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PolitikverdrossenheitJunge Menschen wollen raus aus der Komfortzone

Lesezeit 6 Minuten
Anhänger der Bewegung „Pulse of Europe“ gehen – wie hier in Köln – sonntags für die Europäische Union auf die Straße.

Anhänger der Bewegung „Pulse of Europe“ gehen – wie hier in Köln – sonntags für die Europäische Union auf die Straße.

Köln – Dass sie mal ein Parteibuch in den Händen halten würde, das hätte Christine Lehnen (26) noch vor kurzem nicht für möglich gehalten: „Das war keine Option für mich. Irgendwie altmodisch. Ich hatte nie das Gefühl, dass das nötig ist.“ Bis zu der Nacht vom 8. auf den 9. November. Da saß die Bonner Studentin in Paris mit zwei Freundinnen aus Ungarn und Österreich vor dem Fernseher, um Hillary Clinton bei der US-Wahl siegen zu sehen. Die ganze Nacht verfolgt sie entsetzt, wie ein Bundesstaat nach dem anderen an Donald Trump geht. Dass das Unvorstellbare geschieht, löst etwas in ihr aus.

„Es gab jetzt durch Trump zum ersten Mal das Gefühl, wie schnell alles kaputtgehen kann. Irgendwie wurde mir klar, dass ich jetzt aktiv werden muss.“ Noch am Morgen danach habe sie online den Partei-Mitgliedsantrag abgeschickt, erzählt das neue SPD-Mitglied. Dass es die SPD wurde, das sei für sie als Kind des Ruhrgebiets natürlich gewesen.

Das Gefühl, dass etwas ins Rutschen geraten ist

Brexit, Trump und der erstarkende Rechtspopulismus sorgen bei vielen jungen Menschen erstmals in ihrem Leben für das diffuse Gefühl, dass etwas ins Rutschen geraten ist. Dass so etwas scheinbar Selbstverständliches wie Demokratie nicht einfach so bleibt. Neu ist aber, dass es nicht beim Gefühl des Unbehagens und der Angst bleibt, sondern hieraus ein Impuls zum Handeln entsteht. Den teilt Lehnen mit sehr vielen Altersgenossen. Und er beschert den Parteien einen unerwarteten Aufschwung: egal ob Union, SPD, Grüne, FDP oder Linke. Alle Parteigeschäftsführer reiben sich erstaunt die Augen darüber, dass täglich Mitgliedsanträge eingehen. Vor allem, wenn sie auf das Geburtsdatum der Neumitglieder schauen. Galten Parteien doch bei jungen Leuten als verstaubt, schwerfällig und irgendwie von gestern. Seit der Wahl von Trump ist das anders: Bundesweit traten allein im Januar und Februar dieses Jahres mehr als 6500 Menschen in die SPD ein. Klar profitiert die SPD von dem Hype um Martin Schulz. Aber das allein greift als Begründung zu kurz. Denn auch die Union stellte innerhalb von zwei Monaten über 3100 neue Parteibücher aus.

Eine Recherche des „Kölner Stadt-Anzeiger“ ergab, dass sich in Köln alle Parteien über lange nicht da gewesene Zuwächse freuen: Allein im Januar und Februar 2017 waren es bei der Kölner SPD mehr als 300, in der CDU 150 Anträge. Bei den Liberalen 56 (zwölf mehr als etwa im ganzen Jahr 2015), bei den Grünen 33 und bei der Linken knapp 40. Nur der AfD-Kreisverband Köln ließ mitteilen, dass er dazu „keine Angaben machen kann“. Jeweils mindestens zwei Drittel der Neuen sind zwischen 20 und 35 Jahren alt. Und zwar quer durch alle Parteien. „Seit der Wahl von Trump gibt es ein riesiges Interesse an der Parteiarbeit“, erzählt Oona Grünbaum, Geschäftsführerin der Kölner Grünen. „Bei den Partei-Infoabenden für Interessierte saßen früher immer so im Schnitt drei bis fünf Leute“, erzählt sie. Seit der Trump-Wahl reichen die Stühle nicht mehr: „45 Interessierte drängten sich im November in den Raum. So viele wie noch nie.“ Fast alle zwischen 20 und 35 Jahren alt.

Trump-Wahl hat eine Rolle gespielt

CDU-Parteichef Bernd Petelkau freut sich über die unverhoffte Verjüngungskur: „Die jungen Leute sehen plötzlich eine viel stärkere Notwendigkeit, sich einzubringen.“ Zum Beispiel Joshua Kilb. Der 20-jährige Kölner Student der Wirtschaftspsychologie ist im Januar in die CDU eingetreten. Klar habe die Trump-Wahl eine Rolle gespielt, aber auch die Bewunderung für die Haltung von Angela Merkel in der Flüchtlingskrise.

Im Grunde kam eins zum anderen: Syrien-Konflikt, US-Wahl und jetzt noch die Türkei. Kilb findet wichtig, „wieder über unser Demokratieverständnis nachzudenken“. Kilb will sich aktiv in die Lokalpolitik einmischen, hat schon Rhetorik-Seminare besucht. Vor allem will er jetzt im Wahlkampf raus auf die Straße. „Weil ich mit denen, die anders denken, ins Gespräch kommen will.“

Raus aus der Komfortzone

Diese neue Lust an der Debatte, den Impuls rauszugehen aus der Komfortzone der eigenen Filterblase teilen sie alle. Bei den Kölner Linken melden sich nach Angaben der Partei viele junge Leute, die Wahlkampftrainings mitmachen möchten, um jetzt im Landtagswahlkampf auf der Straße zu diskutieren. So wie Dara-Marc Sasmaz (25), seit diesem Jahr Parteimitglied der Kölner Linken.

Politisch interessiert ist er schon lange, diskutiert in politischen Internetforen. Lädt die Jugendlichen, die er in seiner Sportgruppe ehrenamtlich trainiert, zu Diskussionsabenden über politische und gesellschaftliche Themen ein. Jetzt aber will er sich gezielt schulen lassen, um gut zu argumentieren. „Man sieht ja, was in Ungarn und Polen los ist. Ich will einfach mit verhindern, dass die Trumps dieser Welt an die Macht kommen.“

Andreas Matthies (28) aus Lindenthal ist Anfang dieses Jahres zum ersten Mal Vater geworden. „Politisch interessiert war ich schon länger.

Aber jetzt gab es so eine Art innerer Unruhe.“ So eine Mischung aus dem Gefühl, „dass ich die Verrohung der politischen Kultur nicht mehr einfach hinnehmen will und dieser neuen Verantwortung für ein Kind“, erklärt der Diplom-Kaufmann, was ihn zu dem Eintritt in die FDP bewogen habe. Beim politischen Aschermittwoch durfte er mal reinschnuppern und fand den Mix interessant – vor allem die starken europäischen Standpunkte.

Mischung aus Debatte und Straße

Dominik Wellhäuser (30) ist frisch gebackendes Mitglied der Kölner Grünen. Als einer, für den das Thema Nachhaltigkeit ganz oben stehe, sei das die natürliche Wahl gewesen.

Die neue Lust der Jungen an der Mischung aus Debatte und Straße macht sich aber auch ganz abseits parteipolitischer Festlegung an der Neugründung von Bewegungen fest. Die Journalistin Mareike Nieberding (28) erfand noch in der US-Wahlnacht heulend vor dem Fernseher „Demo“ – die Bewegung für Demokratie. Auf ihren Post „Liebes Facebook, hiermit gründe ich eine Jugendbewegung“ schlossen sich ihr Tausende junge Menschen an, um etwa politische Workshops in Schulen zu organisieren oder Diskussionsabende in Kneipen. Mittlerweile gibt es Regionalgruppen in fast allen Bundesländern.

Die Kölner Demo-Gruppe trifft sich an diesem Sonntag erstmals um 16 Uhr im Bona’me am Kennedyplatz 2. Koordinator Jens Baumanns (22) ist „total gespannt, was draus wird. Neben der Debatte im kleineren Rahmen wollen wir natürlich auch raus auf die Straßen und Plätze“. Genauso wie „Pulse of Europe“, die ebenfalls im November 2016 gegründete Bewegung für den Erhalt der Europäischen Union, die mittlerweile jeden Sonntag um 14 Uhr in 40 Städten Europas auf die Straße geht. „Klar, dass ich da auch dabei bin“, erzählt Christine Lehnen. Letzten Sonntag zum ersten Mal. „Sehr spannend, meine allererste Demo-Erfahrung.“ Für welches politische Thema hätte sie auch in ihrem bisherigen Leben auf die Straße gehen sollen: „Es lief doch alles.“ Aber jetzt gehe es um Europa. „Als wir bei der Demo alle gemeinsam die Europahymne gesungen haben, das war ein tolles Gefühl.“

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