Es geht aber um freiwillige Leistungen einer Institution, die dafür – wiederum freiwillig – einen organisatorischen Rahmen geschaffen hat. Wer sich dort ehrenamtlich engagiert, hat es nicht verdient, an den Pranger gestellt zu werden. Andererseits gilt auch für das Thema Entschädigung: Sind wir heute weiter? Ist der Staat bereit, klarere Vorgaben zu machen? Das würde dann übrigens nicht nur für die Kirchen gelten, sondern auch für den Sport und andere Bereiche.

Welche Struktur schwebt Ihnen für die Opferentschädigung vor?

Vielleicht könnte ein Stiftungsmodell eine Option sein, weil es die hinreichende Ferne zu den Täterorganisationen hätte. Mit einem wiederum externen Monitoring ließe sich dann auch die Qualität der Arbeit in einer solchen Stiftung gut nachhalten. Mir als Beauftragter der Bundesregierung etwa steht es gar nicht zu, die Unabhängige Anerkennungskommission der katholischen Kirche zu beurteilen. Dafür habe ich weder die Kenntnis noch ein Mandat. Ich möchte aber auch einmal daran erinnern, dass wir bereits ein staatliches System zur Opferentschädigung haben.

Sie meinen das Opferentschädigungsrecht?

Ja. Nach dem Opferentschädigungsgesetz können theoretisch auch Missbrauchsopfer Ansprüche geltend machen und deutlich höhere Leistungen erhalten als im kirchlichen Verfahren. Der Staat wiederum kann dann den Täter oder die Institution Kirche in Regress nehmen. In Einzelfällen passiert das auch schon. Voraussetzung ist, dass der Bischof einem Missbrauchsopfer nicht nur sagt, „ich glaube dir“, und ihm damit die Aussicht auf kirchliche Anerkennungsleistungen eröffnet, sondern dass es auch ein offizielles Schuldanerkenntnis der Kirche gibt. Damit könnten Betroffene wenigstens die Taten eher nachweisen. Das wäre ein erster Schritt, um Zugang zu den Leistungen des staatlichen Opferentschädigungsrechts zu bekommen. Und: Der Staat könnte auf dieser Grundlage auch kirchliche Täter oder die Institution selbst in Regress nehmen.

In Köln klagt jetzt ein Missbrauchsopfer gegen das Erzbistum auf Schadenersatz. Wie schätzen Sie dieses Verfahren ein?

Diese Klage ist ungeheuer wichtig, auch wenn der Rechtsweg sehr langwierig werden dürfte. Hier geht es um sehr grundlegende Rechtsfragen, nämlich die Amtshaftung einer Institution für ihre Beschäftigten. Die Chancen für einen Erfolg sind – soweit ich das verstehe – deshalb gut, weil in diesem konkreten Fall kein Tatnachweis mehr erforderlich ist. Der verstorbene Geistliche hat seine Taten zugegeben. Eine zweite Hürde könnte das Verfahren nehmen, wenn das Erzbistum Köln sich nicht auf die Verjährung im Zivilrecht beruft.

Was wissen Sie darüber?

Es sieht im Moment danach aus, dass das Erzbistum auf die Einrede der Verjährung verzichtet. Ich begrüße das sehr. Wenn es dabeibliebe, würde das bedeuten: Auch die Kirche hat verstanden, dass es Rechtsklarheit über Amtspflichten und Amtshaftung braucht. Mit Blick auf die Zukunft hätte das dann sicherlich Folgen für die Vorkehrungen, die eine Institution trifft, um Missbrauch in ihrem Bereich zu verhindern.

Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber hat 2019 gesagt, das Problem Missbrauch sei für die evangelische Kirche nicht so dramatisch wie für die katholische, weil deren Strukturen – hierarchisches Amt, Pflichtzölibat, Sexualmoral – andere Voraussetzungen böten. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

Das verbindende Moment ist Macht und Machtmissbrauch. Darauf beruht sexualisierte Gewalt – egal in welchem Kontext. Das systemische Setting ist in der evangelischen Kirche tatsächlich etwas anders, weil es hier vermeintlich „freier“ zugeht als in der katholischen Kirche. Geistliche Macht ist evangelisch nicht so leicht identifizierbar. Aber es gibt sie. Auch in vielen evangelischen Gemeinden wird nicht hinterfragt, was der Herr Pfarrer macht. Das evangelische Pfarrhaus war und ist ein Machtzentrum eigener Art. Und schon innerevangelisch zeigt sich, dass es im Hinblick auf Missbrauch keinen großen Unterschied gibt zwischen eher progressiven Landeskirchen etwa in Norddeutschland oder dem pietistischen Baden-Württemberg mit sehr viel restriktiveren Strukturen. Per se schützt weder das eine noch das andere System.

Warum nicht?

Weil Täter ihre Anbahnung an den Strukturen ausrichten: mal klerikal aufgeladen – der Herr Pfarrer, der in Gottes Namen agiert; mal kumpelig – der coole Vikar, der Jugendliche „auf Augenhöhe“ behandelt. Am Ende ist es so: Der Status und die Macht des Amtes schützen Täter – katholische wie evangelische.

Immer wieder heißt es, die Aufarbeitung sollte den Kirchen ganz weggenommen und in die Hände des Staates gelegt werden. Warum eigentlich ausgerechnet der Staat, der über Jahrzehnte weder den Missbrauch im Sport noch im schulischen Kontext effektiv bekämpft hat?

Gegenfrage: Wer denn sonst, wenn nicht der Staat? Sie haben Recht: Über Jahrzehnte hinweg ist der Gesellschaft und dem Staat das Wegschauen phänomenal gut gelungen. Beim Kinderschutz haben alle miteinander versagt. Hinschauen ist deshalb ein Lernprozess – auch für Verantwortliche im Staat. Die amtierende Bundesregierung hat sich so klar und verbindlich wie keine ihre Vorgängerinnen dazu bekannt, dass die Aufarbeitung gestärkt werden muss – eine gesetzliche Verankerung eingeschlossen, falls das erforderlich sein sollte. Das ist schon mal eine neue Qualität. Und meine Arbeit besteht nun auch darin, das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung auszuloten und zu überlegen, wie ein verbindliches „Recht auf Aufarbeitung“ aussehen könnte.

Was macht Sie so sicher, dass man dann auf Sie hören würde?

Mein Amt ist gestärkt und verstetigt. Es wird jetzt auf eine gesetzliche Grundlage gestellt mit Berichtspflicht an den Bundestag. Und was meine dringendsten Anliegen betrifft, sehe ich zumindest Gesprächsbereitschaft.

Sie fordern in schöner Regelmäßigkeit eine Dunkelfeldstudie.

Die erwähnte Berichtspflicht macht nur Sinn auf Basis valider Daten. Diese Daten gibt es nicht, und das ist im Jahr 2022 ein Skandal. Für die Aufhellung des Dunkelfelds ist mein Fokus nicht retrospektiv. Meine Aufgabe kann es nicht sein, zeithistorische Analysen etwa für die Kirchen zu machen. Ich muss stattdessen die Gegenwart anschauen: In welchem Umfang und in welcher Weise sind Kinder und Jugendliche heute von sexualisierter Gewalt betroffen? Das Ziel ist, Missbrauch heute schneller aufzudecken, Kinder und Jugendliche heute bestmöglich zu schützen, wo immer sie sich aufhalten.

Im September kommen Sie nach Köln, um sich mit Vertretern aller bisher eingerichteten katholischen Aufarbeitungskommissionen zu treffen. Angesichts der Vorgänge im Erzbistum rund um den Missbrauchsskandal sagen Kritiker, eine solche Veranstaltung ausgerechnet in Köln sei so ähnlich, als ob Sie eine Tagung über den Weltfrieden in Moskau geplant hätten.

Also, erstens: Das ist nicht meine Veranstaltung. Ich folge einer Einladung der Deutschen Bischofskonferenz. Und als Gast komme ich auch nach Köln. Zweitens: Es geht um einen zum Austausch mit den Kommissionsvertretern, nicht um einen Rapport. Ich möchte die Gelegenheit dazu nutzen, auf eine Vergleichbarkeit der Arbeit zu dringen. Die Kommissionen haben teils sehr verschiedene Ziele mit unterschiedlichem Vorgehen. Betroffenen aber geht es um Transparenz und gleiche Zugänge und Rechte. Ungleicher Umgang ist deshalb nicht im berechtigten Interesse der Betroffenen, für die ich mich ja stark mache. Der Ort dafür ist schlecht und gut zugleich.

Warum?

Als Person agiere ich in Köln nicht anders als in München, Hamburg oder anderswo. Aber wenn es in der Zeit meines Besuchs Diskussionen geben sollte, die mit dem Erzbistum und seiner Führung zu tun haben, dann mag es von Vorteil sein, dass ich mir in Köln selbst ein Bild machen und Stellung nehmen kann.

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