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NRW-Justizminister zu Pädokriminalität„Kein Täter kann sich mehr sicher sein“

Lesezeit 5 Minuten
Biesenbach dpa

Peter Biesenbach (CDU), Justizminister von Nordrhein-Westfalen.

  • Mit einer Task-Force will die Justiz in NRW Missbrauchstätern und Kinderpornozirkeln schneller auf die Schliche kommen.
  • Seit Beginn der Nachforschungen im Herbst 2019 hat die EG Berg in Kooperation mit der ZAC bundesweit mehr als 90 Pädokriminelle identifiziert.
  • Justizminister Peter Biesenbach fordert, die EG Berg zu einer dauerhaften Einheit umzuwandeln.

Düsseldorf – Der Druck ist groß. Jedes Mal, wenn die Strafverfolger neu durchsuchen, stoßen sie im Missbrauchskomplex EG Berg auf neue Datenträger, auf neue Chats, auf neue virtuelle Fährten, an dessen Ende die nächsten Pädokriminellen und ihre Opfer stehen könnten. 30.000 digitale Spuren führen die Staatsanwälte im Kölner Justizzentrum allein in diesem Mammutverfahren in ihren Akten. Das bedeutet 30.000 unbekannte Personen, die in den Kinderpornozirkeln ihr Material austauschen oder sich zum sexuellen Übergriff auf Kinder verabreden. Der Zeitfaktor spielt eine große Rolle, denn, so sagt NRW-Justizminister Peter Biesenbach beim Besuch in der Redaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Je höher der Ermittlungsdruck wird, umso mehr Kinder können wir vor Leid bewahren.“

Ende Juni hat Biesenbach eine Task-Force in der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) bei der Kölner Staatsanwaltschaft eingerichtet. Sechs zusätzliche Ankläger sollen die enorme Spurendichte abarbeiten. Biesenbach spricht von „einer immensen Hausforderung. Die gigantische Personenzahl in diesen Chats hat mich fassungslos gemacht“. Die unbekannten Täter agieren über Aliasnamen, meist verschleiern sie in den einschlägigen Messenger-Foren ihre Herkunft. ZAC-Chef Markus Hartmann geht im Gespräch mit dieser Zeitung davon aus, „dass es am Ende vermutlich noch mehr als 30 000 Personen sein werden, deren Spuren wir finden und nachgehen“.

Bundesweit mehr als 90 Pädokriminelle identifiziert

Seit Beginn der Nachforschungen im Herbst 2019 hat die EG Berg im Kölner Polizeipräsidium in Kooperation mit der ZAC bundesweit mehr als 90 Pädokriminelle identifiziert, viele wurden inzwischen angeklagt. So zuletzt ein Vater aus dem Hessischen, der sich an seinen beiden Töchtern im Alter zwischen elf Monaten und zehn Jahren sowie an seiner Stieftochter und einer Freundin der Mädchen in 62 Fällen schwer vergangen haben soll. Die Hinweise stammten aus einem Chatverkehr mit einem mutmaßlichen Pädokriminellen aus Bergisch Gladbach, bei dem der Ermittlungskomplex seinen Anfang nahm.

Nun starten die Strafverfolger den Versuch, Zehntausende nicht identifizierte Täter anhand sichergestellter Chatprotokolle, Forenbeiträgen, Fotos oder Videos aus dem Netz zu enttarnen. Jeder Hinweis kann zum Durchbruch führen. Wenn etwa einer der Männer von einem Ausflug mit der Tochter erzählt oder der Name ihrer Freundin fällt. Die Organisatorin der Task-Force, Staatsanwältin Dana Voß, spricht von „Kreuztreffern durch Querverweise“. Der Abgleich aller verfügbaren Informationen auf die Person ergänzt durch neue Auswertetechnik soll das Dickicht zigtausender Pseudonyme durchdringen.

Kriminalistische Puzzlearbeit

Selten agierten die Täter unter mehreren Identitäten. „In der Szene geht es um Anerkennung, um Reputation“, sagt Hartmann. Da zähle der Name und die Qualität des Materials. Nur dann steige der Kurs des Absenders in der Pädokriminellen-Community. Die Cyberfahnder stießen auf Kinderporno-Chats mit Tausenden Teilnehmern. Hierarchisch gegliedert durch einen Chefadministratoren nebst Verantwortlichen für Rubriken: Jungen, Mädchen, Kleinstkinder, Gewaltszenarien bis hin zu Rollenspielen.

In den Gesprächen würden die Männer die Taten laut Voß verharmlosen. „So, als seien diese Verbrechen völlig normal“, sagt die Staatsanwältin. Mancher Beschuldigter habe es bedauert, dass die Ehefrau seine Neigungen nicht teile. Tipps zirkulieren, um die Kinder mittels Arzneien ruhig zu stellen. Oder aber die Täter reden sich ein, äußerst behutsam vorgegangen zu sei, um den Opfern keine Schmerzen zuzufügen.

Justizminister Biesenbach geht von 200.000 bis 300.000 pädophilen Männern aus

Durch die Einstiegsluke Internet, die den Zugang zu Videos und Bildern so leicht macht, explodieren die Zahlen der Konsumenten. Justizminister Biesenbach zitiert „vorsichtige Schätzungen“, die von 200.000 bis 300.000 pädophilen Männern ausgehen. Aus seiner Sicht handelt es sich längst nicht mehr um ein „Randphänomen.“

Deshalb verhandelt der Unionspolitiker nach eigenen Angaben derzeit mit Innenminister Herbert Reul, die EG Berg in eine dauerhafte Einheit umzuwandeln: „Wir benötigen eine schnelle Eingreiftruppe, um die großen Missbrauchs- und Kinderpornoverfahren im Land zentral bearbeiten zu können. Ideal wäre, wenn wir die bestehenden Strukturen bei der Kölner Polizei dazu weiter nutzen könnten.“

„Die Zeiten, in denen Pädophilen die Trägheit der Justiz in die Karten spielte, sind vorbei“

Die ZAC-Experten befürworten das Vorhaben. Durch die enge Zusammenarbeit der vergangenen Monate seien neue Standards entwickelt worden, die zu schnelleren Ermittlungserfolgen geführt hätten. „Heute können wir in der Regel binnen 24 Stunden einen Durchsuchungsbeschluss erwirken“, sagt Hartmann. „Die Zeiten, in denen Pädophilen die Trägheit der Justiz in die Karten spielte, sind vorbei. Kein Täter sollte sich mehr sicher sein. Das Entdeckungsrisiko hat sich durch die Einrichtung der Task-Force potenziert.“

Biesenbach ist stolz auf die neue Task-Force. „Es ist uns gelungen, die ZAC innerhalb von vier Wochen neu aufzustellen. Nirgendwo in Deutschland gibt es eine Einheit mit vergleichbarer Schlagkraft.“ Die Anklageerhebungen würden sich vervielfachen: „Ich bin froh, dass wir den Sumpf sexualisierter Gewalt gegen Kinder so schneller trocken legen können.“

Vorratsdatenspeicherung ein wichtiges Thema

An Geschwindigkeit gewinnt die Ermittlung schon dadurch, dass Beweisanforderungen vereinheitlicht wurden, so Hartmann. Die ZAC-Ankläger konferieren mit der Kripo täglich per Videoschalte, um sich über den Verfahrensstand auszutauschen und Maßnahmen zu treffen: „Dadurch kommt ungeheures Tempo in die Nachforschungen, der Druck auf die Täter wächst.“

Bleibt das Thema der Vorratsdatenspeicherung. Tausende Verfahren zu Kinderpornografie und Missbrauch im Netz versanden, weil die Provider die IP-Adressen ihrer Kunden nur wenige Tage vorhalten. Erkundigen sich die Sicherheitsbehörden später nach dem verdächtigen Internet-Anschlussinhaber, so läuft ihre Anfrage ins Leere.

Ermittlungslücke muss geschlossen werden

Biesenbach will nun mit seinem bayerischen Kollegen Georg Eisenreich Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) auffordern, „diese Ermittlungslücke durch ein neues Gesetz zu schließen“. Ferner will er ein Gutachten in Auftrag geben, das trotz aller Vorbehalte einen Weg findet, um die Mindestspeicherfrist zu verlängern.

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Denn längst wartet die nächste Herausforderung. Das Kölner Justizzentrum erreichte jüngst ein ganzer Berg von Akten und Daten zum Münsteraner Missbrauchskomplex. Über die darin enthaltene Zahl an Spuren zu Pädokriminellen will sich Oberstaatsanwalt Hartmann nicht äußern. „Da stehen wir noch ganz am Anfang.“ Dennoch: Hinter jeder dieser digitalen Spuren könnte der entscheidende Hinweis auf einen laufenden Missbrauch stecken. Der Druck ist groß, jeder Tag zählt.  

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