ARD-Sprecher Jan Hofer im Interview„Viele wollen am Image der ‚Tagesschau‘ kratzen“

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Jan Hofer

„Tagesschau“-Sprecher Jan Hofer

  • Die „Tagesschau“ ist die erfolgreichste Nachrichtensendung des Landes.
  • Jan Hofer erzählt, wann eine Ausgabe für ihn gelungen ist und warum die „Tagesschau“ immer öfter in der Kritik steht.
  • Ein Blick hinter die Kulissen eines Klassikers, der sich neu erfindet.

Hamburg – Chefsprecher Jan Hofer im Gespräch über die „Tagesschau“, Kritik an der Nachrichtensendung und die ARD, die sich gerade neu erfindet. Was sich dort alles ändert, zeigt ein Blick hinter die Kulissen (Seite 2).

Herr Hofer, was ist Ihr Anspruch an eine gelungene Ausgabe der „Tagesschau“?

Persönlich bin ich zufrieden, wenn sie fehlerfrei war – auch bei Meldungen, die kurzfristig reinkommen und die ich noch nicht gelesen habe. Inhaltlich sollte sie gesellschaftlich, politisch und sportlich das abbilden, was in diesem Land und darüber hinaus an diesem Tag relevant war.

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Wie erklären Sie sich, dass jeder Versprecher, jede Panne in der „Tagesschau“ sofort zum bundesweiten Gesprächsthema wird?

Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, es liegt an den geänderten Sehgewohnheiten und an der gewachsenen Konkurrenz. Die Erwartungen an die Tagesschau sind besonders hoch. Sehr viele wollen am Image der Tagesschau kratzen und nutzen natürlich jede Gelegenheit. Ich erinnere mich gut an den medialen Aufruhr, als wir Sprecher plötzlich am Ende der Sendung vollständig zu sehen waren – mit Beinen! Der Chefredakteur und ich saßen hier und wussten nicht mehr, wie uns geschah. Das war unglaublich.

Auch Ihr Schwächeanfall wurde breit diskutiert.

Tja, das war natürlich ein bisschen blöd. Der Sendetechniker hätte einfach den Hebel umlegen müssen, dann wäre nichts mehr zu hören gewesen. Aber nun ist es halt passiert, und wenn Sie so lange als Gast ins Wohnzimmer der Leute kommen wie ich, dann nehmen die auch an Ihrem privaten Wohlbefinden teil. Was ich wiederum auch ganz schön finde.

Haben Sie eine Idee, was genau es ist, dass Sie vertrauenswürdig wirken lässt? Ist das reine Gewohnheit?

Das weiß ich nicht. Ich kann es nicht sagen. Vielleicht, weil es mir nicht um mich selbst geht. Ich führe ein normales Familienleben. Ich passe höllisch auf, dass meine Kinder nicht in die Presse kommen. Aber wenn es bei mir privat nicht so gut läuft, habe ich wochenlang die Boulevardtypen vor der Tür stehen. Das ist alles nicht so angenehm. Damit muss man aber fertigwerden.

Auch Anfeindungen haben an Schärfe zugenommen. Gehört Hass zum Alltag?

So ist es. Und deshalb hat mich auch dieses Künast-Urteil so betroffen gemacht. Dieses Urteil empfinde ich persönlich als eine Katastrophe. Ich kann nicht verstehen, dass so etwas möglich ist, dass ein deutsches Gericht so etwas zulässt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man ihr politisch nahesteht oder nicht: Dass Menschen, die sich für dieses Land mit Herzblut einsetzen, so beschimpft werden dürfen, finde ich sehr merkwürdig. Es gibt eine Grenze. Und in diesem Fall war diese Grenze in einigen Aussagen für mein Empfinden überschritten. Dass ein Gericht das anders sieht, kann ich nicht nachvollziehen.

Die „Tagesschau“ erfindet sich neu

Nein, das lief nicht gut gestern Abend. Es gibt solche Flauten im Nachrichtengeschäft. Aber gleich drei Parlamentswahlen als erste Meldung der „Tagesschau“ um 20 Uhr? Portugal, Tunesien und Kosovo? Zerknirschung am Tisch. „Die Nachrichtenlage war gräuslich“, sagt Qualitätsmanager Burkhard Nagel. Nicken. „Es war ein dröger Tag“, sagt auch Oliver Hähnel, Chef vom Dienst. Am Ende sahen trotzdem 10,76 Millionen Menschen zu. Es ist die „Tagesschau“. Sachlich wie eine Scheibe Knäckebrot. Aber so fest im deutschen Alltag verankert wie Aspirin und Leberwurst.

Die „Tagesschau“ steht unter Beschuss

Die „Tagesschau“. Das rituelle Abendläuten der Bundesrepublik. Ein Monolith der Biederkeit in einem Meer aus Aufregung. Kein blitzendes und blinkendes Newsfeuerwerk, sondern seit 67 Jahren ein Apparat der Unterrichtung, zeitlos wie ein Bauhaus-Möbel. Die Bilder wiederholen sich: ministerielle Begängnisse, dunkle Limousinen, hastige Politikerstatements vor Mikrofontrauben, Vulkanausbrüche – undnundaswetterfürmorgenmontag. 69 Prozent der Themen sind politisch.

Tagesschau Chefredakteure

Helge Fuhst, Zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell, und Juliane Leopold, Chefredakteurin Digitales von ARD-aktuell, stehen im neuen Newsroom.

Bei „RTL aktuell“ sind es 37 Prozent. Das süße Gift des Boulevards wird diese „Institution im besten Sinne“ (Angela Merkel) niemals kontaminieren. Aber im grellbunten Alarmismus der Gegenwart wirkt die älteste noch laufende Sendung Deutschlands fast schon wieder wie Avantgarde. Bei Instagram hat die alte Marke eine Million Follower.

Doch der Monolith steht unter Beschuss. Von rechts, wo man gern „öffentlich-rechtlich“ mit „staatlich“ verwechselt, wo man Pannen und falsche Bilder als absichtliche Manipulationen brandmarkt und ARD und ZDF gern privatisieren will. Von Mitbewerbern, die neidvoll auf den gebührenfinanzierten Luxus schielen. Von alten Konkurrenten wie RTL-Mitgründer Helmut Thoma, der einst zischte: „Diese Sendung könnte man auch auf Latein verlesen mit zwei brennenden Kerzen, und sie hätte immer noch die gleichen Ratings.“

ARD-Chefredakteur: Ein Gefühl, dem wir treu bleiben müssen

Was ist die „Tagesschau“? Eine linksgrünversiffte Propagandamaschine? Eine schläfrige Nachrichtenbehörde? Ein Regierungskanal? Oder doch eine moderne Nachrichtendrehscheibe mit hohem Anspruch und Zuspruch?

„Die Marke ,Tagesschau‘ ist vor allem ein Gefühl, und dem müssen wir treu bleiben“, sagt Helge Fuhst (35), zweiter Chefredakteur von ARD aktuell. Seit wenigen Tagen erst ist er Vizechef in Hamburg-Lokstedt, wo 150 Redakteure die „Tagesschau“, die „Tagesthemen“, das „Nachtmagazin“, die Website tagesschau.de und den Nachrichtensender Tagesschau 24 füttern. „Zu dieser Marke gehört etwas Hanseatisch-Steifes. Von uns wird so viel Korrektheit erwartet wie von niemandem sonst.“

ARD aktuell: Ein neuer Newsroom für 15,7 Millionen Euro

Ein junges Trio trägt die Verantwortung, seit der bisherige Chefredakteur Kai Gniffke nach 16 Jahren im Amt zum neuen Intendanten des Südwestrundfunks gewählt worden ist. Neuer erster Chefredakteur ist nun Marcus Bornheim (45), der zwei Jahre lang Gniffkes Vize war. Und die frühere Buzzfeed-Chefin Juliane Leopold (36) verantwortet das digitale „Tagesschau“-Portfolio. „Herzlichen Glückwunsch!“ steht auf der Tafel in Fuhsts Büro, wo bisher Gniffke residierte. Ein alter VHS-Rekorder steht im Regal. Umdekorieren lohnt sich nicht mehr.

Denn ARD aktuell zieht um. Raus aus „Haus 18“, rein in „Haus 18A“, einen Neubau direkt daneben. Auf einem Parkplatz ist hier in vier Jahren Bauzeit ein zentraler Newsroom für TV und Digitales entstanden. Kosten: 15,7 Millionen Euro. Es ist ein dreistöckiges Gebäude mit 2000 Quadratmetern und zentralem Steuerdesk, den eine kreisförmige LED-Wand krönt, dazu Kunst-Efeu, fließende Formen, eine Cafeteria – es ist ein „Mehrgenerationenhaus“, wie Projektleiter Patrick Uhe sagt. Ein Globus stand Pate als Symbol für die Formenphilosophie. „Kommunikation fließt auch architektonisch“, sagt Uhe. „Und unser Thema ist die Welt.“

Newsroom ARD Aktuell

Blick in den Newsroom im neuen Nachrichtenhaus von ARD-aktuell.

Im ersten Stock: Chefbüros mit Glaswänden, davor ein Balkon über den 72 Arbeitsplätzen unten. Nein, das sei nicht der „Chefredakteursverkündungsbalkon“, sagt Uhe. Aber man wolle den Newsroom auch mal als Kulisse für Moderationen nutzen. Das „Tagesschau“-Studio freilich, gerade erst vor fünf Jahren neu eröffnet und 23,8 Millionen Euro teuer, bleibt dasselbe.

Die „Tagesschau“ ist nicht ohne Makel

Natürlich ist der Neubau ein Symbol. „Wir müssen erklären, was wir tun“, sagt Fuhst. Der Umzug ist eine Zäsur. Die Redaktion will transparenter arbeiten, Fehler zugeben, offener sein. „In der ,Tagesschau‘ um 20 Uhr dürfen eigentlich keine Fehler passieren“, sagt Fuhst. „Und wenn sie doch passieren, müssen wir offen und ehrlich damit umgehen.“ Das gelang nicht immer:

Im Dezember 2016 brach ein Shitstorm über die Redaktion herein, weil sie weder den Mord an der 19-jährigen Studentin Maria in Freiburg noch die Festnahme eines tatverdächtigen 17-jährigen Asylsuchenden aus Afghanistan in der 20-Uhr-Sendung vermeldete, obwohl das halbe Land über den Fall diskutierte. Tags darauf berichteten die „Tagesthemen“ dann doch.

Als Notre Dame brannte, lief eine Tierdoku

In der Ukraine-Krise wies ein „ARD aktuell“-Bericht, der Fremdbilder verwendete, Schützen als angeblich prorussisch aus. Auch manipulierte Bilder eines abstürzenden Hubschraubers, die von einer nicht verifizierten Quelle stammten, beschädigten das Image.

Als Notre-Dame in Paris in Flammen aufging, unterbrach das Erste nicht das Programm, sondern zeigte eine Tierdoku – wie damals am 11. September 2001, als in der ARD noch die Elefanten durch die Savanne zogen, während in New York die Twin Towers brannten.

Die „Tagesschau“ steht unter extremer Beobachtung. „Es gibt Leute, die messen die Balken unserer Grafiken zu Hause mit dem Lineal auf dem Fernsehbildschirm nach“, sagt Emanuel Ernst, Leiter der neuen „Erklär-Unit“. Mehr erklären, weniger voraussetzen – das ist das neue Credo. Gerade geht es in Ernsts Team um die Schraffurfarbe der nordsyrischen Provinz Idlib auf einer Grafik. Es ist ein täglicher Balanceakt: vereinfachen, ohne zu verflachen.

Alle wollen in die „Tagesschau“

Immer wieder polemisieren auch Exkollegen über den Hang zum „Bombenjournalismus“ („Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert), schimpfen über dieses „groteske Sammelsurium aus fragmentarisierten Halbwahrheiten“ (Autor Walter van Rossum) oder über „die Kleinstaaterei der Anstalten“ (Korrespondent Christoph Maria Fröhder). Zickereien zwischen den ARD-Anstalten sind das täglich Brot von Chefplaner Kai Wessel. „Alle wollen in die ,Tagesschau‘“, sagt er. „Und wir sind sehr konservativ. Wir wägen lieber dreimal ab.“ Der Anspruch: „Es soll halt stimmen.“ So einfach. So schwer.

ARD-Selfie

Weil der Instagram-Account der „Tagesschau“ eine Million Follower erreicht hat, macht Jan Hofer Studio ein Selfie.

„Staatsfunk“, „Propagandasender“, „Regierungsmarionetten“, „Zwangsgebühren“ – es regnet politische Kampfbegriffe auf ARD und ZDF herab. Beide kämpfen um ihre Legitimation. Aber was helfen Fakten gegen Gefühle?

„Ich habe in meinen Jahren bei der ARD nicht eine einzige E-Mail oder einen Anruf mit Vorgaben oder Kritik aus dem Kanzleramt oder einer Staatskanzlei bekommen“, sagt Fuhst, bisher Chef des Tochtersenders Phoenix. „Früher gab’s das. Ich bin froh, dass diese Zeit vorbei ist. Ich bin immer erstaunt, dass selbst normale, gebildete Menschen glauben, wir erhielten unsere Direktiven aus dem Kanzleramt.“

Viel Westen, wenig Osten

Der wichtigste Mann im Kampf um das Zuschauervertrauen ist Burkhard Nagel, 15 Jahre lang Chef vom Dienst. Seit 2017 wirkt er als Qualitätsmanager, eine Art interner Moderator und Mahner. Er kritisiert den westlichen Blick der „Tagesschau“: „Redakteure, die wie wir in der Großstadt Hamburg leben, wissen nicht immer, was Ostdeutschland bewegt, welche Einstellungen aufgrund welcher Lebenserfahrungen entstanden sind“, sagt er. „Da haben wir in den vergangenen Jahren aber viel gelernt, auch wenn wir noch sensibler werden sollten.“

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Objektivität ist immer nur ein Ideal. Ein saftiges Gerücht wird eine trockene Tatsache immer schlagen. Umso größer ist die Verantwortung derer, die zumindest den Anspruch haben, Quellen zu prüfen, die Wahrheit herauszuschälen und Interessen zu identifizieren.

Man kann der „Tagesschau“ viel vorwerfen: die Fixierung auf Auslandsthemen, die Eitelkeit, das Überangebot an Staatsbesuchen, den Westblick, den digitalen Expansionshunger, die mangelhaften Sparbemühungen des Mutterhauses ARD. Aber dass es Redaktionen gibt, deren Kernkompetenz es ist, nicht die Nerven zu verlieren, nützt einer Gesellschaft am Ende mehr, als dass es schadet.

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