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Nach Merkels TV-AppellHat die Bundesregierung falsch gehandelt?

Lesezeit 6 Minuten
Merkel Spahn DPA 190320

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel.

Köln/Berlin – Die Opposition reagiert staatstragend in einer Bewährungsprobe ungekannten Ausmaßes für das ganze Land. „Gut, richtig und wichtig“ nennt Grünen-Chef Robert Habeck Angela Merkels dringenden TV-Appell an die Nation zur Eindämmung des Coronavirus. FDP-Chef Christian Lindner lobt, dass die Kanzlerin „uns alle in die Pflicht nimmt“. Bernd Riexinger von der Linken merkt vorsichtig an, Appelle reichten nicht. Einzig das Krawall-Faktotum der AfD, Beatrix von Storch, hat Merkel schon vor deren Rede den Willen abgesprochen, „die Bürger zu schützen“.

Mit solchen Ausfällen dürfte die Kanzlerin umgehen können. Aber es gibt auch seriöse Stimmen, die ein zögerliches, verspätetes oder falsches Krisenmanagement der Regierung beklagen und Merkels Rede als Versuch sehen, diese Kritik beherzt zu übertönen. Was sind die Vorwürfe?

Die Bundesregierung hat das Ausmaß der Bedrohung unterschätzt

Das ist schlechterdings nicht zu bestreiten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ist die höchstrangige Politikerin, die das zugegeben hat – und zwar gleich stellvertretend für die gesamte politische Klasse: „Ich glaube, wir alle, die wir nicht Experten sind, haben am Anfang das Coronavirus unterschätzt“, sagte sie am Mittwoch in der Sendung „Bild live“.

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Zwar behauptete Gesundheitsminister Jens Spahn am 1. März für die Regierung, „wir haben das Coronavirus vom ersten Tag an sehr ernst genommen“. Beweis: „Es ist uns über Wochen in Deutschland und Europa gelungen, die Infektionsketten zu unterbrechen und eine Verbreitung zu verhindern.“

Das und Spahns Verweis auf 16 Infizierte in Deutschland zum Stichtag 26. Februar nimmt sich aus heutiger Sicht ähnlich verharmlosend aus wie Spahns Erklärung, es sei „nicht abzusehen gewesen, dass sich ein Betroffener auf einer Karnevalsveranstaltung aufgehalten“ habe, zumal die meisten Bürger doch unabhängig vom Coronavirus „mit Erkältungssymptomen von sich aus nicht zum Karneval oder ins Kino gehen“.

Das mag die Karnevalserfahrung eines – nun ja – Westfalen sein. Ist aber jedenfalls keine valide Risiko-Einschätzung.

Die Regierung hat die Dinge zu lange laufen lassen

Fakt ist, dass die Kanzlerin die Moderation und Kommunikation der Krise lange Zeit ihrem Gesundheitsminister und den Ministerpräsidenten der Länder überlassen hat. Spahn und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) wirkten hier sortiert und abgestimmt, blieben aber über jeden Verdacht erhaben, sie wollten als Bewerber-Tandem für den CDU-Vorsitz auf üble Weise Kapital aus der Krise schlagen.

Auf die Frage, wer wohl der Schuldige sei, sagt der heute wohl bekannteste Virologe Deutschlands, Christian Drosten von der Berliner Charité: Niemand. „Ich glaube wirklich nicht, dass irgendjemand da einen Fehler gemacht hat.“ Deutschland sei auch nicht zu langsam gewesen. Im Nachhinein zu monieren, man hätte Karneval ausfallen lassen müssen, sei „ein bisschen einfach gesagt. Es gab ja gar keine Fälle“.

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Als Kronzeuge der Anklage fungiert Drostens Kollege Alexander Kekulé von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er spricht von „epidemiologischem Versagen“ und sagt: „Wir haben es vergeigt.“ Wir. Wer ist das? Spahn habe auf die falschen Berater gehört. Also sind die Wissenschaftler schuld und insbesondere das „Robert-Koch-Institut“, das viel zu lange die Corona-ist-nicht-so-schlimm-wie-die-Grippe-Litanei gesungen und mit einer Art von „Fake Science“ die Bevölkerung zu beruhigen versucht habe? Ja und Nein, führt Kekulé aus. Es sei nicht Sache der Wissenschaft, Ansagen zu machen. Entscheiden müssten die Politiker. Nur – auf welcher Basis, wenn fachlicher Streit der „Sport“ ist, aus dem Wissenschaftler sich immer einen Spaß machten? Das sei „wie Schachspielen“, so Kekulé.

Die Regierung hätte von Anfang an eine ähnlich radikale Isolationsstrategie verfolgen sollen wie die Chinesen.

Auch diese Kritik stützt sich auf Kekulé, der aber fast im gleichen Atemzug erklärt, eine Totalisolation aller Infizierten und ihrer Kontaktpersonen funktioniere in der Praxis nicht, schon gar nicht in „freien Gesellschaften“. Noch am Donnerstag hofft Kekulé , das „völlig übertriebene“ Instrument der Ausgangssperre würde vermeidbar sein, zeigt sich aber wegen der Uneinsichtigkeit in der Bevölkerung skeptisch. Vor zwei Wochen erklärte Drosten dazu: „Wir können in Deutschland so etwas wie in China nicht machen. Unsere Politik ist nicht so absolut. Unsere Gesetze sind nicht so.“ Derart massive Eingriffe in die bürgerlichen Freiheiten, die Volkswirtschaft und das öffentliche Leben, wie sie etwa die Länderchefs Laschet in NRW oder – immer einen Schritt voraus – Markus Söder (CSU) in Bayern seit einigen Tagen vornehmen, wären noch vor Wochen als völlige Hysterie gebrandmarkt worden. „Die Bevölkerung hätte das damals nicht verstanden“, räumt auch ein hochrangiger Merkel-Kritiker aus der CDU ein, um dann hinzuzufügen: „Ein typischer Fall für politische Führung.“ 

Die Regierung hätte die Risikogruppen (Alte, Kranke) konsequent isolieren und dann kalkuliert eine Infektionswelle durchs Land ziehen lassen müssen, die den Gesunden kaum schadet und sie zudem immunisiert, so dass der Spuk anschließend vorüber gewesen wäre. 

„Das kann man vergessen“, sagt Christian Drosten. Auch Alexander Kekulé schildert dieses „Großexperiment“ als eine Hochrisiko-Wette, die einzugehen man sich „nicht getraut“ habe – „richtigerweise“, wie der Experte hinzufügt. 

Die Bundesregierung hat es zugelassen, dass das Virus erst aus China und dann aus europäischen Anrainerstaaten nach Deutschland gelangen konnte.

Hier richtet sich der Blick sowohl auf Berlin als auch auf Brüssel. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt beklagt fehlende Absprache, Koordination und – in der Folge – den Rückzug ins „nationale Schneckenhaus“. Kekulé erinnert daran, dass er bereits im Januar verschärfte Kontrollen bei der Einreise aus China gefordert habe. Und er äußert Unverständnis darüber, dass deutsche Rückkehrer aus Italien viel zu lange ungehindert und ohne umgehende Quarantäne-Maßnahmen ins Land gelassen worden seien. „Eine knallharte Fehleinschätzung“ und „die Methode, um wirklich eine explosionsartige Vermehrung hinzukriegen.“ Deutschland habe so getan, als verhielte sich das Virus in – sagen wir – Modena anders als in Mainz.

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Die für eine Pandemie erforderlichen Vorkehrungen waren unzureichend.

Dies ist der vielleicht dramatischste Teil von Kekulés Kritik. Nicht einmal für das Klinikpersonal seien die erforderlichen Atemschutzmasken in ausreichender Zahl vorhanden. Er spricht von einem „Verstoß gegen das Arbeitsschutzgesetz“ und von einer „Katastrophe“ – für die Kranken, für die Alten und für ihre Betreuenden. Insgesamt gesehen, sei es „fünf nach zwölf“. Es müsse nun alles dafür getan werden, die Uhr auf fünf vor zwölf zurückzudrehen. Kekulé lässt offen, ob das gelingen kann. 

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