Burnout-Talk bei „Anne Will“Sahra Wagenknecht zeigt sich verletzlich

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Wagenknecht Anne Will IMGAO

Sahra Wagenknecht bei  „Anne Will“

Berlin – Statt Brexitchaos und Europabashing bietet Anne Will thematische Abwechslung: „Zwischen Höchstleistung und Überlastung – wann macht Arbeit krank“ lautete der Titel ihres Talks am Sonntagabend. Ob Sahra Wagenknecht auf dem politischen Parkett oder Alexander Jorde als Auszubildender in der Gesundheits- und Krankenpflege: Die Sendung offenbart, wie sich hoher Leistungsdruck vor allem in der Politik und im Gesundheitswesen auswirken.

Darüber wurde diskutiert

Sahra Wagenknecht hatte erst vor wenigen Tagen angekündigt, dass sie sich aus der Linken-Fraktionsspitze und der Führung der „Aufstehen“-Bewegung zurückzieht. Ihre Gesundheit habe ihr die Grenzen aufgezeigt, so die Begründung. Die Spitzenpolitikerin steht damit nicht allein da. Laut einem Bericht der Bundesregierung hat sich die Zahl der Krankentage von 2007 bis 2017 verdoppelt – von insgesamt 48 Millionen auf 107 Millionen. Ganz vorne dabei sind die Beschäftigten im deutschen Gesundheitswesen und Anne Will will darüber diskutieren.

Wagenknechts verletzliche Seite

Sarah Wagenknechts (Die Linke) Rückzug aus den politischen Führungsämtern bietet den thematischen Anstoß für die Ausrichtung der Talkrunde – und die 49-Jährige zeigt sich anders als viele es wohl von ihr gewohnt sind: verletzlich. Sie vollzieht beinahe die Transformation vom unnahbaren Politprofi zu einer sensiblen Kämpferin für gesellschaftliche Entschleunigung. Wagenknecht plädiert dafür, den Menschen mehr Zeit für Regeneration einzuräumen, um dadurch kreative Ideen zu fördern. „Wir befinden uns in einer Zeit, wo Veränderungen dringend gebraucht werden.“

Alles zum Thema Anne Will

In der Sendung wird deutlich, dass innerparteiliche Grabenkämpfe Wagenknecht in den vergangenen Jahren stark zugesetzt haben. Das will sie so zwar nicht sagen, denn sie will ja nicht nachtreten. Doch Anne Will konfrontiert sie geschickt mit ehemaligen Aussagen – und die daraufhin leicht verunsicherte Wagenknecht lässt durchblicken: „Wir haben uns in der Partei zu viel mit internen Konflikten beschäftigen müssen“ oder: „Wir müssen menschlicher miteinander umgehen.“ Darüber hinaus gibt sie zu Protokoll, dass sie wohl noch vor dem Herbst den Fraktionsvorsitz abgeben wird.

Der politische Hardliner

Um Thomas de Maizière ist es als ehemaliger Bundesinnen- und Verteidigungsminister ruhig geworden. Als Vorsitzender der Deutschen Telekom Stiftung habe er sich nun ein neues Leben eingerichtet. Auch wenn er sich etwas über die fehlende Intimsphäre auf dem politischen Parkett beklagt, gibt der 65-Jährige in der Sendung den politischen Hardliner. Ja klar, er habe auch schwere Zeiten gehabt – man denke an den Stress während der Flüchtlingskrise oder an seine Abbesetzung als Minister in den Koalitionsverhandlungen. Das habe er verkraftet und es sei alles gut so, wie es gekommen ist. Aber dennoch: „Der deutsche Arbeitsschutz ist überreguliert.“ Mit dieser Meinung katapultiert de Maizière sich aus der ansonsten recht harmonischen Runde.

Der Schlagfertige

Alexander Jorde ist Auszubildender in der Pflege. Doch dass der 23-Jährige auch ein hervorragender Redner ist, haben nicht nur die Gäste, sondern auch Angela Merkel schon zu spüren bekommen: So hatte er die Kanzlerin in einer ARD-Wahlarena auf die Missstände in der Pflege hingewiesen und war danach mit immenser öffentlicher Aufmerksamkeit konfrontiert gewesen. „Das war überwältigend, hat mir aber auch nicht immer gut getan, weil ich schlecht ’Nein’ sagen kann“: Ehrlich, schlagfertig und inzwischen SPD-Mitglied.

Der Experte

Klaus Lieb ist als Leiter des deutschen Resilienzzentrums eingeladen, um in der Sendung Einblicke in die psychische Entwicklung der Gesellschaft zu geben. Darüber hinaus hat sich Anne Will sicherlich ein paar persönliche Einblicke von dem Ehemann der rheinland-pfälzischen Bildungsministerin Stefanie Hubig erhofft. Doch: Pustekuchen. Er versteht seinen Job als wissenschaftliche Instanz der Runde, erklärt Begriffe wie Resilienz (psychische Widerstandskraft) oder Burnout. Darüber hinaus guckt er sich am Tag gerne Blumen an, um sich gegen Stress abzuschirmen – ein unauffälliger und etwas dröger Auftritt.

Die Nebenrolle

Katja Suding (43) ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP, seit 2017 im Bundestag und fungiert in der Sendung etwas als Beiwerk. Sie erzählt, dass die Arbeit im Bundestag eine größere Aufmerksamkeit als im Hamburger Stadtparlament habe und Digitalisierung eine Ursache für die gesteigerte gesellschaftliche Stressbelastung sei – das hört Anne Will sich nur einmal an und würgt die FDP-Politikerin beim zweiten Mal ab. Als Suding dann noch anfängt zu argumentieren, warum privatisierte Krankenhäuser nicht für die prekäre Situation im Gesundheitswesen verantwortlich sind, bekommt sie vom jungen Alexander Jorde die Leviten gelesen und ist anschließend auch ruhig.

Das Duell des Abends

Zwei gegen Jorde: Es ist wirklich beeindruckend zu sehen, wie sicher und standhaft sich Alexander Jorde als Pflege-Azubi in der Runde erfahrener Politiker schlägt. Mit guten Argumenten – geprägt von der Arbeit an der Basis im Gesundheitswesen – lässt er zwei der drei Debattierprofis auflaufen und scheut keine Konfrontation. „Der Arbeitsschutz in Deutschland ist überreguliert“, sagt etwa de Maizière und wird dafür von Jorde gerüffelt. So könne es ja nicht sein, dass man im Gesundheitswesen zwölf Tage am Stück arbeiten könne, dass hier der Schichtdienst nicht durch die Elf-Stunden-Regel gedeckelt ist oder dass die Privatisierung von Kranken- und Pflegehäusern dafür sorgt, dass Gewinn wichtiger als die Heilung ist. Die Worte des 23-Jährigen sind stark, eindringlich und authentisch. Da schaut selbst ein de Mazière einmal ganz ungläubig.

Der interessanteste Satz

„Ist der Mensch für die Wirtschaft da oder die Wirtschaft für den Menschen?“ fragt Sahra Wagenknecht und regt damit zum Nachdenken an. Denn gerade gewinnorientierte Krankenhäuser machen es heutzutage doch recht schwer, sich ohne Bedenken in die Hände des deutschen Gesundheitssystems zu begeben. Die wenigen Pflegekräfte müssen schließlich immer mehr leisten. Und am Ende bleibt nicht nur das überlastete Personal auf der Strecke, sondern auch das, worum es doch geht: der Patient im Krankenhaus und in der Pflegeeinrichtung.

Fazit

Immer gleiche Gäste, vergleichbare Themen, Verdruss: Wie der „Tagesspiegel“ berichtet, verliert der politische Talk immer mehr Zuschauer. Anne Will hatte demnach 2016 noch eine Durchschnittsquote von fast vier Millionen Zuschauer. Seither ist er auf 3,19 Millionen in 2019 gesunken. Es braucht mehr Nähe zu den Zuschauern und mit dem „Überlastungs-Talk“ geht das schon in die richtige Richtung.

Mit dem Fokus auf die Gesundheits- und Politikbranche hat sich die Will-Redaktion zwei Bereiche ausgesucht, die aktuell sehr im Licht der Öffentlichkeit stehen. Sahra Wagenknecht zeigte sich sensibel und kann mit dem für ihre Maßstäbe offenen Auftritt eine Vorbildfunktion für die Entschleunigung der Gesellschaft einnehmen. Doch es hätte der Runde gut getan, einen der drei Politiker (etwa Suding) durch einen Paketboten, eine Kassiererin oder einen anderen Vertreter aus der Wirtschaftsbranche zu ersetzen. Denn so war man auch dieses Mal einen Tick zu weit weg vom Alltag der Menschen.

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