NRW-Europaminister im GesprächBoris Johnson handelt unverantwortlich

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Stephan Holthoff-Pförtner 1

Ex-Europaminister Stephan Holthoff-Pförtner (CDU) 

  • Seit 2017 ist Stephan Holthoff-Pförtner in Nordrhein-Westfalen als Europaminister im Amt.
  • Im Interview spricht er unter anderem über NRWs Rolle in der Europäischen Union.
  • Auch wenn Nordrhein-Westfalen vom Brexit-Theater teilweise profitiere, übt Holthoff-Pförtner Kritik an Premierminister Boris Johnson.
  • Warum viele osteuropäische Staaten den Brexit fürchten und welche Rolle sie in Zukunft in der EU einnehmen könnten.

Köln – NRW-Europaminister Stephan Holthoff-Pförtner über das Brexit-Theater, die guten Beziehungen zu den Benelux-Ländern und Versäumnisse im Verhältnis zu Südosteuropa.

Herr Holthoff-Pförtner, Sie sind der „Außenminister“ von NRW. Welches Gewicht wirft NRW in Europa in die Waagschale?

Wenn Nordrhein-Westfalen ein Nationalstaat wäre, dann wären wir von der Wirtschaftskraft die Nummer sieben in Europa. Unser Land ist ein gewaltiger Markt mitten im Herzen Europas. Im Radius von 500 Kilometern um uns herum leben und arbeiten rund 160 Millionen Menschen. Keine andere europäische Region verfügt über eine solche Kaufkraft. Deswegen sind wir ein interessanter Handelspartner. Das Gewicht, das man in die Waagschale wirft, hängt aber nicht nur davon ab.

Sondern?

Es kommt auch auf die handelnden Personen an. Ministerpräsident Laschet begegnet den Regierungschefs der Nachbarländer bei Regierungskonsultationen auf Augenhöhe. Natürlich betreibt Nordrhein-Westfalen als Bundesland keine eigene Außenpolitik. Aber die Kontakte sind sehr effektiv und beispielsweise gerade die Freundschaft mit unseren Benelux-Nachbarn von großem Wert. Aus den Gesprächen mit allen Benelux-Ministerpräsidenten sind Vertrauensverhältnisse gewachsen. Das ist perfekt. Damit kann man viele Vorgänge beschleunigen.

Zur Person

Stephan Holthoff-Pförtner wurde 1948 in Essen geboren. Nach dem Jura-Studium gründete er eine schnell wachsende Anwaltskanzlei.

Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl ließ sich in der CDU-Spendenaffäre von Holthoff-Pförtner vertreten. Aus dem Mandat entwickelte sich eine Freundschaft. Als sich Holthoff-Pförtner 2013 mit seinem Lebensgefährten verpartnerte, war Kohl einer der Trauzeugen.

Anfang der 1990er-Jahre wurde der Jurist von Gisela Holthoff adoptiert, einer Tochter von Jakob Funke, dem Mitbegründer der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“. Holthoff-Pförtner hält heute 16,7 Prozent der Funke Mediengruppe. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet berief ihn 2017 zum NRW-Europaminister. (gmv)

Haben Sie Beispiele?

Mit den Niederländern haben wir uns zuerst die Themen Sicherheit, Arbeitsmarkt, Ausbildung und Verkehr vorgenommen. Es gibt immer in allen Bereichen noch viele Hürden, die wir da abbauen wollen. Ein Beispiel aus dem Alltag: Niederländische Notarztwagen dürfen Patienten nur dann in eine deutsche Klinik bringen, wenn ein Arzt dabei ist. Solche Regelungen können zu lebensgefährlichen Zeitverlusten führen. Auch bei der Rettung aus der Luft müssen wir besser zusammenarbeiten. Warum sollten niederländische Rettungshubschrauberpiloten ihre Maschinen nicht bei uns auftanken dürfen?

Die Brexit-Pläne von Großbritannien sorgen jeden Tag für neue Schlagzeilen. Der britische Premier Boris Johnson schickt das Parlament in eine Zwangspause. Ist das ein Angriff auf die Demokratie?

Ich bin in solchen Urteilen zurückhaltend. Wir sollten andere nicht belehren und müssen die Verfassung der Briten akzeptieren. Gleichzeitig gibt es aber eine moralische Kategorie. Da habe ich eine klare Meinung. Die Art und Weise, wie Johnson mit seinem eigenen Land umgeht, ist unverantwortlich.

Kann NRW etwas tun, um Einfluss zu nehmen?

Es ist gut, dass die EU in den Verhandlungen mit einer Stimme spricht. Wenn jetzt jeder Einzelne auf den Tisch haut, ist das nicht zielführend. 

Profitiert NRW von Unternehmen, die England verlassen?

Nach aktuellem Stand sind es 106 Unternehmen, die sich seit dem Referendum bei uns neu angesiedelt haben. Über Neuansiedlungen von Unternehmen freuen wir uns natürlich. Wir sehen das auch als Erfolg unserer gezielten Standortpolitik. Es gibt in Nordrhein-Westfalen übrigens auch in großer Zahl Polen, die bislang in Großbritannien gelebt haben und die sich jetzt bei uns neu orientieren. Wichtig ist aber, dass der Handel und der Austausch mit Großbritannien auch nach einem Brexit bleibt. Es ist die elementare Aufgabe der Landesregierung, die Verbindungen mit dem Vereinigten Königreich aufrechtzuerhalten und zu stärken. Das fängt bei Schulpartnerschaften an, setzt sich über Städtepartnerschaften bis zur Wirtschafts- und Wissenschaftszusammenarbeit fort. Hier sind alle gefordert.

Droht für NRW ein Einbruch bei den EU-Fördermitteln durch den Brexit?

Der Gesamthaushalt der EU schmilzt durch den Brexit insgesamt wahrscheinlich um 10 bis 14 Milliarden Euro ab. Wir brauchen daher sicher neue Finanzierungsformen, um den Verbund erhalten zu können. Wir brauchen eine kraftvolle EU, um in der Welt handlungsfähig bleiben zu können. Das muss das oberste Ziel sein, vor allen Finanzierungsfragen.

Wie funktioniert die EU ohne die Briten?

Gerade viele Osteuropäer befürchten, dass die Gewichte sich verschieben und durch den Ausstieg der Briten künftig ein wichtiges Korrektiv wegfällt. Es gibt Ressentiments in Ost- und Südosteuropa gegen Paris und damit gegen die deutsch-französische Zusammenarbeit. Dies muss man ernst nehmen – nicht indem man weniger mit Frankreich zusammenarbeitet, sondern indem man den Menschen in Südosteuropa besser zuhört und ihre Anliegen wahrnimmt.

Woher kommen die Ressentiments?

Das hat unterschiedliche Ursachen, die zum Teil historisch bedingt sind. So ist in Ungarn die Erinnerung an die Weltkriegsbündnisse noch wach. Dort sieht man Frankreich als früheren Kriegsgegner. Polen und Ungarn hatten sich überdies von den Deutschen mehr Dankbarkeit für ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung gewünscht. Sie nehmen wahr, dass Osteuropa in den Köpfen der „alten“ EU-Länder als Partner noch nicht richtig angekommen ist.

Stephan Holthoff-Pförtner hat in seinem Büro ein Bild aus der Reihe „Men in the Cities“ von Robert Longo hängen. Das Kunstwerk gehört dem Minister.

Stephan Holthoff-Pförtner hat in seinem Büro ein Bild aus der Reihe „Men in the Cities“ von Robert Longo hängen. Das Kunstwerk gehört dem Minister.

Wollen Sie die Osteuropäer stärker in den Blick nehmen?

Unbedingt. Aber wir brauchen Geduld, wenn wir unseren Freunden in Polen und Ungarn zuhören, und wir dürfen sie nicht überfordern. Wir müssen immer im Hinterkopf haben, wie lange wir selbst gebraucht haben, um da zu stehen, wo wir heute sind.

Wie meinen Sie das?

Die polnische Kirche vertritt in bestimmten Teilen reaktionäre Ansichten. Aber die CDU und die Deutsche Bischofskonferenz haben in den 1960er Jahren auch ganz andere Positionen vertreten als heute. Damals hat die katholische Kirche zum Beispiel die Parole ausgegeben, der SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt sei schon deshalb nicht wählbar, weil seine Geburt unehelich war. Gleichwohl gibt es heute natürlich Streitpunkte, die für uns nicht verhandelbar sind. In Polen und Ungarn ist die Pressefreiheit stark eingeschränkt. Das können wir nicht akzeptieren. Hier müssen die EU-Verträge eingehalten werden, Punkt. Das gilt natürlich auch für die Unabhängigkeit der Gerichte. Aber es wäre fatal, wenn wir den Gesprächsfaden bei anderen Themen verlieren würden, zum Beispiel in der Migrationspolitik oder bei gemeinsamen Anstrengungen zum Klimaschutz.

Ohne die Osteuropäer wäre Ursula von der Leyen nicht zur Kommissionspräsidentin gewählt worden...

Ja, daran sieht man, wie wichtig der Dialog ist.

Sie haben den italienischen Innenminister scharf kritisiert, weil der die Seenotrettung von Flüchtlingen nach Italien massiv erschwert hat.

Flüchtlinge, die in Seenot sind, abzuweisen, ist verantwortungslos und zutiefst unchristlich, dabei bleibe ich. Auch das Beispiel Italien zeigt, wie wichtig es ist, auf der einen Seite klare Position zu beziehen, auf der anderen Seite den Austausch auf allen Ebenen und damit das wechselseitige Verständnis zu fördern. Ebenfalls mit Italien hat es zu wenig Gespräche gegeben. Der Austausch von Unternehmern und Universitäten mit Gesprächspartnern über Ländergrenzen hinweg ist unbezahlbar. Der Staat hat die Aufgabe, die Zivilgesellschaft bei der Kontaktpflege zu unterstützen. 

Gab es diplomatische Verwicklungen wegen der Kritik?

In Italien ist inzwischen eine neue Regierung im Amt.

Wie wichtig ist es, als Europaminister diplomatisches Geschick zu besitzen?

Sehr wichtig. Wenn Menschen einmal verletzt, Beziehungen oder persönliche Kontakte beschädigt sind, ist das nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen. Wir brauchen unsere europäischen Nachbarn.

Gab es auch Momente, in denen Sie es bereut haben, Europaminister geworden zu sein?

Nein, meine Begeisterung für diesen Job ist seit dem Amtsantritt immer weiter gewachsen.

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