Angst vor RetraumatiserungMissbrauchte Heimkinder wollen nicht ins Altenheim

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Uwe Werner und Sylvia Wagner vor dem Vereinslogo

Uwe Werner und Unterstützerin Sylvia Wagner

Für viele missbrauchte ehemalige Heimkinder ist das eine Horrorvorstellung: Sie werden pflegebedürftig  und müssen in eine stationäre Einrichtung umziehen. Experten befürchten eine Retraumatisierung. 

Volker H. ist 72 Jahre alt. Das Schicksal hat es nicht gut mit ihm gemeint. Er wuchs als Waisenkind in der 50er Jahren in einem evangelischen Kinderheim auf, wo er gedemütigt und von älteren Jungen sexuell missbraucht wurde. Eine Erfahrung, die ihn traumatisiert hat. Jetzt sieht Volker H. sich jeden Tag mit den quälenden Erinnerungen konfrontiert. Nachdem er pflegebedürftig wurde, brachte man ihm in derselben Einrichtung unter, in der er als Kind gelitten hatte. „Der Kreis hat sich geschlossen“, sagt Volker H. und schüttelt den Kopf.

In NRW leben noch rund 60 000 ehemalige Heimkinder. Viele haben jetzt das Rentenalter erreicht, etliche haben gesundheitliche Probleme. Die meisten versuchen, so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden zu leben.  Dafür nehmen sie auch massive Nachteile in Kauf, wie zum Beispiel anstrengendes Treppensteigen in eine Dachwohnung. Ein allgegenwärtiger Gedanken treibt sie an. „Sie wollen nie wieder zurück in ein Heim. Nicht zurück in die Strukturen, die sie gebrochen haben“, sagt Uwe Werner im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Opfer leben oft isoliert

Werner ist der Sprecher der „1. Heimkinder Community NRW“ in Mönchengladbach. Der Verein besteht seit acht Jahren, kümmert sich um Betroffene, die ihre Kindheit nach 1945 in Erziehungsheimen verbracht haben. Viele wurden körperlich oder seelisch misshandelt, vergewaltigt oder für Medikamentenversuche missbraucht. „Viele leben isoliert und zurückgezogen, haben den Sprung in ein normales Leben nicht geschafft“, sagt Werner. Da es oft keine familiären Strukturen gebe, müssten die meisten ehemaligen Heimkinder bei Pflegebedarf in stationäre Einrichtungen umziehen. „Dieser Horror sollte ihnen erspart bleiben“, so der Chef der Community.

Der Verein hat jetzt ein achtseitiges Konzept vorlegt, das eine Alternative aufzeigen soll. „NRW-Wohnmodell-Projekt für ehemalige Heimkinder“, lautet die Überschrift. Ziel ist, den Betroffenen ein begleitetes Wohnen mit ambulanten Pflegestrukturen anzubieten. „Wir planen ein Hilfesystem, das den sozialpsychiatrischen Belangen der ehemaligen Heimkinder gerecht wird“, erklärt Werner. „Sie sollen ihr Leben in Würde, selbstbestimmt und altersgerecht führen können.“

Verantwortliche ducken sich weg 

Das Hauptproblem ist dabei – wie so oft – das fehlende Geld. Wenn es um finanzielle Unterstützung geht, sehen sich die ehemaligen Heimkinder im Stich gelassen. Obwohl die skandalösen Zustände in den Erziehungseinrichtungen zu den dunkelsten und verstörendsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte gehören, gelingt es den Trägern, sich bei den Entschädigungen der Opfer wegzuducken. „Die Kirchen speisen die Betroffenen oft mit Einmalzahlungen in Höhe von 5000 Euro ab“, berichtet Werner. Aus seiner Sicht wäre eine hohe fünfstellige Summe und eine Dauerente von 300 Euro im Monat angemessen.

Der Verein setzt jetzt darauf, dass das Land das Projekt unterstürzt. Josef Neumann, der Vorsitzende des Sozialausschusses im Landtag, signalisierte auf Anfrage unserer Zeitung sein Befürworten an.  „Diese Idee hat unsere volle Unterstützung. Es geht schließlich um die wichtige Frage, wie wir eine Retraumatisierung von Menschen verhindern können, die als Kinder in Heimen missbraucht worden sind und als ältere Menschen wieder in Heime zurückkehren“, so der SPD-Politiker. „Dafür muss es Lösungen geben, und daran wirken wir auf politischer Ebene selbstverständlich mit.“

Arndt Klocke, Sprecher für mentale Gesundheit in der Landtagsfraktion der Grünen, sieht das ähnlich: „Heimkinder haben in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg schreckliche Dinge in den Heimen erleben müssen. Eine Retraumatisierung muss nun, wo sie als ältere Menschen teils in Pflegeeinrichtungen kommen, unbedingt vermieden werden“, sagt der Politiker aus Köln. In ihrer Psyche seien schlimme Verletzungen abgespeichert, die wieder aufbrechen könnten: „Daher sollte auch das Land prüfen, wie eine Unterstützung bei der Etablierung von beispielsweise Wohngruppen aussehen kann.”

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