Bundespräsident Steinmeier im Interview„Das Virus nimmt uns nicht die Zukunft“

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

  • Frank-Walter Steinmeier sieht auch während der Corona-Pandemie Gründe für Optimismus.
  • „Politik und Medizin werden das Virus nicht allein besiegen, sondern nur 83 Millionen Deutsche gemeinsam“, sagt der Bundespräsident.
  • Im Interview erklärt er, wieso er der Meinung ist, dass wir nach Corona in einer besseren Welt leben.
  • Und er spricht über die deutsch-russischen Beziehungen nach dem mutmaßlichen Anschlag auf Alexej Nawalny.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht auch während der Pandemie Gründe für Optimismus. Ein Gespräch über die Corona-Folgen für die Demokratie, den Bedarf an gemeinsamer Trauer – und seine eigene Rolle in der Krise.

Herr Bundespräsident, zu Beginn der Corona-Pandemie haben Sie gesagt: »Wir werden das Virus besiegen.« Müssen Sie nun, rund sechs Monate später, einräumen, dass das zu voreilig war?

Nein. Wir werden das Virus besiegen. Und ich hoffe, dass wir dann auf diese Krise in der Gewissheit zurückschauen, dass wir vielleicht nicht immer alles richtig gemacht, aber doch gemeinsam das Mögliche getan haben, um Gesundheit und Leben der Menschen in Deutschland zu schützen.

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Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Ich finde die Meldungen über die aussichtsreiche Forschung an Impfstoffen durchaus ermutigend. Es gibt Licht am Ende des Tunnels – allerdings wissen wir nicht, wie lang die Wegstrecke dahin noch ist. Deshalb dürfen wir in unseren Bemühungen und unserer Disziplin nicht nachlassen. Wir haben den Corona-Ausnahmezustand gemeistert, jetzt werden wir nicht an der Corona-Normalität scheitern. Das Virus wird uns die Zukunft nicht nehmen. Es wird eine Zeit nach Corona geben, und auf die müssen wir jetzt unseren Blick richten.

Wie wird die Welt nach Corona aussehen?

Sie wird eine andere sein. Wie sie sein wird, das haben wir selbst in der Hand. Ich verstehe jeden Wunsch nach Rückkehr zum Alltag, den habe ich auch. Aber das muss nicht heißen: Einfach zurück in die alte Spur! Es kann, wenn wir uns bemühen, eine bessere Normalität werden: Mit wieder erstarkter Wirtschaft, aber mehr Rücksicht aufeinander, mehr Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit. Eine Normalität mit weniger Hass und Häme, aber einem ehrlichen Austausch von Argumenten und mehr Engagement fürs gemeinsame Ganze!

Eine bessere Welt dank Corona? Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedanken?

Die Krise hat das Schlechteste und das Beste in uns Menschen hervorgekehrt. Und – ja – ich wünsche mir, dass wir möglichst viel von dem, was wir an Positivem erfahren haben, mitnehmen in die Zeit nach Corona. Rücksicht, Solidarität, Zusammenhalt, Verantwortung für andere – alles das ist doch keine Selbstverständlichkeit, gerade weil die persönliche Betroffenheit niedriger war als anderswo. Nur elf Prozent der Deutschen kennen einen Virusinfizierten; in Italien sind es dreimal, in Großbritannien viermal so viele. Es ist doch erstaunlich und erfreulich zugleich, wie schnell die Einsicht gewachsen ist, dass wir die Pandemie nicht im Nebeneinander von Individualisten überwinden werden – mit Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe aber schon.

Die Wirtschaft steckt in der Rezession, die Staatsschulden explodieren. Wie lange halten wir noch aus?

Bloße Durchhalteparolen tragen uns nicht durch diese Zeit. Die Belastungen der Menschen sind real, und ich verstehe, dass die Sorgen zunehmen. Doch die gesunkenen Zahlen von Neuinfektionen und die deshalb möglichen Lockerungen sind überzeugende Argumente, auf dem Weg der Vorsicht zu bleiben. In Deutschland sind weniger als vier Prozent der Infizierten am Virus gestorben. Jeder Tote ist einer zu viel und wir trauern um sie. Aber im Vergleich mit anderen europäischen Ländern und vor allem mit einigen Staaten außerhalb Europas haben wir weniger Opfer zu beklagen. Der lange Weg lohnt sich also.

Trotzdem: Es sind auch bei uns Menschen gestorben.

Ja, wir haben 9300 Tote zu beklagen. Und ich habe ein sehr ungutes Gefühl, wenn wir uns in Debatten darüber verlieren, ob jemand „an“ oder „mit“ Corona gestorben ist, oder wenn wir über die Toten nur in Verhältniszahlen reden. Die Todeszahlen sind niedriger als anderswo, aber es sind in sechs Monaten dreimal so viel wie die jährlichen Verkehrstoten. Das sollten wir nicht übersehen. Hinzu kommt: Zahlen trösten jene nicht, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben; so denken jene nicht, die trauern. Der Tod ist immer absolut. Wir dürfen die Trauer der Angehörigen nicht vergessen.

Was meinen Sie konkret?

Der Corona-Tod ist ein einsamer Tod. Die Patienten in Krankenhäusern und Altenheimen sind meist ohne den Beistand ihrer Angehörigen gestorben. Und auch die Hinterbliebenen hatten keine Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Das ist eine Seelenqual, davon haben mir viele Angehörige berichtet. Wir müssen den Menschen in ihrer Trauer helfen – und darüber nachdenken, wie wir unser Mitgefühl ausdrücken können. Wann dafür der richtige Zeitpunkt ist und ob etwa eine Gedenkstunde der richtige Rahmen ist, darüber muss man sprechen, und das tue ich mit den Repräsentanten der anderen Verfassungsorgane.

Befürchten Sie eine zweite Welle samt neuem Lockdown?

Die Zustimmung zu den Maßnahmen ist nach wie vor hoch. Alle wissen jedoch, dass ein zweiter Lockdown extrem schädlich für die Wirtschaft wäre. Und wir dürften nicht mit derselben Akzeptanz rechnen wie noch vor vier, fünf Monaten. Deshalb ist die Politik darauf ausgerichtet, dieses Szenario zu vermeiden. Gerade weil das allen bewusst ist, bin ich überzeugt, dass es gelingen wird – wenn alle mitziehen und die Menschen nicht nachlässig werden. Politik und Medizin werden das Virus nicht allein besiegen, sondern nur 83 Millionen Deutsche gemeinsam.

Als Bundespräsident müssen Sie ohne öffentliche Auftritte, ohne Staatsgäste, ohne Kontakt zu den Bürgern auskommen. Was hat sich für Sie und Ihr Amt verändert?

Ehrlich gesagt: Alles! Das Amt des Bundespräsidenten lebt ja von der Präsenz der Person, von öffentlichen Auftritten und Reden, von Besuchen im ganzen Land und der Pflege der Beziehungen zu unseren Partnern im Ausland. Das Staatsoberhaupt entfaltet seine Integrationskraft auch darin, Menschen mit unterschiedlichen Meinungen an einen Tisch zu bringen. Es braucht die Begegnung, das direkte Gespräch. All das ist in den vergangenen Monaten der Pandemie zum Opfer gefallen. Ich musste also mich selbst und die Aufgabe – ja: neu erfinden.

Wie haben Sie das gemacht?

Trotz Abstand Nähe herstellen. Weil die Pandemie zwar alle trifft, aber nicht alle gleich, kümmere ich mich vor allem um die, denen auf dem Höchststand der Corona-Welle die größte Belastung zukam: Alle, für die Home-Office immer ein Fremdwort bleiben wird, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder an der Supermarkt-Kasse – und die dann mitunter sogar noch aus Frust beschimpft wurden. Also habe ich mit dem LKW-Fahrer telefoniert, dem Müllmann, mit der Krankenschwester, dem Altenpfleger, mit Lehrerinnen, Polizisten, Apothekern. Ich habe gemerkt, das war wichtig und das haben mir auch einige sehr emotionale Rückmeldungen gezeigt.

Viele Deutsche wünschen sich strikte Auflagen. Kommen diese, fühlen sich andere in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt.

Die Politik hat Entscheidungen getroffen, die weit in den privaten Alltag der Menschen hineinwirken. Immer noch begrüßen 80 Prozent der Deutschen diese Maßnahmen. Sie setzen darauf, dass der Staat für den Schutz seiner Bürger sorgt. Weil das im Großen und Ganzen gelungen ist, ist das Vertrauen in die Politik gestiegen. Es kommt jetzt darauf an, dass die Politik Gründe liefert, dieses gewachsene Vertrauen zu erhalten.

Manch einer zweifelt dennoch an der Verhältnismäßigkeit der Einschnitte – oder leidet unter den wirtschaftlichen Folgen. Wie können sich diese Gehör verschaffen? Demonstrationen gegen die Corona-Politik sind in Verruf geraten.

Kritik ist nicht reserviert für Corona-freie Zeiten. Aber es lohnt sich, genau hinzuschauen, denn zurzeit geht einiges durcheinander. Da gibt es verständliche Sorgen, um die sich die Politik kümmern muss: Arbeitslosigkeit verhindern, Unternehmen erhalten, Eltern entlasten, Zugang zu Bildung sicherstellen, Kulturschaffende unterstützen. Da gibt es Diskussionen über die Maßnahmen, die für uns alle belastend sind, über deren Sinn wir offen reden und die wir mit immer besserem Wissen auch immer präziser fassen müssen. Und dann gibt es irritierende Positionierungen, etwa wenn auf Demonstrationen die Gefahr von Infektionen geleugnet oder Ideen einer Weltverschwörung verbreitet werden. Das ist nicht verboten, bleibt aber trotzdem falsch. Da müssen wir gegenhalten. Meinungsfreiheit heißt ja nicht, ohne Widerspruch durchs Leben gehen zu können. Gänzlich endet mein Verständnis, wenn Demonstranten gleichgültig neben Demokratiefeinden, Rechtsextremen und Antisemiten laufen. Das geht nicht.

Die Diagnose, dass der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny vergiftet worden ist, wächst sich zu einer diplomatischen Krise aus. Was heißt das für die deutsch-russischen Beziehungen?

Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen leider die schlimmsten Befürchtungen: Nawalny ist schwer vergiftet worden mit dem Ziel, ihn zum Schweigen zu bringen. Die drängendsten Fragen richten sich nun an die Regierung in Moskau. Die konkreten Konsequenzen wird die Bundesregierung zu ziehen haben, in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern. Aber dass Oppositionelle in Russland in Serie um ihre Gesundheit oder ihr Leben fürchten müssen, ist ohne Zweifel eine schwere Belastung für die Glaubwürdigkeit der russischen Führung und erschwert die Zusammenarbeit. Wir wollen keine Feindschaft mit Russland oder dem russischen Volk. Aber Unrecht muss klar benannt werden. Und hier ist ein Verbrechen verübt worden, dessen Verantwortliche nur in Russland zu finden sein werden.

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