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Professorin für Erziehungshilfe„Den Begriff Systemsprenger finde ich fragwürdig“

Lesezeit 3 Minuten
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„Systemsprenger“ zeigen schon ab sehr jungem Alter auffälliges Verhalten – und scheinen bei der Betreuung durch jedes Raster zu fallen.

  • Kürzlich sorgte ein Fall aus Kerpen für Aufsehen: Die Stadt gibt 85.000 Euro pro Monat für die Betreuung eines 14-jährigen Mädchens aus. Sie gilt als „Systemsprengerin“
  • Nadia Kutscher ist Professorin für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit an der Universität Köln.
  • Im Interview erklärt sie, wieso die Betreuung eines Systemsprenger-Kindes so aufwändig ist und wieso der Fachkräftemangel sie zusätzlich erschwert.

Köln – Frau Professorin Kutscher, ab wann gilt ein Kind als „Systemsprenger“? Meistens sind mit dem Begriff Kinder und Jugendliche gemeint, die schon ab einem jungen Alter auffälliges Verhalten zeigen. Dieses Verhalten ist meist die Folge von schlimmen Erfahrungen und Beziehungsabbrüchen, die sie erlebt haben, die dann beispielsweise schwere Bindungsstörungen zur Folge haben. Sie durchlaufen viele institutionelle Wechsel, weil Regeleinrichtungen oft nicht für ihre besonderen Bedürfnisse ausgelegt sind und ihr Verhalten dann die Einrichtungen an ihre Grenzen bringt: sie erleben dann viele Schulwechsel, weil die Schulen sie für „nicht beschulbar“ erklären und immer wieder Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen und Wechsel zwischen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Das bedeutet immer wieder einen Beziehungsabbruch, eine Retraumatisierung und in der Folge oft eine Verstärkung dieses herausfordernden Verhaltens.

Dabei brauchen diese Kinder und Jugendlichen eigentlich sehr flexible Formate und eine hohe Beziehungskontinuität. Deshalb finde ich den Begriff Systemsprenger etwas fragwürdig: Wer sprengt hier denn was? Sind die Kinder und Jugendlichen das Problem? Oder sind die Institutionen nicht hinreichend darauf ausgelegt, Kindern mit hochproblematischen Erfahrungen und Verhalten zu helfen? Wir sprechen da auch von scheiternden Hilfeverläufen.

Der Fall eines Mädchens in Kerpen sorgte kürzlich für Aufsehen: Die Stadt gibt 85.000 Euro pro Monat für dieses Kind aus, für die Betreuung, für Sicherheitspersonal, für ein Deeskalationsteam. Wie selten sind solche Fälle?

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Dazu gibt es keine keine verlässlichen Zahlen. Aber solche Fälle gibt es immer wieder. Durch das Verhalten, das als besonders schwierig wahrgenommen wird, ist so ein spezifisches Setting notwendig – beispielsweise eine Einzelbetreuung, weil es manchmal kaum möglich ist, so ein Kind oder so eine Jugendliche in einer Gruppe unterzubringen. Es gibt aber auch so genannte Intensivgruppen. Wenn es möglich ist, ein sehr individuelles Setting für das Kind zu schaffen, ist das natürlich personalintensiv: Das bedeutet zum Beispiel insgesamt fünf bis sechs Mitarbeiter im Schichtdienst, die nur für dieses Kind zuständig sind. Manchmal ist auch ein Sicherheitsdienst nötig, wenn eine Selbst- und Fremdgefährdung vorliegt oder auch ein Krisenteam, das abrufbereit ist. Die Betreuung ist aber von Fall zu Fall unterschiedlich.

Welche Chancen hat ein Systemsprenger-Kind mit so einer Betreuung?

Ich wünschte, das könnte man eindeutig beantworten. Aber Menschen sind komplexe Wesen und bei jedem einzelnen Kind oder Jugendlichen kann das sehr unterschiedlich aussehen. Fest steht: Nur durch diese flexiblen und hoch individualisierten Formate haben sie überhaupt eine Chance. Man kann nur versuchen, diese Möglichkeiten zu schaffen und darauf setzen, dass es da eine Chance auf eine bessere Entwicklung gibt. Evaluationsstudien zeigen, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die dadurch die Kurve kriegen. Andere haben so viele furchtbare Erfahrungen gemacht oder es gelingt nicht, ihnen andere Bindungserfahrungen zu ermöglichen, dass selbst so ein flexibles Setting an seine Grenzen stößt. Diese jungen Menschen landen dann beispielsweise stationär in der Psychiatrie.

Bei Schulabbrechern sagt man ja: Es ist für den Staat finanziell günstiger, einen Schulabbrecher mit viel Einzelbetreuung und Unterstützung durch die Abschlussprüfung zu bringen, als später das Arbeitslosengeld zu bezahlen. Von der persönlichen Tragik solcher Fälle wie in Kerpen mal abgesehen: Inwiefern lässt sich dies auf die Betreuung von Systemsprengern übertragen?

Potenziell lässt es sich darauf übertragen, so wie auf viele andere Bereiche der Jugendhilfe auch. Es gilt: Gute und kontinuierliche Beziehungsangebote sparen viele Folgeprobleme und Folgekosten. Das bedeutet jedoch nicht, dass im Einzelfall alles funktioniert. Wir haben zudem einen massiven und dramatischen Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe: Wenn Einrichtungen nicht genügend Personal haben und die übrigen Arbeitskräfte bis zur Überlastung versuchen, diesen Mangel auszugleichen, macht das die individuelle Betreuung von „Systemsprengern“ schwierig.

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