BDI-Präsident Russwurm„Kann keine ganze Gesellschaft in den Lockdown schicken“

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Russwurm

BDI-Präsident Siegfried Russwurm (Archivbild)

  • Siegfried Russwurm ist Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie,
  • Ein Gespräch über die wirtschaftlichen Probleme durch die Pandemie, zum Umgang der Deutschen mit dem Impfen und zur Hannovermesse.

Herr Russwurm, wir haben in der Pandemie gelernt, dass vieles virtuell geht: Konferenzen, Familienfeiern, Klassentreffen, dieses Interview. Ist die Hannovermesse, die ab Montag rein digital stattfindet, demnach auch nichts anderes als ein großes Klassentreffen? Russwurm: Bei der größten Industrieschau der Welt stößt das Bild an seine Grenzen. Viele Unternehmen haben ihren virtuellen Auftritt professionalisiert, und als Plattform wird die digitale Hannovermesse den Zugang zu diesen Angeboten weiter verbessern. Was aber fehlt, ist der Austausch, der sich im Rahmen einer echten Messe entwickelt. Menschen kommen ins Gespräch, es entstehen Ideen und daraus wiederum Innovationen. Diese Prozesse lassen sich nur schwer digitalisieren.

Sie glauben nicht an Kreativität im Homeoffice?

Das Abarbeiten von Aufträgen, das „Business as usual“, geht auch digital gut. Aber die Kreativität und die Impulse für Neues brechen weg. Die Pandemie bedroht die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Das ist eine völlig unterschätzte Gefahr.

Die Sorge um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft war auch schon vor Corona groß. Bricht uns die Pandemie jetzt das Genick?

Das Risiko ist real. Zumal wir Deutschen ohnehin dazu neigen, wichtigen Innovationstrends erst mal mit Skepsis zu begegnen. Künstliche Intelligenz, Big Data, lernende Maschinen – da sehen viele erst die Risiken und dann die Chancen. Oder nehmen Sie den Corona-Impfstoff aus Deutschland: Er ist glücklicherweise da und weltweit ein grandioser Erfolg, weil die hochinnovative Gen-Schere, die für die Entwicklung verwendet wurde, nicht schon vor der Pandemie kaputtgeredet worden ist.

Ist es ein Wettbewerbsnachteil für die deutsche Wirtschaft, dass die wichtigste Industriemesse zwei Mal in Folge nicht in Präsenz stattfinden kann, Ausstellungen in Asien oder in den USA aber sehr wohl?

Die Hannovermesse ist sehr international, insofern trifft es Aussteller aus aller Welt. Kleinen und mittleren Unternehmen, die nicht zu jeder Messe fahren, bricht aber wirklich etwas weg. Für den deutschen Mittelstand ist der Ausfall der Hannovermesse in Präsenz jetzt im zweiten Jahr hintereinander ein Problem – auch im internationalen Wettbewerb.

In China, wo das Corona-Virus zuerst ausgebrochen ist, brummt die Wirtschaft wieder. Ist das aus deutscher Sicht Fluch oder Segen?

Die anziehende Nachfrage in Asien, aber auch in Nordamerika ist kurzfristig ein Segen, weil sie unsere Ausfuhren ankurbelt. Der BDI rechnet inzwischen mit einem Exportwachstum von 8,5 Prozent in diesem Jahr, vor wenigen Monaten sind unsere Ökonomen noch von sechs Prozent ausgegangen. Langfristig aber könnte die schnelle Erholung Chinas und der USA die Position unserer Unternehmen im internationalen Wettbewerb schwächen. Deutschland muss deshalb schneller werden bei der Eindämmung der Pandemie.

Wie?

Erste Priorität: Impfen. Zweite Priorität: Impfen. Dritte Priorität: Impfen.

Solange es an Impfstoff fehlt, bleibt das ein frommer Wunsch.

Das Problem der Impfstoffknappheit wird sich in wenigen Wochen erledigt haben. Dann werden wir über knappe Impfkapazitäten reden. Das Thema müssen wir jetzt angehen, damit die Impfkampagne effizient gelingt. Wenn die Risikogruppen durchgeimpft sind, ist bei der Impfreihenfolge Pragmatismus gefragt. Auch die verpflichtenden persönlichen Beratungsgespräche vor einer Impfung sind nicht für jeden notwendig. Wer will, soll sich beraten lassen, ich selbst fühle mich wie Millionen andere aber bereits ausreichend informiert. Ich will den Impfarzt so wenig wie möglich aufhalten. Wenn ich an der Reihe bin, komme ich mit gewaschenem Oberarm und aufgekrempeltem Hemd und mache den Weg schnell wieder frei.

Ist es ein typisch deutsches Problem, trotz einer Jahrhundert-Pandemie an etablierten Vorgehensweisen festzuhalten?

Ich fürchte: ja. Wir haben eine Ausnahmesituation und managen die mit unseren Standardprozessen, weil wir glauben, dass die perfekt sind. Die vergangenen Wochen haben eher das Gegenteil bewiesen. Die Abläufe sind zu komplex und zu langsam. Und Langsamkeit ist bei der Pandemiebekämpfung eines der größten Probleme. Mein Plädoyer ist, auf eine Ausnahmesituation mit Ausnahmeregeln zu reagieren. Das muss auch für digitale Lösungen und den Umgang mit Datenschutz gelten.

Während die Industrie bislang relativ ungeschoren durch die Krise gekommen ist, leiden Gastronomen, Einzelhändler und Kulturschaffende unter dem Dauerlockdown. Ist es nicht ungerecht, dass einzelne Branchen einen höheren Preis als andere bezahlen müssen?

Also erstens sind Industriebtriebe keine Infektionsherde. Das können wir mit harten Zahlen belegen. Und zweitens stört mich das Wort „ungeschoren“. Was hat ein Einzelhändler davon, wenn die Industrie nicht mehr produzieren darf? Absolut nichts – im Gegenteil. Wenn sich von zwei Bergwanderern einer verletzt, ist er doch froh, wenn der andere ihn ins Tal tragen kann. Es ist gut für das Land und damit für alle, wenn die Industrie produziert.

Der Bergwanderer, der seinen verletzten Kompagnon ins Tal trägt, muss seine Tour abbrechen und hat nachher womöglich Rückenschmerzen. Das wäre etwa so, als wenn die Industrie einen Corona-Soli für Handel und Gastronomie bezahlen würde…

Wir sind solidarisch. Wir investieren massiv in Hygienekonzepte und die Sicherheit unserer Mitarbeiter. Allein für Corona-Tests geben unsere Betriebe eine Milliarde Euro pro Woche aus. Und vor allem zahlen wir weiterhin Einkommen, Abgaben, Steuern. Davon profitiert auch die Gesellschaft. Ich halte es für falsch, den Unternehmen zusätzliche Belastungen aufzubürden. Was können wir als Gesellschaft tun, um die Industrie zu unterstützen? Das wäre die richtige Frage. Die würde ich in der öffentlichen Debatte gern öfter hören.

Steuerzahler und Sozialkassen haben zig Milliarden in die Hand genommen, um die Wirtschaft durch die Krise zu bringen. Auch Industriebetriebe haben Leistungen wie das Kurzarbeitergeld in Anspruch genommen – und erhöhen nun die Dividenden für Ihre Aktionäre. Da wundern Sie sich über eine wirtschaftskritische Diskussion?

Der Vergleich hinkt erheblich. Mir geht es weniger um das Geld, als darum, dass der Wohlstand in unserem Land ganz massiv davon abhängt, dass die Industrie erfolgreich ist. Das scheinen viele zu vergessen, und das halte ich für gefährlich. Und zum Geld: Fragen Sie die Industrieunternehmen doch mal, wie viel Kurzarbeitergeld ihre Mitarbeiter bekommen haben und wie hoch im vergangenen Jahr die Beitragszahlungen an die Arbeitslosenversicherung waren. In den allermeisten Fällen wird die zweite Summe die erste übersteigen – und zwar deutlich.

Zuletzt wurden Forderungen nach einem kurzen, aber harten Lockdown inklusive Betriebsschließungen wieder lauter. Was wäre daran so schlimm?

Die Industrie stillzulegen würde mindestens eine Woche dauern, da viele LKWs ja noch auf der Straße sind, chemische Anlagen nicht von heute auf morgen und Hochöfen auf die Schnelle gar nicht runtergefahren werden können. Wenn der Lockdown zu Ende ist, dauert es mehrere Wochen, bis die unterbrochenen Lieferketten wieder funktionieren. Vier Wochen Lockdown in der Industrie bedeuten viele Wochen mehr Produktionsausfall. Das könnte uns leicht das komplette Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr kosten – und wir würden dann vom Absturz im vergangenen Jahr nichts wieder aufholen.

Von einer No-Covid-Strategie halten Sie also nichts?

Man kann nicht eine ganze Gesellschaft in den Lockdown schicken. Krankenhäuser, Polizei, kritische Infrastruktur, Lebensmittelversorgung – das alles muss gewährleistet sein. Es wird deshalb immer berufliche Kontakte geben. Und über den privaten Bereich rede ich lieber gar nicht. No-Covid ist eine schöne Vorstellung. Aber sie funktioniert nur als Gedankenexperiment. Wir werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Bürgerinnen, Bürger und die Wirtschaft brauchen keine Symbolpolitik und nicht immer neue Ad-hoc Aktionen, sondern realistische Lösungen.

Das Gespräch führten Andreas Niesmann und Tobias Peter

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