Achillesferse der Nato?Warum Kaliningrad für Russland so wichtig ist

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Blick über die beleuchtete Uferpromenade am Pregel, aufgenommen 2015 in Kaliningrad.

Kaliningrad – Für viele Beobachter ist das aktuell der neuralgischste Konflikt in der an Konflikten reichen Geschichte zwischen Russland und der Nato: der Streit um den Oblast Kaliningrad, einem Flecken an der Ostsee von der Größe Thüringens mit 942.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Das Besondere: Knapp 400 Kilometer trennen die Exklave von Russland, dessen Bestandteil sie seit 1945 ist. 400 Kilometer, die seit Auflösung der Sowjetunion 1991 zunächst durch die nunmehr eigenständigen Staaten Litauen und Lettland, seit 2004 durch Nato-Gebiet führen.

Hafen in Baltijsk für Russland von enormer Bedeutung

Wirtschaftlich ist die stark von Landwirtschaft geprägte Oblast Kaliningrad eine abgehängte Region im Armenhaus Russland, aber militärisch und politisch für Moskau von enormer Bedeutung. Im eisfreien Hafen von Baltijsk, dem früheren Pilau, liegt die baltische Flotte, mit einem Zerstörer, zwei Fregatten und 23 Korvetten eine von vier Hochseeflotten Russlands.

Der Oblast Kaliningrad hat für Präsident Wladimir Putin die Funktion einer militärischen Speerspitze gegen den Westen. Hier simulierten die russischen Streitkräfte Anfang Mai Angriffe mit nuklearwaffenfähigen Raketen. Die Symbolik war deutlich: Wir sind bereits mitten in EU und Nato. Von Baltijsk aus brechen immer wieder jene russischen Kriegsschiffe auf, die, wie zuletzt vor knapp einer Woche nahe der dänischen Insel Bornholm geschehen, die Nerven westlicher Militärs auf die Probe stellen – oder einfach nur provozieren wollen.

Die Achillesferse der Nato

Und noch eine andere geografische Begebenheit macht die Gegend zu einem gefährlichen Hotspot der gegenwärtigen Krise: Zwischen der Oblast Kaliningrad und dem moskaufreundlichen Belarus klafft ein nur 65 Kilometer breiter Landstrich, der die Nato-Staaten mit ihren kleinsten Verbündeten Litauen, Lettland und Estland verbindet. Im Kriegsfall wäre es für den Kreml ein Leichtes, diese Verbindung hier in der sogenannten „Suwalki-Gap“ (Lücke bei Suwalki) zu durchtrennen. Interne Studien der Nato bezeichnen dieses Gebiet als Achillesferse der Nato.

Zur Sicherung der Ostflanke der verbündeten Staaten wurde dort eine Battlegroup von rund 1600 Soldaten unter deutscher Führung stationiert.

Region Oblast erlebte nie die erhoffte Blüte

Es gab nur ein ganz schmales Fenster in einer Zeit der Entspannung, da öffnete Russland den Oblast Kaliningrad für Touristinnen und Touristen, denn zu Sowjetzeiten wurden westliche Besucher ebenso wenig eingelassen wie heute. Die Region wirkte damals, Mitte der 90er-Jahre, von Verfall und Niedergang geprägt. Viele Menschen waren arbeitslos, die ländlichen Gebiete wirkten vielfach verwaist, in den größeren Städten wie Kaliningrad und Sowjetsk, dem früheren Königsberg und Tilsit also, prägten sozialistische Plattenbauten das Stadtbild.

Der Abbau von Bernstein und der Verkauf an westliche Touristen war einer der wenigen Wirtschaftszweige, die Zukunft zu haben schienen. Neben dem Tourismus, denn die langgestreckten Sandstrände der traumhaft schönen Kurischen Nehrung wirkten wie in einem Dornröschenschlaf und schienen nur darauf zu warten, von westlichen Touristen wachgeküsst zu werden. Viele Menschen und auch die regionale Gebietsverwaltung träumte damals von einem „Hongkong“ an der Ostsee – einem Steuerparadies mitten in Europa, mit kurzen Wegen nach West und Ost.

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Geworden ist daraus nie etwas. Während die ehemaligen Sowjetrepubliken in unmittelbarer Nachbarschaft und auch Polen wirtschaftlich erblühten, wurde die Oblast Kaliningrad wieder zu dem, was sie früher schon einmal war: einer mit politischer Brisanz überladenen Insel mit dem Potenzial, einen Krieg auszulösen – in unschöner Reminiszenz an die deutsche Vergangenheit.

„Mit dem Schwert“ ins Reich geschlagen

Denn das frühere Königsberg, einst vom deutschen Ritterorden „mit dem Schwert“ ins Reich geschlagen, wie man in Preußen gern betonte, war schon 1919 durch die Entscheidungen der Sieger des Ersten Weltkriegs im Versailler Vertrag zu einem Inseldasein verurteilt worden.

Dass Züge oder Autos von Berlin aus nur noch durch den „polnischen Korridor“ ins abgehängte Ostpreußen gelangten, war für die Nazis einer der wichtigsten Gründe, einen neuen Weltkrieg zu entfesseln, was mit der totalen Niederlage Deutschlands 1945 und dem endgültigen Verlust Ostpreußens und Königsberg endete.

Auf der Potsdamer Konferenz besiegelte Sowjetdiktator Josef Stalin seinen bereits in Jalta gefassten Plan, Königsberg und die nördliche Hälfte Ostpreußens seinem Reich einzugliedern. Polen bekam den südlichen Teil.

Überlegt wurde auch, den neuen Oblast verwaltungstechnisch in dem 1939 vom Sowjetreich okkupierten Litauen aufgehen zu lassen. Dann wäre die heutige Situation wohl entschärft. Doch Stalin misstraute den Balten – und schlug die neue Oblast Kaliningrad, benannt nach dem 1946 verstorbenen Sowjetpolitiker Michail Kalinin, der russischen Teilrepublik zu, auch wenn die Distanz zur ihr 400 Kilometer betrug.

Konflikt zwischen Russland und der EU: Warentransport nach Kaliningrad nicht mehr erlaubt

Tatsächlich stand das alte Königsberg aber für ganz andere Werte: Handel und Weltoffenheit machte es einst reich. Heute verbinden die meisten Deutschen Königsberg vermutlich mit den „Klopsen“, die den Namen der Stadt für alle Ewigkeit tragen. Und mit ihrem berühmtesten Sohn, Immanuel Kant, der Königsberg nie verlassen hat und der für seine Philosophie der Aufklärung weltweit bekannt wurde – für auf Vernunft und Verantwortung basierende Denkansätze, die einen „ewigen Frieden“ (so eine seiner Schriften) möglich machen.

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