20 Jahre nach 9/11Die Liste der Fehler nach dem Anschlag ist lang

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20 Jahre nach 911

Die Türme des trutzigen World Trade Center stürzen in sich zusammen.

New York – Am 11. September 2001 ist nicht nur das World Trade Center in sich zusammengesunken. Getroffen von dem Anschlag wurde auch etwas anderes, nicht Sichtbares. Die innere Sicherheit der Amerikaner war plötzlich verschwunden. Nicht innere Sicherheit im polizeilichen Sinn oder als politisches Schlagwort – sondern innere Sicherheit als psychologisches und intellektuelles Gütezeichen einer Gesellschaft.

Ihre Unerschütterlichkeit hat die Amerikaner immer ausgezeichnet. Sie konnten verblüffend idealistisch sein und naiv und auch beides gleichzeitig, stets im Glauben, das Gute werde sich schon irgendwie durchsetzen. In der Ära des Vietnam-Kriegs lieferte Amerika beides: Napalm und Woodstock, Militäreinsätze und auch den Protest dagegen.

Glaube an die Gesellschaft erschüttert

Ja, Amerika machte oft Fehler. Es korrigierte sich aber auch oft. Stets, auch in den 180-Grad-Kurven, behielten die Amerikaner das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben in ihrem Land. Bis zum 11. September 2001. An diesem Tag hat Amerika einen Knacks bekommen.

Wie nie zuvor wurde der Glaube der modernen amerikanischen Gesellschaft an sich selbst erschüttert: an ihre Normalität, ihre Stabilität, ihre Wehrhaftigkeit.

Präsident George W. Bush, von Europa aus oft kritisiert, machte vieles richtig in den allerersten Tagen nach dem Anschlag. Vor allem behielt der Präsident die Nerven. Trotzig betonte Bush das Funktionieren staatlicher Strukturen, die Einsatzbereitschaft von Polizei und Armee und last but not least auch die Stabilität der Finanzmärkte. Das alles half den USA und der ganzen Welt. Bush besuchte eine Moschee, um einer antiislamischen Aufwallung die Spitze zu nehmen.

„Enthauptungsschlag“ geplant

Osama bin Laden hatte sich das alles etwas anders vorgestellt. Die Terroristen von Al Kaida hatten davon geträumt, ihrem Feind USA einen „Enthauptungsschlag“ zu versetzen, mit kollabierenden Märkten, einem brennenden Pentagon und möglichst noch einem schmelzenden Atomreaktor. Nichts davon ist passiert. Zwar starben 2996 Menschen, doch der gesamte kurzfristig entstandene Schaden blieb, obwohl er bereits gigantisch war, hinter den Kalkulationen der Terroristen zurück.

Heute, 20 Jahre später, wird jedoch klar: Der langfristige Schaden für die USA ist inzwischen größer, als die Terrorplaner es erwarten konnten. Zur Vergrößerung dieses Schadens, darin liegt das besonders Bedrückende, haben die USA eigenhändig immer wieder selbst beigetragen.

Innerer Stromausfall

Die lange Liste der Fehler geht damit los, dass der Schock vom 11. September 2001 gar nicht richtig verarbeitet wurde. Dabei war der Anschlag wie ein demütigender Peitschenschlag mitten ins Gesicht.

Manchen drehte sich der Magen um, als während der Fernsehliveschaltungen vom ersten brennenden Turm ein zweites Flugzeug in den zweiten Turm krachte. Jetzt war klar, dass es keine Unfälle waren, die hier gerade stattfanden. Was aber war jetzt eigentlich los? Führte jetzt ein kichernder Teufel Regie?

Diffuse psychische Störung

New Yorker berichteten später von innerem Stromausfall. Sie wussten anfangs gar nicht, was sie jetzt noch denken sollten. Plötzlich war Schluss. Oben war unten, unten oben. Was gerade noch wichtig war, wurde unwichtig, Nebensächliches bekam Bedeutung. „Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, Zeit und Raum aus fallender Asche und nahezu Nacht.“

Mit diesem sperrigen Satz beginnt der Roman „Falling Man“ von Don DeLillo. „Pappbecher kamen seltsam vorbeigehüpft“, heißt es da weiter. Und: „An Fenstern in dreihundert Meter Höhe Gestalten, die in den leeren Raum fielen ...“ DeLillo beschreibt, dass sein Held etwas sehr Unangenehmes zurückbehalten hat: eine diffuse psychische Störung, der man kein simples Etikett aufkleben kann, die aber eine neue Kälte ins Leben bringt, Lieblosigkeit, Ausdruckslosigkeit, Zerfahrenheit. DeLillos Held endet als soziales Wrack, dem Poker verfallen.

„Krieg gegen den Terror“

Amerika, ahnt man heute, hat sich damals nach dem Anschlag zu wenig um die eigenen Leute gekümmert. Stattdessen griff der Sheriff sofort zum Colt und zielte auf andere. Noch im Jahr 2001 wurden die Taliban in Afghanistan mit Gewalt entmachtet. Im Jahr 2003 folgte Bushs Einmarsch in den Irak. Auch Barack Obama reckte das Kinn vor und rief den „Krieg gegen den Terror“ aus. Der Friedensnobelpreisträger saß nun, zum Entsetzen eines Teils seiner eigenen Anhänger, auf mit Samt bespannten Sofas im Weißen Haus und ging Todeslisten durch. Wer identifiziert war als hochrangiger Al-Kaida-Kader, sollte sterben. Das Weiße Haus bog sich eine juristische Rechtfertigung zurecht. Drohnen übernahmen dann sämtliche Jobs: den des Ermittlers, des Richters und Henkers.

In dieser Desavouierung des Rechtsstaats durch sich selbst lag der späte Triumph der Terroristen. Los ging es schon vorher, in den Folterkammern von Guantanamo und Abu Ghraib. Die USA schufen einen rechtsstaatsfreien Raum. Und in diesem Raum erstickten sie, mit erbärmlicher Systematik, ihre eigene Glaubwürdigkeit. Al Kaida hatte gewonnen, als nackte Folteropfer angeleint wurden und sich wie Hunde bewegen mussten. Einmal mehr war bewiesen: Sobald ein Staat die Geltung des Rechts aufgibt, droht der Absturz in den Zivilisationsbruch.

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Immerhin zog Obama die Bremse. „Wir haben einige Leute gefoltert“, sagte der Präsident im August 2014. „Wir haben einige Dinge gemacht, die unseren Werten widersprochen haben.“ Im selben Jahr annektierte Russland die Krim. Zufall? In einer Zeit jedenfalls, in der die Führungsmacht des Westens abwechselnd mit Terroristen oder mit sich selbst beschäftigt war, erlaubte sich Moskau, erstmals seit 1945 wieder Grenzen in Europa zu verschieben. Zwei Jahre später fasste Moskau auch in Syrien hart zu: Wladimir Putin glaubte nicht an Obamas Warnungen vor „roten Linien“ – und behielt recht. Amerika, dieses nervöse und abgelenkte Land, flößte ihm nicht mehr viel Respekt ein.

Amerikas Abzug aus Afghanistan mündete soeben in Szenen, die chaotischer nicht hätten sein können. Menschen, die sich verzweifelt an amerikanische C-17-Transporter klammern wollten, stürzten als kleine, hilflose Figuren vom Himmel, wie vor 20 Jahren die „falling men“ aus dem World Trade Center. Die wirre, traurige Welt ist nun um ein wirres, trauriges Kapitel reicher.

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